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HBS Böckler Impuls

Europäischer Gerichtshof: Hilfestellung für Briefkastenfirmen

Ausgabe 03/2018

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs öffnet der Mitbestimmungsflucht Tür und Tor. Auch Gläubiger- und Verbraucherschutz könnten leiden. 

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hatte aus Arbeitnehmersicht zuletzt einen sehr wechselhaften Charakter: Im Juli 2017 wurde der Versuch eines TUI-Kleinaktionärs vereitelt, die Mitbestimmung mithilfe des Europarechts auszuhebeln. Ende Oktober dagegen haben die Richter es Unternehmen erleichtert, ihren eingetragenen Sitz in einen beliebigen EU-Staat zu verlegen – auch wenn Geschäftsführung und Wertschöpfung weiter im Heimatland stattfinden. Johannes Heuschmid vom HSI warnt in einer Analyse, dass diese Entscheidung zu Missbrauch einlädt. „Die Diskussion um Briefkastengesellschaften lässt hier grüßen“, so der Arbeitsrechtler.

Vor dem EuGH geklagt hatte eine polnische Firma, die sich in eine luxemburgische Gesellschaft umwandeln, Verwaltung und Betriebe aber in Polen belassen wollte. Die Klage richtete sich gegen den Versuch eines polnischen Gerichts, das zu verhindern. Das Gericht hatte sich geweigert, das Unternehmen ohne vorherige Liquidation aus dem Handelsregister zu löschen. Der EuGH gab der Klage statt: Die Niederlassungsfreiheit gelte unabhängig davon, ob tatsächlich eine Niederlassung begründet wird. Beschränkungen dieser Freiheit – etwa, um Steuerschlupflöcher zu schließen oder Gläubiger- und Arbeitnehmerinteressen zu schützen – könnten grundsätzlich zwar durchaus gerechtfertigt sein. Eine allgemeine Verpflichtung zur Liquidation, ohne dass eine „tatsächliche Gefahr“ für die Belange von Stakeholdern besteht, sei aber unverhältnismäßig.

Nach Heuschmids Analyse kann die Argumentation des EuGH „über weite Teile hinweg nicht überzeugen“. Sie stehe im Widerspruch zu früheren Entscheidungen des Gerichtshofs, die den Niederlassungsbegriff an die reale Geschäftstätigkeit geknüpft hatten. Unternehmen hätten es nun in der Hand, sich ein rechtliches Umfeld auszusuchen, ohne auf Stakeholder-Interessen Rücksicht zu nehmen. Beispielsweise könnten sie die Mitbestimmung allein durch die Registrierung in einem mitbestimmungsfreien Mitgliedsstaat umgehen.

Der Jurist sieht mehrere Möglichkeiten, solchen Auswüchsen vorzubeugen. Zum einen wäre es denkbar, Maßnahmen der Sozialpolitik ausdrücklich von der Anwendung der Grundfreiheiten auszunehmen. Eine entsprechende Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der EU müsste der Rat allerdings einstimmig beschließen. Doch auch ohne Vertragsänderung gebe es Handlungsspielraum. Schließlich habe der EuGH Einschränkungen der Niederlassungsfreiheit ausdrücklich für zulässig erklärt, wenn aus Sicht von Stakeholdern „tatsächliche Gefahr“ droht – was bei der Mitbestimmung laut Heuschmid der Fall ist. Regelungen zum Schutz der Mitbestimmung könnte die EU-Kommission in der seit Jahren ausstehenden Richtlinie zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung aufnehmen. Wenn sich auf europäischer Ebene nichts tut, könnte aber auch der deutsche Gesetzgeber aktiv werden.


Für Ende Februar hat die EU-Kommission Vorschläge für Änderungen im europäischen Gesellschaftsrecht angekündigt. Das sogenannte „Company Law Package“ zielt darauf ab, EU-weit verbindliche Regeln für grenzüberschreitende Fusionen oder Sitzverlegungen von Unternehmen zu schaffen. Diese Gelegenheit sollte die Kommission nutzen, um endlich wirksame Schutzmechanismen für die Mitbestimmung im europäischen Recht anzugehen, so Norbert Kluge von der Hans-Böckler-Stiftung. „Keinem Unternehmen darf es erlaubt sein, durch Sitzwechsel innerhalb der EU angestammte nationale Mitbestimmungsrechte einfach abzustreifen.“ Konkret sieht der Mitbestimmungsexperte die Kompetenz der EU, in einer Richtlinie die Einheit von Satzungs- und Verwaltungssitz festzuschreiben. Das würde bedeuten: Ein Unternehmen könnte seinen Sitz in einem anderen EU-Staat nur registrieren, wenn auch die Verwaltung wirklich dorthin umzieht. „Das wäre wenigstens eine Barriere gegen eine Flucht vor der Mitbestimmung“, so Kluge. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat dafür bereits Anforderungen formuliert. 

Johannes Heuschmid: Rechtliche Sitzverlegung in einen anderen EU-Mitgliedstaat ohne tatsächliche Verlegung, Arbeit und Recht 2/2018 

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