Arbeitswelt: Was die Parteien vorhaben
Umfragen zufolge planen viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihr Kreuz bei der AfD zu machen. Dabei kommen Belange der Beschäftigten in deren Wahlprogramm gar nicht vor.
Tarifbindung und die Höhe des Mindestlohns sind entscheidend für die Kaufkraft von Millionen Beschäftigten. Die Parteien befassen sich in ihren Wahlprogrammen auf ganz unterschiedliche Weise damit. Die Bandbreite reicht von konkreten Vorschlägen über allgemeine Eckpunkte bis hin zur völligen Ausblendung dieser Themen, zeigt eine Analyse von Reinhard Bispinck, dem langjährigen Leiter des WSI-Tarifarchivs. Die Auswertung berücksichtigt die Veröffentlichungen der Parteien bis zum 15. Januar.
Studien belegen: Beschäftigte in tarifgebundenen Unternehmen verdienen spürbar mehr als in vergleichbaren Unternehmen ohne Tarifvertrag. Gesamtwirtschaftlich sorgt das für mehr Kaufkraft und mehr Einnahmen für die öffentliche Hand und die Sozialversicherungen. Allerdings arbeitet heute nicht einmal mehr die Hälfte der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Betrieb. Das liegt laut Bispinck auch daran, dass Deutschland deutlich weniger als viele seiner Nachbarn tut, um das Tarifsystem zu stabilisieren. Parallel zur abnehmenden Tarifbindung wuchs seit den 1990er-Jahren der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik. Erst 2015 reagierte die damalige große Koalition mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, der seitdem zumindest eine verbindliche Untergrenze setzt. Die Ampelkoalition erhöhte den Mindestlohn in einem großen Schritt auf 12 Euro pro Stunde – durch den Inflationsschub in den Jahren 2021 bis 2023 blieb der reale Zuwachs für Geringverdienende allerdings überschaubar. Konkrete Schritte zur im Koalitionsvertrag versprochenen Stärkung des Tarifsystems – die von der EU-Kommission ebenso gefordert wird wie von den Gewerkschaften – blieben aus. Das lange diskutierte Bundestariftreuegesetz etwa wurde erst nach dem Ausscheiden der FDP aus der Bundesregierung im Kabinett beschlossen. „Die Bilanz ist also mager“, urteilt Bispinck.
Was haben die Parteien vor, die sich am 23. Februar zur Wahl stellen? Für wen spielen die Einkommen der Beschäftigten eine so wichtige Rolle, dass sie mit klaren Vorschlägen in den Wahlkampf ziehen?
Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation äußert sich an der Wahlurne häufig in Form eines Votums für radikale Parteien. So ist nach Umfragen mit einem Erstarken der AfD zu rechnen. Allerdings: In deren Wahlprogramm findet sich so gut wie nichts, das auf eine Verbesserung der materiellen Situation von Beschäftigten zielt. Tarifbindung fördern, Mindestlohn erhöhen, Betriebsräte und Streikrecht schützen? Hier herrscht bei der AfD Funkstille.
Die FDP spricht von einem „modernen Arbeitsrecht“, das durch „Entschlackung“ der geltenden Gesetze entstehen soll. Von einer Stärkung der Tarifbindung ist nicht die Rede. Erwähnt wird hingegen das Streikrecht, das modernisiert, das heißt eingeschränkt werden soll. Nämlich in „kritischen Bereichen“ wie beispielsweise dem Gesundheitswesen, wo eine verpflichtende Schlichtung eingeführt werden soll. Eingriffe des Gesetzgebers in die Arbeit der Mindestlohnkommission – das hatte den Sprung auf 12 Euro im Oktober 2022 ermöglicht – lehnt die Partei ab.
CDU/CSU bekennen sich zum Ziel einer höheren Tarifbindung sowie zum Mindestlohn. Die Bereitschaft von Unternehmen, sich an Tarifverträge zu halten, soll gefördert werden. Offen bleibt aber, wie das geschehen soll. Das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifen soll „gestärkt“ werden. Gleichzeitig werden mehr Tariföffnungsklauseln gefordert. Zur Höhe des Mindestlohns äußert sich die Union nicht.
Die SPD betont, der Mindestlohn müsse künftig gemäß der EU-Mindestlohnrichtlinie mindestens 60 Prozent des mittleren Einkommens erreichen. Dazu müsse er spätestens im kommenden Jahr auf 15 Euro angehoben werden. Um die Tarifbindung zu erhöhen, plant die Partei ein Bundestariftreuegesetz, damit nur noch Unternehmen, die nach Tarif zahlen, öffentliche Aufträge bekommen. Öffentliche Fördermittel für Unternehmen zur Erreichung der Klimaziele sollen „konsequent an die Kriterien Tarifbindung, Standortentwicklung, Beschäftigungssicherung und Qualifizierungsstrategien gebunden“ werden. Weiter sollen die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen „erleichtert“, ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften eingeführt und Beschäftigte, die Betriebsratswahlen initiieren, besser geschützt werden. Eingriffe ins Streikrecht werden abgelehnt.
Die Grünen streben ebenfalls eine stärkere Tarifbindung an und setzen dabei auf Allgemeinverbindlichkeit und Tariftreueregelungen. Sie wollen auch die betriebliche Mitbestimmung stärken. Der Mindestlohn – auch für Jugendliche unter 18 Jahren – soll noch in diesem Jahr entsprechend den europäischen Vorgaben auf 15 Euro steigen.
Die Linke listet ähnliche Punkte auf wie SPD und Grüne. Zusätzlich will die Partei Arbeitgeberverbänden verbieten, Mitgliedschaften ohne Tarifbindung anzubieten. Die Mindestlohnkommission soll zudem nicht mehr gegen die Stimmen der Gewerkschaften entscheiden dürfen.
Für eine „höhere Tarifquote“ durch Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, die Kopplung öffentlicher Aufträge und Subventionen an die Einhaltung von Tarifverträgen und einen Mindestlohn von 15 Euro spricht sich auch das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) aus.
„Beim Blick in die Wahlprogramme“, so WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch, „wird vor allem eines deutlich: Auch wenn sich die AfD gerne als Anti-Establishment Partei aufspielt, vertritt sich nicht die Interessen der abhängig Beschäftigten – im Gegenteil.“
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Reinhard Bispinck: Stärkung der Tarifbindung und Weiterentwicklung des Mindestlohns – was wollen die Parteien?, WSI-Blog, Januar 2025