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Offensive für höhere Löhne Böckler Impuls

Tarifverträge: Offensive für höhere Löhne

Ausgabe 03/2024

Die Gewerkschaften konnten im vergangenen Jahr deutlich höhere Löhne durchsetzen. Der Nachholbedarf ist aber nach wie vor groß. Auch in diesem Jahr ist mit einer „offensiven Tarifrunde“ zu rechnen.

Die Tariflöhne sind 2023 um durchschnittlich 5,5 Prozent gestiegen – mehr als doppelt so stark wie im Vorjahr. Zusammen mit den vereinbarten Inflationsausgleichszahlungen konnten damit die Preissteigerungen des vergangenen Jahres zwar nahezu ausgeglichen werden. Um aber auch die Kaufkraftverluste früherer Jahre zu kompensieren, müssen die Reallöhne weiter zulegen. Schließlich liegen sie derzeit nur auf dem Niveau von Mitte der 2010er-Jahre. Nach Einschätzung des WSI-Tarifexperten Thorsten Schulten dürften die diesjährigen Tarifverhandlungen erneut von harten Auseinandersetzungen und Arbeitskämpfen geprägt sein.

Insgesamt haben die DGB-Gewerkschaften in der Tarifrunde 2023 für rund 6,3 Millionen Beschäftigte neue Tarifverträge abgeschlossen. Verhandelt wurde im öffentlichen Dienst, bei der Deutschen Bahn, der Deutschen Post sowie in unzähligen kleineren Tarifbereichen. Für weitere 9,2 Millionen Beschäftigte traten 2023 Lohnerhöhungen aus Tarifabschlüssen in Kraft, die bereits 2022 oder früher vereinbart worden waren. Darunter waren auch große Branchen wie die chemische Industrie oder die Metall- und Elektro­industrie. Die Laufzeit der im Jahr 2023 abgeschlossenen Tarifverträge betrug im Durchschnitt 23,3 Monate. Damit bestätigt sich der Trend, dass in den meisten Tarifbereichen zweijährige Abschlüsse zum Standard werden. 

Zahlreiche Streiks mit hoher Beteiligung

Vor dem Hintergrund anhaltend hoher Inflationsraten lagen die Forderungen der Gewerkschaften deutlich über denen des Vorjahres. Sie reichten von 8 Prozent in der westdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie bis zu 15 Prozent bei der Deutschen Post. In vielen Branchen wurde zudem eine soziale Komponente gefordert, meist in Form eines zusätzlichen festen Betrags. Eine Einigung konnte teilweise erst nach umfangreichen Warnstreiks erzielt werden. Bei der Deutschen Post wurde sogar eine Urabstimmung für einen unbefristeten Erzwingungsstreik durchgeführt, ehe kurz vor Streikbeginn doch noch ein Abschluss erzielt werden konnte. Im öffentlichen Dienst von Bund und Gemeinden sowie bei der Deutschen Bahn konnte erst im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens ein Kompromiss gefunden werden. Die Gewerkschaft Verdi berichtete für ihren Bereich von insgesamt 140 Streiks, an denen sich über 300 000 Mitglieder beteiligt haben. Die NGG meldete für die Nahrungsmittelindustrie und das Gastgewerbe sogar einen neuen Rekord von mehr als 400 Streiks.

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Beschäftigte mit geringem Einkommen profitieren

Die Tarifabschlüsse des Jahres 2023 zeichnen sich durch drei Merkmale aus: Erstens erhalten die Beschäftigten in fast allen großen Branchen Inflationsausgleichsprämien. Dabei handelt es sich um steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen, die den Beschäftigten im Vergleich zu einer regulären Tariferhöhung einen höheren Nettolohn und den Arbeitgebern niedrigere Arbeitskosten bescheren. Zweitens treten die tabellenwirksamen Lohnerhöhungen in Kombination mit den Prämien häufig relativ spät in Kraft. Bei der Deutschen Post und im öffentlichen Dienst werden sie beispielsweise erst im Laufe des Jahres 2024 wirksam. Drittens verzeichnen die unteren Lohngruppen in den meisten Branchen überproportionale Lohnzuwächse. Dies liegt zum einen an den Inflationsausgleichsprämien, die einen Pauschalbetrag enthalten, der die unteren Lohngruppen besonders begünstigt. Zum anderen wurden in vielen Tarifabschlüssen prozentuale Lohnerhöhungen mit festen Mindestbeträgen kombiniert, von denen Beschäftigte mit geringem Einkommen ebenfalls besonders profitieren. 

Hohe Inflation erfordert höhere Löhne

Unter Berücksichtigung der neu abgeschlossenen Tarifverträge und der bereits in den Vorjahren vereinbarten Tariferhöhungen sind die Vergütungen im Jahr 2023 um durchschnittlich 5,5 Prozent gestiegen. Wenn man zusätzlich die Steuer- und Abgabenersparnis für die Inflationsprämie in den großen Tarifbranchen einberechnet, sind es sogar 6,2 Prozent. Auf den ersten Blick erscheint dieser Anstieg außergewöhnlich hoch. Seit Anfang der 2000er-Jahre schwankten die nominalen Zuwächse nur zwischen 1,5 Prozent und 3,1 Prozent. Allerdings war die Inflationsrate in diesem Zeitraum nie so hoch wie in den letzten beiden Jahren. Trotz der hohen Tarifabschlüsse im Jahr 2023 liegt die Kaufkraft der Beschäftigten immer noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau. Preisbereinigt sind die Tariflöhne in den Jahren 2021 und 2022 so stark gesunken, dass sie heute nur noch auf dem Niveau des Jahres 2016 liegen.
 

In den meisten Branchen sind die Tariflöhne im Jahr 2023 zwischen 4,4 Prozent und 7,4 Prozent gestiegen. Deutlich höhere Zuwächse gab es in einigen klassischen Niedriglohnbranchen. Sie profitierten von der kräftigen Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro, in deren Folge auch die Tariflöhne in einigen Branchen nach oben angepasst wurden. So verzeichnete die Landwirtschaft mit einem nominalen Plus von 10 Prozent die höchsten Zuwächse. Das Gastgewerbe, in dem sich die Arbeitgeber während der Corona-Pandemie rund eineinhalb Jahre fast vollständig Tarifverhandlungen verweigert hatten, erlebt einen regelrechten Aufschwung: Nach starken Steigerungen im Vorjahr gab es 2023 mit 9,5 Prozent erneut ein kräftiges Plus.

Arbeitszeitverkürzung bleibt Thema

Angesichts der starken Kaufkraftverluste ging es in den meisten Verhandlungen in erster Linie um höhere Löhne, was aber nicht heißt, dass andere Fragen keine Rolle spielten. Bei den Auseinandersetzungen in der Eisen- und Stahl­industrie war die Arbeitszeit ein wichtiges Thema. Die IG Metall forderte eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich, möglichst verteilt auf vier Arbeitstage. Im Ergebnis wurde ein neuer Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung vereinbart, der Möglichkeiten sowohl der kollektiven als auch der individuellen Arbeitszeitverkürzung enthält.

Schon vor der Corona-Pandemie ging es in vielen Branchen um die Einführung von Wahloptionen, die es Beschäftigten ermöglichen, zwischen mehr Entgelt, kürzerer Arbeitszeit und anderen Sozialleistungen zu wählen. Darüber hinaus wurde vor allem in Ostdeutschland auch über eine kollektive Verkürzung der Wochenarbeitszeit verhandelt, um den in vielen Bereichen noch bestehenden Abstand zum niedrigeren westdeutschen Arbeitszeitniveau zu reduzieren. Während in Westdeutschland die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit in den letzten beiden Jahrzehnten weitgehend konstant geblieben ist, ist in Ostdeutschland in jüngster Zeit ein Trend zu etwas kürzeren Arbeitszeiten zu beobachten. Im Durchschnitt müssen die ostdeutschen Tarifbeschäftigten mit 38,6 Stunden pro Woche aber immer noch knapp eine Stunde länger arbeiten als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen mit 37,6 Stunden. 

Harte Auseinandersetzungen stehen bevor

„Die Tarifrunde 2023 hat vor dem Hintergrund historisch hoher Inflationsraten auch zu historisch hohen Tarifabschlüssen geführt, die die Kaufkraft der Tarifbeschäftigten annähernd sichern konnten“, schreibt WSI-Forscher Schulten. Die Teuerung dürfte in diesem Jahr deutlich zurückgehen, was es den Gewerkschaften erleichtere, höhere Reallöhne durchzusetzen. Besonders groß sei der Nachholbedarf im Bauhauptgewerbe oder bei der Deutschen Telekom, wo die letzten regulären Lohnabschlüsse noch aus der Zeit vor den Preisschocks stammen. Mit den ebenfalls anstehenden Auseinandersetzungen in der chemischen Industrie und der Metall- und Elektroindustrie, den beiden größten industriellen Tarifbereichen, stehe wieder „eine besonders offensive Tarifrunde“ bevor, so der Wissenschaftler.

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