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HBS Böckler Impuls

Europa: Höhere Löhne stützen das Wachstum

Ausgabe 10/2019

Die Löhne in Europa sind deutlich gestiegen. Das stabilisiert die Konjunktur und festigt den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Auf den Konten der europäischen Arbeitnehmer kommt wieder mehr an: Die Tariflöhne in der Eurozone haben 2018 im Schnitt um zwei Prozent zugelegt, deutlich stärker als in den Vorjahren. Laut Malte Lübker,  Autor des aktuellen Europäischen Tarifbericht des WSI, ist das nicht nur für die Beschäftigten eine gute Nachricht, sondern auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Damit die Chancen auf gerechte Löhne und eine stabile Binnennachfrage sich nachhaltig verbessern, empfiehlt der WSI-Forscher, für gut funktionierende Tarifsysteme zu sorgen.

Der Studie zufolge sind die Voraussetzungen für weitere Lohnerhöhungen gegeben: Die Volkswirtschaften der EU sind trotz einer Eintrübung der Konjunktur mit einem prognostizierten Plus von 1,4 Prozent für das laufende Jahr weiterhin auf Wachstumskurs, die Situation auf dem Arbeitsmarkt entspannt sich. Die Arbeitslosigkeit ist 2018 in allen EU-Ländern gesunken, im Schnitt um 0,8 Prozentpunkte auf 6,8 Prozent. Für 2019 rechnet die EU-Kommission mit einem weiteren Rückgang auf 6,5 Prozent. Während im vergangenen Jahr die Arbeitslosenquote in Krisenländern wie Griechenland mit 19,3 Prozent oder Spanien mit 15,3 Prozent nach wie vor erschreckend hoch ausfiel, herrscht in Deutschland oder Tschechien annähernd Vollbeschäftigung.

Den Gewerkschaften haben die günstigen Rahmenbedingungen in den Tarifverhandlungen Rückenwind verliehen: Laut Berechnungen der Europäischen Zentralbank (EZB) konnten sie im Euroraum 2018 im Schnitt zweiprozentige Lohnerhöhungen durchsetzen. Real betrug das Plus 0,3 Prozent. Aus Länder-Daten der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) geht hervor, dass die Zuwächse in südeuropäischen Staaten wie Portugal mit 3,3 Prozent und Italien mit 2,1 Prozent besonders ausgeprägt waren, aber auch in Österreich mit 2,6 Prozent. Deutschland landet mit 3 Prozent auf einem der Spitzenplätze; hier sind die realen Tariflöhne seit 2010 insgesamt um 9,6 Prozent gestiegen.

Die Effektivlöhne, für die im WSI-Bericht näherungsweise die Arbeitnehmerentgelte ausgewiesen werden, also die Löhne inklusive der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, haben 2018 EU-weit um 2,8 Prozent zugelegt. Die Spanne reicht nominal von 0,1 Prozent in Zypern bis 18,4 Prozent in Rumänien. Auch nach Abzug der Inflation sind die Löhne in 23 von 28 EU-Staaten gestiegen. Für das laufendes Jahr erwartet die EU-Kommission ein Wachstum von nominal 2,3 Prozent.

Die Verstetigung des Lohnwachstums in Europa sei auch aus makroökonomischer Perspektive zu begrüßen, erklärt Lübker. Angesichts der Unsicherheiten im Welthandel dürfte die Binnennachfrage eine umso größere Rolle als Wachstumsmotor spielen. Inflationsgefahr gehe derzeit von steigenden Löhnen nicht aus. Vielmehr sei weiteres Lohnwachstum auch aus geldpolitischer Sicht wünschenswert, um einem erneuten Abrutschen in die Deflation vorzubeugen. Für 2019 rechnet die EU-Kommission in der Eurozone mit einer Preissteigerung von nur 1,4 Prozent; die Zielmarke der EZB beträgt knapp 2 Prozent.

Trotz überproportionaler Lohnsteigerungen in Osteuropa gibt es beim Entgeltniveau immer noch große Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten, zeigt die Untersuchung. Während Beschäftigte in Bulgarien pro Jahr im Schnitt auf ein Arbeitnehmerentgelt von 9100 Euro kommen, sind es in Luxemburg 70 000 Euro. Deutschland liegt mit 43 000 Euro auf Platz 10, bedingt durch den hohen Anteil an geringfügig Beschäftigten. Den starken Rückstand in vielen osteuropäischen Ländern mit niedrigerer Produktivität rechtfertigen zu wollen, überzeuge längst nicht mehr, betont der Forscher. Vielmehr seien die Löhne in diesen Ländern auch gemessen an der Produktivität sehr niedrig – ein klares Indiz für eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Unwucht. Eine Stärkung der Tarifvertragsinstitutionen im Zusammenspiel mit angemessenen Mindestlöhnen könnte nach Lübkers Einschätzung dazu beitragen, das von vielen Bürgern empfundene Gerechtigkeitsdefizit der EU zu bewältigen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu festigen.

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