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Yvonne Lott Johanna Wenckebach Service aktuell

Interview: „Gleichstellungsfragen in den Mittelpunkt stellen“

Um Forderungen an die Gleichstellungspolitik nach Corona geht es am 4. Oktober auf unserer gleichnamigen Tagung des HSI und des WSI. Johanna Wenckebach und Yvonne Lott sagen im Interview, warum das Thema ganz oben auf die Agenda gehört.

Im Zuge der Pandemie wird viel über eine Rückkehr traditioneller Geschlechterrollen diskutiert. Wirft uns die Corona-Krise in Sachen Gleichstellung um Jahre zurück, Yvonne?

Yvonne Lott (WSI): Das würde ich so nicht sagen. Sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern haben wir in der Tat gesehen, dass es in der Corona-Krise wieder oft die Frauen waren, die sich um Haushalt und Kinder gekümmert haben. Es gibt aber auch Paare, die während der Pandemie die Kinderbetreuung gleicher verteilt haben als zuvor.

Es lohnt sich daher zu fragen: Was zeichnet diese Paare aus, die sich die Kinderbetreuung gerechter aufgeteilt haben und welche Ressourcen haben sie? Haben sie besonders gute betriebliche Angebote, die sie nutzen können? Haben sie davon profitiert, dass es während der Pandemie in ihrem Arbeitsumfeld „normaler“ war, orts- und zeitflexibel zu arbeiten, eventuell auch kürzer?

Antworten auf diese Fragen können uns helfen, diese Paare auch nach der Pandemie zu stärken und auch andere Paare dabei zu unterstützen, die unbezahlte Arbeit endlich gleicher aufzuteilen.

Was ist derzeit die wichtigste gleichstellungspolitische Anforderung?

Johanna Wenckebach (HSI): Es ist immer noch nicht selbstverständlich, Gleichstellungsfragen überhaupt erst einmal in den Mittelpunkt zu stellen und konsequent mitzudenken. Im Wahlkampf ist das leider nicht passiert, wieder einmal. Dabei sind die großen Themen der Arbeitswelt – Pflegekrise, Mindestlohn, neue Arbeitsformen, Digitalisierung und eben auch die ökologische Transformation der Wirtschaft – allesamt auch Gleichstellungsthemen! Es ist so wichtig, bei der Regelung dieser Themen, sei es durch den Gesetzgeber oder auch durch Tarifvertrags- und Betriebsparteien, die Geschlechterdimension mitzudenken.

Die riesigen Veränderungen der Arbeitswelt haben natürlich Potential, alte Normen aufzubrechen, die Frauen in der Arbeitswelt nach wie vor diskriminieren. Aber das ist kein Selbstläufer. Wenn jetzt die Rahmenbedingungen verhandelt werden für die Arbeit der Zukunft, muss Gleichstellung ein Ziel sein, als Gerechtigkeitsfrage.

Yvonne Lott: Unbedingt! Wir sehen uns tatsächlich etlichen gleichstellungspolitischen Aufgaben gegenüber, wie der Aufwertung von Dienstleistungsberufen oder auch der Schließung des Gender Data Gap, um nur zwei zu nennen.

Aus meiner Sicht ist es eine Grundvoraussetzung für das Erreichen vieler gleichstellungspolitischer Ziele, die Männer mit ins Boot zu holen, vor allem, wenn es um Kinderbetreuung und Pflege geht. Wenn es durch Anreize gelingt, dass Männer sich ebenso wie Frauen bei den familiären Verpflichtungen einbringen, haben wir viel gewonnen. Dann sind es nicht mehr nur die Mütter, die kürzere Arbeitszeiten brauchen, sondern auch die Väter, für die ein Job ebenfalls vereinbarkeitsfreundlich sein muss.

Wir brauchen also Maßnahmen, die die partnerschaftliche Arbeitsteilung fördern, wie z.B. die Familienarbeitszeit und die Verlängerung der Partnermonate bei der Elternzeit. Diese müssen aber nicht zuletzt durch eine betriebliche Kultur flankiert werden, in der sowohl Väter als auch Mütter als sorgende Eltern gesehen und unterstützt werden.

Gleichstellungspolitik ist für die soziale Gerechtigkeit in diesem Land entscheidend und muss von der neuen Bundesregierung aktiv vorangetrieben werden.

Der Deutsche Juristinnenbund (djb) hat eine Initiative für ein Gleichstellungsgesetz aufgelegt. Worum geht es dabei, Johanna?

Johanna Wenckebach: Wir haben seit Jahrzehnten Gleichstellungsansprüche, individuelle Rechte, Diskriminierungsverbote. Trotzdem bleibt die Ungleichheit bestehen, mit ihren nachteilhaften Folgen für Frauen: Altersarmut, Entgeltdiskriminierung, fehlende Repräsentanz in wichtigen Positionen bis hin zu Misogynie in einer neuen Dimension. Offenbar funktionieren also bestehende Gleichstellungsregeln nicht ausreichend.

Der djb hat einen Vorschlag gemacht, der über Korrekturen an bestehenden Gesetzen hinausgeht. Es ist ein großer Wurf für Gleichstellung in der Wirtschaft, der betriebliche Realitäten und die tatsächliche Wirkung von Gesetzen - bzw. gerade Durchsetzungsdefizite von Recht - stärker in den Blick nimmt. Die Idee ist, nicht Einzelne zu Kämpferinnen für Gleichstellung im Betrieb zu machen, sondern Kollektive zu stärken. Ich freue mich sehr, dass dieser Vorschlag auf unserer Gleichstellungstagung vorgestellt wird und wir ihn diskutieren können.

Was erwartet ihr von der Veranstaltung? Welches Signal soll sie setzen, auch im Hinblick auf die Zeit nach der Bundestagswahl?

Johanna Wenckebach: Ich freue mich sehr auf den Austausch mit den verschiedenen Akteur:innen, denen wir ein Forum geben werden. Es geht ja auch um Netzwerke und Empowerment für unsere jeweilige Arbeit. Wir sollten gerade im Bereich der Gleichstellung viel öfter interdisziplinär arbeiten, soziologisch und rechtswissenschaftlich. Mir ist vor allem der Dialog mit Betriebsrät:innen und Gewerkschafter:innen sehr wichtig, denn sie bringen Gleichstellung in den Betrieben voran.

Dass z.B. die Pfleger:innen - überwiegend Frauen - in Berlin gerade streiken, um endlich ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, verdient unsere Aufmerksamkeit und Solidarität. Das ist eine richtige Konsequenz für diese professionell Pflegenden nach den Erlebnissen der Krise. Und na klar: Wir haben sehr konkrete Forderungen an die neue Bundesregierung. Es ist wunderbar, dass wir noch während der Koalitionsverhandlungen mit der Politik ins Gespräch kommen, was zu tun ist.

Yvonne Lott: Das Signal ist klar: Gleichstellungspolitik ist für die soziale Gerechtigkeit in diesem Land entscheidend und muss von der neuen Bundesregierung aktiv vorangetrieben werden. Alles andere wäre der Stillstand, den wir in den vergangenen Jahren auch etwa in der Klimapolitik gesehen haben. Es liegen viele kluge Vorschläge vor, wie das gelingen kann, etwa die Initiative vom djb, die Johanna eben erwähnt hat, aber natürlich auch von uns in der Hans-Böckler-Stiftung. Jetzt ist die Zeit des Machens. Das wollen wir auf unserer Tagung unterstreichen.

Johanna Wenckebach ist die Wissenschaftliche Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Yvonne Lott leitet das Referat Geschlechterforschung im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

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