Projektbeschreibung
Kontext
Gesellschaftliche Zeitregime sind um Arbeitszeiten herum gruppiert. Seit den 1970er Jahren gerieten der achtstündige Arbeitstag sowie die klare Trennung von Arbeit und Freizeit in die Diskussion. Eine Ausdifferenzierung von Arbeitszeitpolitiken steht im Zusammenhang von Flexibilisierungserwartungen an allgemeine Zeitregime in der Gesellschaft. Aufhebung der Ladenöffnungszeiten, Zunahme von Projektarbeit und längere Betriebszeiten führten zu einem "Abschied vom Normalarbeitstag" (Edwin Schudlich) seit den 1980er Jahren. Gewerkschaftliche Zeitpolitiken mussten auf diese Entwicklungen reagieren und zugleich den Beschäftigten individuelle wie kollektive Selbstbestimmung über ihre Zeit ermöglichen. Die gewerkschaftlichen Zeitpolitiken beeinflussten diese Entwicklungen, mussten aber auch auf wandelnde Erwartungen verschiedener Akteure reagieren.
Fragestellung
Im Projekt wurden Kontroversen und tarifpolitische Entscheidungen um Zeitpolitiken innerhalb der Gewerkschaften rekonstruiert und auf ihre gesellschaftspolitischen Implikationen befragt. Wandel und Kontinuitäten gewerkschaftlicher Zeitpolitiken konnten so offengelegt werden. Dieses erfolgte in dem Kontext neuerer zeitgeschichtlicher Forschung, die seit den 1970er Jahren eine veränderte Zeitwahrnehmung und -gestaltung hin zu einer „präsentistischen Gegenwart“ (Hans-Ulrich Gumbrecht) konstatiert. Zeitregime, verstanden als in der Gesellschaft vorherrschende Umgangs- und Aneignungsformen von temporalen Strukturen, sind in einem erheblichen Maße von Arbeitszeit geprägt und wirken auf die Ordnungsvorstellungen zum Beispiel bezüglich Geschlechterrollen, Arbeit, Freizeit oder Familie. Während das Projekt sich vorrangig auf gewerkschaftliche Zeitpolitiken bezog, untersuchte ein Partnerprojekt am SoFi in Göttingen die betriebliche Ebene durch Zweitauswertung von Interviews.
Untersuchungsmethoden
Im Projekt standen der DGB und Einzelgewerkschaften im Zentrum. Dabei wurden vor allem die jeweiligen Vorstandsabteilungen als Leitquellenbestände ausgewertet, auch hinsichtlich von Verbindungen und Netzwerken in Politik und Wissenschaft. Die umfangreiche sozialwissenschaftliche Literatur zum Thema wurde auf ihre Beeinflussung des gewerkschaftlichen Diskurses befragt und daher auch als Quelle gelesen, ebenso reziprok, inwiefern sozialwissenschaftliche Expertise auch durch Nähe zu den Gewerkschaften geprägt war. So konnte die Interaktion von wissenschaftlicher Wissensproduktion, gewerkschaftlichem Handeln und damit verbundener Ausbildung temporaler Strukturen und Zeitdeutungen konturiert werden. Die Kooperation mit dem Parallelprojekt gewann auch dadurch an Gewicht, weil die strategischen Beratungen der Gewerkschaften für die Interviewprojekte wichtige Bezugspunkte bildeten.
Darstellung der Ergebnisse
Gewerkschaftliche Zeitpolitiken konzentrierten sich seit Mitte der 1970er Jahre auf eine Arbeitszeitverkürzung zur Beschäftigungssicherung. Umstritten war tarifpolitisch zwischen den Gewerkschaften, ob eher Lebensarbeitszeitverkürzung oder eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit anzustreben sei. Der DGB konnte in diesem Konflikt nur moderierend wirken. IG Metall und IG Druck und Papier führten 1984 einen Arbeitskampf zur Durchsetzung der Wochenarbeitszeitverkürzung und erreichten den Einstieg in die 35-Stundenwoche.
Die Schlichtung 1984 bedeutete auch eine flexiblere Gestaltung von Arbeitszeiten, deren konkrete Umsetzung in den Betrieben verhandelt wurde. Die Gewerkschaften wandten sich lange gegen Flexibilisierungen, versuchten aber in den 1990er Jahren Ansprüchen aus der Mitgliedschaft gerecht zu werden. Geschlechterfragen wurden bei den Zeitpolitiken nun ebenfalls verstärkt aufgegriffen. Die ‚moderne Arbeitszeitpolitik‘ sollte individuelle Bedürfnisse in kollektiven Regelungen mehr berücksichtigen.