Jugend: Zwischen Sinnsuche und Systemkritik
Ob geopolitische Spannungen, digitaler Wandel oder Klimakrise. Junge Menschen sind sich einig: Sie wachsen in unsicheren Zeiten auf. Aber was bewegt und bedrückt sie am meisten? Und wie wollen sie Missstände beheben? Aufgezeichnet von Guntram Doelfs, Fabienne Melzer und Marius Ochs
„Ich bin oft wütend und fühle mich machtlos“
Wie wichtig sind Dir Natur- und Klimaschutz?
Klimaschutz ist mein Herzensthema. Ich fühle mich sehr verbunden mit der Natur – dort finde ich in gewisser Weise meinen Lebenssinn. Ich versuche, mein Leben nachhaltig zu gestalten, auch wenn ich oft auf das Auto angewiesen bin. Ich bin Vegetarierin, ein Freund aus der Gewerkschaft hat mich davon überzeugt. Ich arbeite an einer Studie zur Klimaanpassung in Kommunen mit – da passiert präventiv schon sehr viel. Das macht Hoffnung, auch wenn ich eher pessimistisch auf die Gesamtsituation blicke.
Wie denkst Du über Geld, Armut und Reichtum?
Früher wurde es bei mir in der Familie am Ende des Monats manchmal eng. Meine Eltern arbeiteten beide sehr viel. Nur Fleiß reicht in unserer Gesellschaft nicht aus, um hochzukommen. Ohne Bildung, finanzielle Unterstützung, familiären Rückhalt und auch etwas Glück geht es nicht. Da müssen wir ansetzen: Unsere Gesellschaft braucht viel mehr Möglichkeiten für sozial Schwache. Eigentlich müsste das ganze Steuersystem angepasst werden. Ich bin oft wütend und fühle mich machtlos – man kann da wenig erreichen.
Migration ist ein wichtiges Streitthema in Medien und Umfragen. Ist Dir das Thema auch wichtig?
Bei Migration denke ich als Erstes an die Spaltung der Gesellschaft. Dieses Thema treibt Leute auseinander, die eigentlich befreundet oder verwandt sind. Einen Bruch in der Familie konnten wir bisher verhindern, aber wir diskutieren oft über das Thema. Ich bin in vielen Vereinen aktiv und da sehe ich jeden Tag, wie diese Gemeinschaften zur Integration beitragen. Menschen zu kategorisieren und abzulehnen, ohne dass man etwas über sie weiß, ist falsch. Wir müssen offen sein und für Gleichberechtigung eintreten.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften und Mitbestimmung in Deinem Leben?
Ohne den Kontakt zur Gewerkschaft während meiner Ausbildung beim SWR in Stuttgart wäre mein Leben anders verlaufen. Durch die Mitbestimmung habe ich mich persönlich weiterentwickelt, und der Austausch in der Gewerkschaft hat mir viele Türen geöffnet. Auch an der Uni bestimme ich heute mit. Ich sitze in einer Kommission, die Mittel für Projektanträge verwaltet – da geht es teilweise um viel Geld. Ich übernehme solche Aufgaben gerne.
„Ein Wort wie Remigration macht mir Angst“
Wie wichtig sind Dir Natur- und Klimaschutz?
Ich habe meine Masterarbeit zur Frage geschrieben, welche Ängste die Klimakrise bei Kindern und Jugendlichen auslöst. Meine eigene Angst ist groß. Für Fridays for Future war ich schon auf der Straße - anfangs, weil ich freitags frei haben wollte. Wir haben im Englischunterricht das Buch ‚Ecotopia‘ gelesen, das eine positive klimaneutrale Zukunft zeigt. Das motiviert mich bis heute. Engagement ist wichtig, noch ist nicht alles verloren.
Wie denkst Du über Geld, Armut und Reichtum?
Wir leben in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem mit dem Ziel der Gewinnmaximierung. Das steht so aber nicht im Grundgesetz. Trotzdem stellt niemand mehr die Systemfrage. Ich bin selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen und habe gelernt: Ein Aufstieg aufgrund von Verdiensten und Leistungen ist eine Illusion. Die öffentliche Debatte frustriert mich. Wir müssen über bessere Sozialleistungen sprechen, statt über Mehrarbeit!
Für wie stabil hältst Du unsere Demokratie?
Unsere Demokratie wankt und wir finden nicht die richtige Reaktion auf die zu starke AfD. Ein Wort wie ‚Remigration‘ macht mir Angst. Wir brauchen ein AfD-Verbot! Stattdessen wird es wohl bald eine Regierung mit AfD-Beteiligung in einem ostdeutschen Bundesland geben. Nur die Linke setzt sich aktiv gegen die AfD ein, SPD und Grüne machen zu wenig. Und wir müssen der Jugend beibringen, was Demokratie bedeutet. Ich habe an Schulen Kurse zu 75 Jahren Grundgesetz gegeben. Viele Schülerinnen und Schüler kennen die Grundwerte unserer Gesellschaft noch nicht.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften und Mitbestimmung in Deinem Leben?
Meine Mutter war Erzieherin und in der Gewerkschaft. Ich habe also früh gelernt, was Mitbestimmung ist. Ihr Einsatz inspiriert mich. Mit 13 war ich schon in der Schülervertretung aktiv, unter anderem, weil ich es unfair fand, dass wir so viel für Schulmaterialien zahlen mussten, obwohl wir das Geld dafür nicht hatten. Heute bin ich GEW-Mitglied und engagiere mich in der Fachschaft. Da habe ich mich unter anderem für Änderungen an einer unfair gestalteten Klausur eingesetzt. Das hilft zwar mir nicht mehr, aber allen, die nach mir kommen.
„Ich arbeite gerne viel, da muss ich auf mich achten“
Wie wichtig sind Dir Natur- und Klimaschutz?
Das Thema betrifft ja vor allem uns als junge Generation, und wir spüren auch schon die klimatischen Veränderungen. Klar bereitet mir das Sorgen, aber da können wir noch was bewegen. Auch ich versuche, meinen Teil beizutragen – privat und beruflich. Ausgemusterte Uniformen werden üblicherweise entsorgt. Als Jugendvertretung haben wir angeregt, sie an neue Kolleginnen und Kollegen weiterzureichen. Es gibt auch die Idee, auf E-Autos umzusteigen, aber es fehlt noch ein Konzept. Das ist leider ein langwieriger Prozess.
In welchem Verhältnis sollen Arbeit und Freizeit stehen?
Ich arbeite sehr gerne sehr viel und bin ja auch in der Jugendvertretung und Gewerkschaft engagiert. Da muss ich schon mehr auf mich achten und nach der Arbeit einen Schlussstrich ziehen. Aber das geht oft nicht so einfach. Gerade der Streifendienst mit seinen Schichten belastet, auch gesundheitlich. Daher würde ich nicht sagen, dass Arbeit und Freizeit bei mir in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.
Wie denkst Du über Geld, Armut und Reichtum?
In Essen leben viele drogenabhängige Obdachlose. Es gibt Hilfsangebote, aber es ist enorm schwierig, sie von der Straße zu holen. Ich würde mir wünschen, dass Reichtum gerechter verteilt wäre, dass Bildung und Ausbildung besser gefördert werden. Dann wären vielleicht die Chancen gerechter verteilt. Aber ich habe keine Antwort darauf, wie wir das bewerkstelligen sollen.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften und Mitbestimmung in Deinem Leben?
Ich bin zur Polizei gegangen, weil ich etwas ändern will, weil ich helfen will. Das kann ich auch in der Gewerkschaft und in der Jugendvertretung. Deshalb habe ich gleich zu Beginn meines Studiums für die Jugendvertretung kandidiert und wurde direkt zur Vorsitzenden gewählt. Wir nehmen an den Personalratssitzungen teil und werden ernst genommen mit unseren Ideen. Auch der Innenminister nimmt sich für uns Zeit.
„Überall im Land sehe ich Menschen, die aufstehen“
Wie wichtig sind Dir Natur- und Klimaschutz?
Klimaschutz und der Erhalt unserer Natur sind kein Nebenschauplatz. Sie sind die Grundlage für unsere Gesundheit, eine funktionierende Wirtschaft und ein gutes Leben. Aber wir sehen, wie viel auf dem Spiel steht. Deshalb setze ich mich im Bundestag mit aller Kraft dafür ein, dass wir beim Klima handeln. Und zwar so, dass es gerecht ist und für alle funktioniert, nicht nur für die, die es sich leisten können.
Wie denkst Du über Geld, Armut und Reichtum?
In Deutschland hängt noch immer viel davon ab, in welche Familie man geboren wird. Wer reich ist, bleibt oft reich. Wer in Armut aufwächst, hat es schwerer. Das ist ungerecht. Politik muss dafür sorgen, dass alle Kinder die gleichen Chancen haben. Und sie muss die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich verringern, statt sie zu ignorieren.
Für wie stabil hältst Du unsere Demokratie?
Unsere Demokratie ist belastbar, aber sie wird angegriffen. Hetze, Verachtung gegenüber dem Parlament und gezielte Provokationen sind zur Methode geworden. In dieser Lage reicht es nicht, nur auf das Grundgesetz zu verweisen. In erster Instanz müssen wir im Bundestag ernsthaft darüber diskutieren, ob wir ein AfD-Verbotsverfahren auf den Weg bringen. Wenn eine Partei die Demokratie untergräbt und Menschenrechte offen in Frage stellt, darf das nicht folgenlos bleiben. Entscheiden muss am Ende das Bundesverfassungsgericht. Aber der Impuls muss aus dem Parlament kommen. Gleichzeitig sehe ich überall im Land Menschen, die aufstehen, Gesicht zeigen und Haltung beweisen. Das gibt mir Zuversicht.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften und Mitbestimmung in Deinem Leben?
Mitbestimmung gehört für mich zum Kern einer gerechten Gesellschaft. Schon in der Schule habe ich mich engagiert, weil ich nicht wollte, dass andere über meinen Kopf hinweg entscheiden. Im Arbeitsleben übernehmen Gewerkschaften genau diese Rolle. Sie kämpfen für faire Löhne, gute Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit. Ohne sie wären viele Errungenschaften nicht denkbar. Deshalb ist ihr Einsatz so wichtig.
„Die Jungen haben Bock zu streiken“
Migration ist ein Streitthema in Medien und Umfragen. Ist Dir das Thema auch wichtig?
Mich bewegt, wie wenig einigen Menschen bewusst ist, dass wir auf Einwanderung angewiesen sind. Wir brauchen diese Menschen dringend, um unser Land am Laufen zu halten. Wir sollten sie unterstützen und ihnen beim Einstieg in den Beruf helfen. Bei der Bahn gibt es eine Einstiegsqualifizierung für Menschen mit niedriger Bildung oder sprachlichen Defiziten. Sie können sich in neun Monaten auf eine Ausbildung vorbereiten. Das funktioniert auch, aber in einem sehr kleinen Rahmen. Aber statt uns zu fragen, wie wir mehr Menschen unterstützen können, machen wir die Grenzen dicht.
Wie denkst Du über Geld, Armut und Reichtum?
Armut und Reichtum sind in Deutschland sehr ungerecht verteilt. Ich bin schon relativ privilegiert, weil bei mir zu Hause Wert auf Bildung gelegt wurde. Aber ein Studium konnten meine Eltern mir nicht finanzieren. Deshalb habe ich eine Ausbildung gemacht. Ich denke, ein Grunderbe könnte vielen jungen Menschen den Start erleichtern. Wenn wir die Superreichen besteuern, wäre auch Geld dafür da. Wichtig wären auch gerechtere Löhne. Woher haben denn Menschen wie Jeff Bezos ihre Milliarden? Sie haben ihren Reichtum doch oft auf den niedrigen Gehältern der Beschäftigten aufgebaut. Leider blicken Menschen, denen es nicht besonders gut geht, lieber auf andere herab, denen es noch schlechter geht, als über echte Umverteilung zu sprechen. So werden wir niemals die Superreichen zur Verantwortung ziehen.
Glaubst Du, es gibt in unserer Gesellschaft genug Zusammenhalt und Solidarität?
Beides ist uns teilweise verlorengegangen, vor allem seit Corona, als alle allein zu Hause hockten. Seitdem ist auch die Arbeitsbelastung gestiegen. Viele haben weniger Zeit, sich für die Gesellschaft zu engagieren. Aber mein innerer Optimist sucht immer nach dem Positiven. Da macht mir die Generation Hoffnung, die jetzt von der Schule kommt. Die sind politisch aktiver, die haben wirklich Bock, sich zu engagieren, sich einzumischen, zu streiken.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften und Mitbestimmung in Deinem Leben?
Zu meinen aktivsten Zeiten habe ich immer gesagt: Ohne meine Dosis EVG stehe ich morgens nicht auf. Gewerkschaft gibt mir das Gefühl, ich kann etwas tun. Das macht mir selbst Hoffnung und ich fühle mich weniger ohnmächtig. Ich kann dafür sorgen, dass der Azubi sich von seinem Lohn mehr als die Miete leisten kann. Mitbestimmung bedeutet auch Mitverantwortung. Es gibt Menschen, die können sich nicht selbst wehren. Es braucht die Stimme der Gewerkschaft, damit auch sie gehört werden.
„Wir jungen Menschen werden mal wieder vorgeschoben“
Kriege und die Debatte um die Wiederaufrüstung dominieren die Nachrichten. Wie stehst Du dazu?
Fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung? Das ist Wahnsinn, totes Kapital. Und auch die Diskussion um die Wehrpflicht ist unfair. Wir werden als junge Menschen mal wieder vorgeschoben. Wir haben es nicht verschuldet, sollen es aber richten. Mein einziger Berührungspunkt mit der Bundeswehr war bisher eine Postkarte, die sie mir zum 18. Geburtstag geschickt hat. Das fand ich so lustig, die habe ich aufbewahrt. Ich kriege ja den Zustand der Bundeswehr mit. Von mir aus kann das gerne so bleiben. Ich persönlich sorge mich viel mehr um den Klimawandel als um Krieg.
Für wie stabil hältst Du unsere Demokratie?
Wir sind in einer Vertrauenskrise. Das beste Beispiel: Die CDU hat im Wahlkampf eine umfassende Neuverschuldung ausgeschlossen und machte dann das Gegenteil. So treibt man die Leute der AfD in die Hände. Man kann diese Partei inhaltlich nicht stellen. Wir brauchen soziale Politik, anstatt gegen Ausländer zu hetzen. Als Gewerkschafter engagiere ich mich für Demokratie, da wird man auch mal selbst zur Zielscheibe. Während einer Veranstaltung in der Nähe vom CSD im brandenburgischen Rheinsberg haben wir einen Drohbesuch von Nazis bekommen – mit denen redet man nicht, gegen die wehrt man sich. Aber viele der AfD-Wähler sind noch erreichbar. In meinem Landkreis hat die AfD bei der letzten Landtagswahl 46 Prozent geholt. Mir fehlt mittlerweile das Gefühl, dass es besser wird. Seit Corona ist die Debattenkultur komplett im Keller. Ich glaube aber trotzdem an die Demokratie. Dafür braucht es mehr Vertrauen.
Hältst Du unser Wirtschaftssystem für zukunftsfähig?
Unsere Wirtschaft hat eine Zukunft, wenn wir die soziale Marktwirtschaft mit Leben füllen. Die Lage hier in Sachsen ist angespannt. Die Papierbranche ist beispielsweise nicht so stabil aufgestellt. Da gibt es Existenzängste, ganze Regionen wackeln. Die Leute können nichts dafür, die machen gute Arbeit. Wir brauchen unser soziales Netz. Es fängt die Menschen auf und gibt ihnen die Chance, wieder woanders Fuß zu fassen. Die soziale Marktwirtschaft kann uns aus Krisen helfen.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften und Mitbestimmung in Deinem Leben?
Die Gewerkschaftsarbeit ist mein halbes Leben. Ich arbeite seit 2018 beim Chemiekonzern Wacker. Schon vor Ausbildungsbeginn hat mich die IGBCE angesprochen. Der Solidaritätsgedanke hat mich direkt überzeugt. Heute bin ich bis auf die Bundesebene aktiv. Es ist viel Arbeit, aber ich habe auch in ganz Deutschland Menschen kennengelernt und Freundschaften geschlossen. Persönlich habe ich durch die Gewerkschaftsarbeit große Fortschritte gemacht. Heute fällt es mir leicht, öffentlich zu jedem Thema zu sprechen. Ich setze mich für die Azubis ein. Es ist wichtig, der Geschäftsführung auch mal zu sagen, was nicht so gut läuft
„Wir brauchen demokratische Teilhabe in der Wirtschaft“
Glaubst Du, es gibt in unserer Gesellschaft genug Zusammenhalt und Solidarität?
Der Zusammenhalt nimmt spürbar ab, die Entsolidarisierung wächst. Für mich ist der eigentliche Gradmesser, wie eine Gesellschaft mit den Schwächsten und Marginalisierten umgeht. Heute wird oft leichtfertig und unreflektiert nach unten getreten, statt zu erkennen, wer die wahren Nutznießer des Systems sind. Besonders problematisch ist, wenn von der Politik suggeriert wird, Geflüchtete seien das Problem, anstatt die extremen Eigentums- und Machtverhältnisse im Land zu thematisieren. Gerade jetzt ist es wichtiger denn je, dass wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen.
Wie denkst Du über Geld, Armut und Reichtum?
Das Vermögen in Deutschland ist extrem ungleich verteilt: Eine kleine Gruppe von Superreichen kontrolliert immer größere Teile des gesellschaftlichen Reichtums und übt großen Einfluss aus, während die Mehrheit um Sicherheit und Perspektive kämpft. Nur wenige Prozent besitzen über die Hälfte des Vermögens, weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat zusammen kaum mehr als zwei Prozent. Jeder Fünfte kann sich keinen Urlaub leisten, es herrscht Wohnungsmangel. Junge Menschen kommen schwer aus der Prekarität. Diese Schieflage muss durch gezielte Umverteilung und Besteuerung großer Vermögen dringend geändert werden.
Hältst Du unser Wirtschaftssystem für zukunftsfähig?
Nein. Es ist naiv und gefährlich, das aktuelle System als zukunftsfähig zu sehen. Nicht nur Zusammenhalt und Perspektive gehen verloren, wir setzen unser demokratisches Miteinander aufs Spiel. Wenige konzentrieren immer mehr wirtschaftliche und politische Macht, während zentrale Fragen wie Wohnen oder Klima ungelöst bleiben. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das auf demokratischer Mitbestimmung und echter Teilhabe beruht.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften und Mitbestimmung in Deinem Leben?
Gewerkschaften sind für mich die organisierte Gegenmacht gegen die immer extremer werdenden Eigentums- und Reichtumsverhältnisse. Wer sich nicht organisiert, ist der Willkür des Systems ausgesetzt. Ich entscheide mich jeden Tag dagegen und weigere mich, diese Zustände als Status quo anzuerkennen. Angesichts der aktuellen Entwicklungen, die ökonomisch – was die Besitzverhältnisse angeht – wieder fast an die Zeit des Kaiserreichs erinnern, ist es wichtig, sich gemeinsam für mehr Gerechtigkeit und Solidarität einzusetzen
„Ich weiß, dass ich etwas verändern kann“
Glaubst Du, es gibt in unserer Gesellschaft genug Zusammenhalt und Solidarität?
Der Zusammenhalt in der Gesellschaft wird schwächer, sie wird nach Corona zunehmend zu einer Ellbogengesellschaft. Gerade in der Pflege bekomme ich das hautnah mit. Was ich dort bei der Arbeit an Streit im engen Familienkreis beobachte, gilt auch im größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Heute wird man in Diskussionen schnell abgestempelt und verurteilt, ohne dass einem zugehört wird. Zudem landet man schnell in einer Schublade. Wenn etwa ältere Menschen oder auch Kollegeninnen die Generation Z pauschal als faul abstempeln, fühle ich mich persönlich beleidigt und zu Unrecht angegriffen. Wir müssen aber lernen, wieder mehr aufeinander zuzugehen.
In welchem Verhältnis sollen Arbeit und Freizeit stehen?
Arbeit ist wichtig, aber sie sollte nicht überhandnehmen. 40 Stunden pro Woche sind okay, aber die Arbeit muss gut organisiert und die Freizeit muss planbar sein. In der Pflege arbeiten wir auch am Wochenende und im Schichtbetrieb. Wir springen oft kurzfristig ein. Manchmal arbeiten wir sogar zwei Wochen am Stück. Ich würde mir wünschen, dass unsere große Flexibilität beim Einspringen auch finanziell belohnt würde.
Migration ist ein wichtiges Streitthema in Medien und Umfragen. Ist Dir das Thema auch wichtig?
Mir ist dieses Thema wichtig. In der Pflege habe ich täglich mit Menschen mit Migrationshintergrund zu tun, sowohl unter den Patienten als auch unter meinen Kollegen und Kolleginnen. Man muss immer den einzelnen Menschen betrachten und darf Migranten nicht pauschal abwerten. Ich rede nicht von völlig unkontrollierter Zuwanderung, das darf nicht sein. Aber wir müssen den Fokus viel stärker darauf legen, Migranten in unsere Gesellschaft zu integrieren. Und sie nicht in Containerlagern abzuschotten.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften und Mitbestimmung in Deinem Leben?
Während meiner Mitarbeit in der Tarifkommission bei Verdi habe ich erlebt, wie wichtig Gewerkschaften und Mitbestimmung sind. Dort konnte ich über tarifliche Regelungen mitbestimmen. Tarifverträge sind nämlich enorm wichtig, um gegen Lohnabbau vorzugehen. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Denn ich weiß, dass ich etwas verändern kann.