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HBS Böckler Impuls

Hartz IV: Regelsätze: Schlecht berechnet

Ausgabe 02/2010

Die staatlichen Leistungen für Kinder von Langzeitarbeitslosen sind zu niedrig. Darauf weisen Wissenschaftler seit längerem hin. Jetzt entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

Das höchste deutsche Gericht befasst sich mit der Frage, ob die Hartz-IV-Leistungen für Kinder ausreichen, um ihr soziokulturelles Existenzminimum zu sichern. Eine Studie der Volkswirtin Irene Becker im Auftrag von Hans-Böckler-Stiftung und Caritasverband kam schon 2007 zu dem Schluss, dass Familien mit Kindern in der Grundsicherung zu kurz kommen. Das liegt an diversen Mängeln bei der Bedarfsberechnung - nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Beckers - 2010 aktualisierte - Gegenrechnung zeigt, um wie viel die Leistungen für Paare mit einem Kind steigen müssten: Je nach Alter des Kindes ergibt sich ein Mehranspruch zwischen 70 und 82 Euro im Monat. Hinzu käme ein Ausgleich für die Preissteigerungen der vergangenen Jahre.

Nach dem bislang angewandten Berechnungsverfahren erhalten Kinder nur eine Teilmenge der knapp bemessenen Leistung für Erwachsene, des so genannten Eckregelsatzes. Dieser spiegelt den monatlichen Mindestbedarf eines Alleinstehenden nach den Vorstellungen des Gesetzgebers wider, derzeit 359 Euro. In Familien bekommt der Haushaltsvorstand diesen Betrag, für weitere Haushaltsangehörige gilt: Über-15-Jährige  bekommen 80 Prozent des Eckregelsatzes, jüngere Kinder je nach Alter 60 oder 70 Prozent.

Der Eckregelsatz wird anhand der Konsumausgaben des unteren Fünftels der Alleinstehenden ermittelt, wobei Sozialhilfe- oder Grundsicherungsempfänger vorher ausgeklammert werden - bisher aber nur teilweise. Als Datenbasis dient die alle fünf Jahre erhobene Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes; derzeit muss noch auf die Daten von 2003 zurückgegriffen werden. Für zehn verschiedene Ausgabengruppen von "Nahrungsmittel" bis "Verkehr" werden die durchschnittlichen Aufwendungen der Referenzgruppe bestimmt - und anschließend durch Ausschluss einzelner Güterarten nach unten korrigiert. Beispielsweise sind nur 26 Prozent der Rubrik Verkehr "regelsatzrelevant". Alle zehn Einzelpositionen addieren sich zum Eckregelsatz. Becker hat mehrere Einwände gegen den Berechnungsmodus:

Die Alleinstehenden sind keine geeignete Bezugsgruppe, wenn es darum geht, den Bedarf von Familien zu ermitteln, schreibt sie. Typische Ausgaben für Kinder gehen dabei unter: Spielzeug, Schulbücher, Nachhilfe und vergleichsweise hohe Ausgaben für Kleidung, weil die Kleinen schnell aus ihren Sachen herauswachsen. Die pauchale Annahme, dass die Kosten kindspezifischer Güter bzw. Bedarfe deutlich weniger ausmachen als die erwachsenenspezifischer Güter und Bedarfe, wurde bisher nicht hinreichend überprüft. Zudem werden bisher diejenigen, die sich durchschlagen, ohne ihre Sozialleistungsansprüche geltend zu machen, bei der Regelsatz-Bestimmung nicht herausgenommen; diese Teilgruppe zieht den Durchschnitt nach unten. Sinnvoller wäre es nach Ansicht der Forscherin, das Ausgabeverhalten von Familien als Maßstab zu nehmen oder zumindest ergänzend zu berücksichtigen und die so genannte verdeckte Armut ansatzweise aus der Referenzgruppe auszuklammern.

Problematische Berechnung des "regelsatzrelevanten" Konsums. Dass vom tatsächlichen Konsum der Referenzgruppe nur bestimmte Produktarten herangezogen werden, sei fragwürdig und bei einzelnen Gütergruppen eindeutig nicht sachgerecht, sagt Becker. Ein Beispiel: Wie viel Geld die Bezugsgruppe für Fahrten mit dem Auto ausgibt, ist für den Regelsatz irrelevant. Es werden nur die durchschnitt­lichen Ausgaben der gesamten Gruppe für Bus und Bahn ­berücksichtigt. Dieser Wert entspricht aber nicht den tatsächlichen Kosten eines Haushalts ohne Auto. Denn die Haushalte, die ein Auto besitzen und weniger öffentliche Verkehrsmittel benutzen, drücken den Durchschnitt. 

Bildung ist für Bedürftige nicht vorgesehen. Laut "Regelsatzverordnung" bleiben ausgerechnet die Bildungsausgaben der Referenzgruppe völlig außen vor. Dies bewertet Becker als besonders problematisch: "Um das in vielen Studien belegte Muster des schichtspezifischen Zugangs zu Bildungseinrichtungen aufzubrechen", müssten bildungsrelevante Ausgaben berücksichtigt und Kinder aus einkommensschwachen Familien besonders gefördert werden. Becker schlägt vor, bei der Grundsicherung auch Kosten für Betreuung oder Nachhilfe zu übernehmen - beispielsweise durch entsprechende Öffnungsklauseln im Gesetz.

Ein echter Inflationsausgleich fehlt. Abgesehen von der Neuberechnung im Fünfjahresturnus wird der Eckregelsatz kaum an die Preisentwicklung angepasst. Es erfolgten lediglich Anpassungen an die "faktisch stagnierenden" Renten, so Becker. Insgesamt sei "von einer erheblichen Realwertminderung der Regelleistungen während des fünfjährigen Zeitraums zwischen zwei EVS-Erhebungen auszugehen".  

  • Die Hartz-IV-Regelleistungen decken nicht den Bedarf. Zur Grafik

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