Preisträger*innen 2025: Jan-Markus Kötter: Die Antike schärft den kritischen Blick auf die Gegenwart
„Geschichte ist vergangen – und aufgrund der zahlreichen Bedingtheiten vergangenen Geschehens nicht wiederholbar. Aber: Sie eröffnet die Einsicht in ‚Möglichkeitsräume‘.“
Wer glaubt, die Geschichte der Antike hätte nichts mit unserer Gegenwart zu tun, hat noch nicht mit Jan-Markus Kötter gesprochen. Geschichte, sagt der Historiker und Theologe, bedeute für ihn „die Möglichkeit, meine Umwelt durch den Vergleich mit einer grundlegend anderen, aber doch in Kontinuität zu unserer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit stehenden Epoche in ihrem historischen Gewordensein besser zu verstehen“. Und bevor das zu abgehoben klingt, kommt er mit einem sehr praktischen Beispiel: Als er vor drei Jahren nach Köln gezogen sei, habe ihm sein Wissen als Althistoriker geholfen, sich in der Innenstadt zu orientieren. „Das antike Straßennetz und die antike Stadtbegrenzung lassen sich noch immer gut in der modernen Stadt erkennen“, erklärt der Wissenschaftler. Aber natürlich geht es ihm um mehr als das.
Kötter, geboren 1983 in Herford, ist Juniorprofessor an der Universität Düsseldorf und vertritt im laufenden Sommersemester den Lehrstuhl für Alte Geschichte in Bonn. Nach seinem Studium in Bielefeld, Bonn und Uppsala (Schweden) verfasste er seine preisgekrönte Doktorarbeit im Frankfurter Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Darin widmete er sich dem „Akakianischen Schisma“, einer frühen Kirchenspaltung zwischen Rom und Konstantinopel an der Grenze zum sechsten Jahrhundert.
Wie Machtzuwachs zu inneren Konflikten und Zersetzungsprozessen führt, das ist ein Leitmotiv seiner Forschung. Er findet es in der christlichen Kirche der Spätantike ebenso wie in der adligen Führungsschicht der aufsteigenden römischen Republik. Auch die Geschichte der antiken Geschichtsschreibung interessiert ihn deshalb: „Die Geschichtsschreibung hatte eine Doppelfunktion“, sagt Kötter. „Sie beschrieb die von mir betrachteten Konflikte und war zugleich einer der zentralen Kampfplätze im Ringen um Macht und Einfluss.“ Doch so verführerisch es scheinen mag, jetzt wie beim Kölner Stadtplan geradlinige Verbindungslinien bis in die Gegenwart zu ziehen: Ganz so einfach ist es nicht. Das macht der Historiker immer wieder deutlich.
„Um mit einem Missverständnis direkt aufzuräumen: Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es nicht, aus der Geschichte Handlungsanweisungen für die Gegenwart zur Gestaltung der Zukunft zu gewinnen“, betont er. „Geschichte ist vergangen – und aufgrund der zahlreichen Bedingtheiten vergangenen Geschehens nicht wiederholbar.“ Aber: Geschichte eröffne die Einsicht in „Möglichkeitsräume“. Wer verstehe, warum die Welt so geworden ist, wie sie ist, sehe auch, wie es hätte anders kommen können.
„Gerade damit wohnt der Geschichtswissenschaft das Potential inne, die Gegenwart einer grundlegenden Kritik zu unterwerfen“, meint Kötter. „Was nicht notwendigerweise so werden musste, wie es geworden ist, muss auch nicht notwendigerweise so bleiben, wie es ist.“
Die Alte Geschichte biete sich dabei als Vergleichsfolie in besonderem Maße an, sagt er und zitiert den Philologen Uvo Hölscher, der das Altertum einmal als das „nächste Fremde“ bezeichnet hat. Die Welt der Antike sei uns heutzutage ausreichend fremd, um eigene Denkweisen, Traditionen, mithin Selbstverständlichkeiten grundsätzlich in Frage stellen zu müssen, trotzdem aber, jedenfalls in Westeuropa, noch nahe genug, um nicht als gänzlich abgehobener Betrachtungsgegenstand gelten zu können. „Diese Ambivalenz der Epoche zwischen Vertrautheit und Fremdheit“, sagt Kötter, „umreißt gut meine Faszination für die Alte Geschichte.“