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Mitarbeiter in der Fertigung im Werk Spangenberg / Kabelfertigung. Magazin Mitbestimmung

Medizintechnik: Fahrradhörnchen und mehr

Ausgabe 06/2020

Der Betriebsrat beim hessischen Medizintechnik- und Pharmaunternehmen B. Braun ist für den Corona-Sonderpreis nominiert. Von Stefan Scheytt

Fahrradhörnchen sind Anbauteile für Fahrradlenker, mit denen man die Griffposition verändern kann. Normalerweise. Man kann Fahrradhörnchen aber auch so an Türgriffen befestigen, dass sich die Tür mit der Innenseite des Ellenbogens aufziehen lässt anstatt mit der nackten Hand – in Corona-Zeiten eine sinnvolle Maßnahme zur Vermeidung von Virusübertragungen. Beim Familienunternehmen B. Braun im hessischen Melsungen, Hersteller von Medizintechnik- und Pharma-Produkten (Umsatz 2019: 7,4 Milliarden Euro), sind die an vielen Türen montierten Fahrradhörnchen nur eines von vielen Puzzle-Teilen im Kampf gegen die Pandemie, an dem auch der Betriebsrat beteiligt ist. Für seinen Einsatz hat die Jury für den Deutschen Betriebsräte-Preis 2020 das Gremium nun für den Corona-Sonderpreis nominiert.

  • Mitarbeiter in der Fertigung im Werk Spangenberg / Kabelfertigung.
    Mitarbeiter in der Fertigung im Werk Spangenberg / Kabelfertigung.

Zum Zeitpunkt der Nominierung Anfang September konnte man noch hoffen, dass es keine zweite Infektionswelle geben würde. Nun, wo sie doch da ist, dürften viele der Maßnahmen bei B. Braun, die im Frühjahr initiiert wurden, weiter bestehen und sogar noch intensiviert werden. Neben den Fahrradhörnchen an den Türen gibt es gesperrte Waschbecken und Toiletten zur Abstandswahrung, Plexiglasscheiben an Arbeitsplätzen in der Produktion, Desinfektionsmittel und zusätzliche Schutzkleidung, Einbahnstraßenkonzepte wie in Schulen, damit sich Kollegen möglichst nicht zu nahe kommen. Mitarbeiter aus Standorten in Süddeutschland, wo die Auftragslage zurückgeht, weil planbare Operationen öfter verschoben werden, wechseln wochenlang nach Melsungen, wo die Produktion für die Aufrüstung von Corona-Intensivkapazitäten in den Kliniken kaum noch nachkommt. Manager verlassen ihr Homeoffice und stellen sich an die Montagelinie für Infusionspumpen. Außendienstmitarbeiter, die nicht mehr zum Verkaufsgespräch in die Kliniken gelassen werden, packen in der Logistik Päckchen. Frühschichten beginnen früher, Spätschichten enden später, es gibt Feiertags- und Samstagsarbeit.

  • Betriebsrat Mike Schwarz, Vorsitzender des Europa-Forums des Betriebsrats, in der Fertigung im Werk Spangenberg.
    Betriebsrat Mike Schwarz, Vorsitzender des Europa-Forums des Betriebsrats, in der Fertigung im Werk Spangenberg.

„Wir haben die Zeitkonten hochgefahren, wo es nur ging, um die Auftragslage abzuarbeiten, aber auch um Sicherheitsbestände aufzubauen für den Fall, dass eine Schichtgruppe wegen Corona ausfällt“, sagt Mike Schwarz, Betriebsratsmitglied am Hauptstandort in Melsungen und Vorsitzender des SE-Betriebsrats. „Man sagt uns Deutschen ja nach, wir seien eher unflexiblel. Aber was wir da an Hilfsbereitschaft und Organisationsleistung erleben, ist sensationell.“

Geholfen habe dabei, dass es einen Plan in der Schublade gab aus jener Zeit, als das Sars-Virus aufkam. „Deshalb waren wir so schnell und konnten innerhalb kürzester Zeit einen Krisenstab bilden, in dem auch der Betriebsrat sitzt“, erklärt Schwarz. Angesichts des enormen Tempos fast täglicher Veränderungen herrsche im Betriebsrat Pragmatismus pur: Manche Entscheidungen während der ersten heißen Phase wurden in kleinen Gruppen und auf dem kleinen Dienstweg herbeigeführt, im Bewusstsein, dass sie später mit formalen Beschlüssen noch bestätigt werden müssen. Für die Rechtsmäßigkeit der Online-Sitzungen des 35 Köpfe starken Gremiums gab es ebenso eine eigene Betriebsvereinbarung wie für veränderte Arbeitszeitregelungen.

  • Mitarbeiter in der Fertigung im Werk Spangenberg / Kabelfertigung.
    Mitarbeiter in der Fertigung im Werk Spangenberg / Kabelfertigung.

So sehr sich Betriebsrat und Belegschaft freuen über den Dank der Geschäftsleitung für Einsatz und Flexibilität der Mitarbeiter, so verhalten sind die Einschätzungen über den Ende Oktober erzielten Standortsicherungsvertrag. Im Raum stand der Abbau von bis zu 1.500 Arbeitsplätzen am B. Braun-Hauptsitz in Melsungen. Dass betriebsbedingte Kündigungen bis 2025 nun ausgeschlossen sind und Investitionen in den Standort fließen sollen, war alles andere als umsonst. Viele in Melsungen hatten sich ein großzügigeres Dankeschön für den Sonder-Einsatz in Sachen Corona erwartet.

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