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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Wir sind in die erste Reihe vorgerückt"

Ausgabe 07/2015

IMK-Chef Gustav Horn über das zehnte Jubiläum seines Instituts, das Etikett der Gewerkschaftsnähe und die Krise der Mainstream-Ökonomie. Das Interview führten Guntram Doelfs und Margarete Hasel

Vor zehn Jahren haben Sie den Anspruch formuliert, dass das IMK zum führenden makroökonomischen Institut in Deutschland werden soll. Wie weit ist ihr Institut auf diesem Weg vorangekommen? 

Wir wollten eines der führenden makroökonomischen Institute in Deutschland werden. Dabei sind wir recht weit vorangekommen. In allen Übersichten – sei es zu Prognosen, sei es zu wirtschaftspolitischen Statements – werden wir heute mit all jenen geführt, die schon jahrzehntelang etabliert sind. In diese erste Reihe wollten wir vorrücken. Da sind wir – und fühlen uns wohl. 

2004/05 war das Land noch rot-grün regiert, von einer Finanzmarktkrise war noch keine Rede. Wie hat sich Gustav Horn – und mit ihm das IMK – seither verändert? 

Natürlich mussten auch wir im Zuge der vielen Krisen dazulernen und Korrekturen vornehmen. Aber weniger als andere. Einer der Gründe für die Gründung des IMK war ja die Abwesenheit gesamtwirtschaftlicher Ansätze in der wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland. Das machte den Gewerkschaften sehr zu schaffen, etwa bei den Arbeitsmarktreformen oder der Agenda 2010. Wenn wir heute auf die wirtschaftspolitische Landschaft sehen, haben makroökonomische Argumente viel stärker an Gewicht gewonnen, speziell vor dem Hintergrund der Finanzmarktkrise und der Krise des Euroraumes. 

Ist der veränderte makroökonomische Diskurs nicht vor allem ein Ergebnis der Krise der liberalen Wirtschaftsmodelle, die sich selbst vor die Wand gefahren hatten? 

Richtig. Es ist leider so, dass nur pathologisch gelernt wird. Das Kind muss erst in den Brunnen fallen. Das zeigen exemplarisch die Reaktionen auf unseren ersten IMK-Report vom August 2005, der mit dem Satz schließt: „Die Zukunft des Euroraumes muss skeptisch gesehen werden.“ Weder in der Presse noch unter Kollegen fand diese Einschätzung großen Widerhall. Die haben nur milde gelächelt.

Die Finanzmarktkrise mit ihrer ganzen Wucht hat auch das IMK überrascht.

Dass es zwei Jahre später an den Finanzmärkten und in den USA losgehen würde, haben auch wir nicht vorausgesehen, aber eher als andere erkannt, wie schlimm es wird. Als wir die ersten Krisenzeichen dort sahen, warnten wir, dass die Krise nach Europa überspringt und auch die Realwirtschaft davon betroffen sein wird. Inzwischen haben wir ein eigenes Forschungsreferat, das speziell das Zusammenspiel zwischen Finanzmärkten und Konjunktur untersucht. Unser traditionelles Modell berücksichtigte zwar die Möglichkeit von Krisen, aber eben nur als rein realwirtschaftliche Krisen. Die Finanzmarktdimension fehlte auch bei uns. 

Wie konnten Sie trotzdem die Nase vorn haben?

Ich habe 2001, als die Dotcom-Blase platzte, am DIW eine grandiose Fehlprognose der wirtschaftlichen Entwicklung geliefert. Wir dachten, es gebe nur einen abgeschwächten Aufschwung, tatsächlich gab es eine globale Rezession. Viel stärker kann man nicht danebenliegen. Das Gute an Fehlprognosen ist aber, dass man aus ihnen lernen kann. Ich hatte – wie viele andere Ökonomen auch – das Zusammenspiel von Finanzmärkten und Realwirtschaft übersehen. Eine Finanzmarktkrise zieht sofort den realwirtschaftlichen Finanzierungsprozess in Mitleidenschaft, die Krise springt schnell über. Diese Erkenntnis hat uns 2007 geholfen. 

Und eine kapitalismus- und eurokritischere Öffentlichkeit war begierig, mehr über diese Zusammenhänge zu lernen? 

Menschen werden ja nicht ohne Grund kritischer. Die Leute sehen, dass etwas schiefgelaufen ist. Die Krisen haben die Einstellung zu den bisherigen Konzepten geändert. Aber dann müssen auch Alternativen angeboten werden, wie wir sie die ganze Zeit propagiert haben. Das hat nichts mit der Eurokritik zu tun, wie sie die AfD vertritt. Aber es hat sicherlich mit einer Kritik an den bestehenden Institutionen des Euro zu tun, die wir sehr frühzeitig geübt haben. Diese Kritik ist mittlerweile allgemeiner verbreitet als vorher. 

Das geht vielen Kritikern nicht weit genug. Sie beklagen, dass der Kapitalismus weiterhin nicht generell infrage gestellt werde.

Ich würde mich nicht als Kapitalismuskritiker bezeichnen. Schon gar nicht, wenn diese Kritik von einem moralischen Podest aus agiert, was mich immer sehr irritiert. Ich versuche, das in sich krisenhafte System des Kapitalismus zu stabilisieren, und zwar im Sinne der Menschen. Wenn nun jemand sagt, dass ich einen Reparaturbetrieb des Kapitalismus anführe, antworte ich: Ja – und das ist auch gut so. Weil ich glaube, dass ich damit den Menschen besser helfen kann. 

Seit Anbeginn gilt das IMK als gewerkschaftsnah. Ist das IMK die ökonomische Stimme der Gewerkschaften? 

Das IMK ist gewerkschaftsnah, auch durch die institutionelle Anbindung über die Hans-Böckler-Stiftung. Auch inhaltlich sind wir gewerkschaftsnah, weil wir Fragestellungen bearbeiten, die die Wertehaltung der Gewerkschaften widerspiegeln: Was ist für die Beschäftigten, die Arbeitslosen, die breite Masse in diesem Land sinnvoll, wo können wir deren Wohlstand mehren? Das hat aber keinerlei Bedeutung für unsere Arbeit als Wissenschaftler. Da müssen wir den üblichen wissenschaftlichen Standards genügen, sonst würde unsere Arbeit auch nicht ernst genommen. Wir sind daher nicht die ökonomische Stimme der Gewerkschaften. 

Wenn dieses Etikett gebraucht wird, schwingt als Subtext mit, dass das IMK keine ergebnisoffene Forschung betreibt. Wie begegnen Sie dieser Unterstellung? 

Am Anfang waren solche Vorbehalte sicherlich ein Problem. Es gab Fachkollegen, die unsere Mitarbeiter fragten: Was sagen denn die Gewerkschaften dazu? Man hat sie nicht als wissenschaftliche Kollegen adressiert, sondern als Sprachrohr der Gewerkschaften. Ich habe damals immer gesagt: Damit müssen wir leben – und uns jeder Debatte stellen. Wir haben unsere Arbeiten veröffentlicht und sie auf wissenschaftlichen Konferenzen und in der Presse diskutiert. Weil wir akademische Erfolge haben und Reputation anhäufen, erledigt sich dieser Verdacht sukzessive. 

Gab es in den vergangenen Jahren Situationen, wo Sie und Ihr Institut konträr zu gewerkschaftlichen Positionen lagen? 

Beispielsweise sehen wir die Problematik der kalten Progression durchaus gelassener als viele Gewerkschaften – und sagen dies auch. So halten wir einen „Tarif auf Rädern“ …

… die Anpassung des Einkommenssteuertarifs an die Preissteigerung …

... der auch in Gewerkschaftskreisen vorgeschlagen wird, für falsch. Damit würde die Stabilisierungsfunktion des Steuersystems enorm geschwächt. Das haben wir so auch mit den Gewerkschaften diskutiert. Ob sie dann ihre Meinung ändern, ist eine andere Geschichte. Was die kalte Progression angeht, gehen die Gewerkschaften mittlerweile aus meiner Sicht in die richtige Richtung und fordern eine grundlegende Steuerreform. In der Tat wird der mittlere Einkommensbereich durch die Progression relativ stark belastet.

Von den Industriegewerkschaften gibt es vermutlich auch nicht nur Applaus, wenn das IMK die Exportüberschüsse Deutschlands kritisiert.

Es gab manchmal Missverständnisse, weil manche Gewerkschaften glaubten, wir würden die Exporte kritisieren. Das haben wir aber nie getan. Wir haben immer nur gesagt, dass es eine Balance zwischen Export und Import geben muss. Dieses Missverständnis mussten wir häufiger aufklären. Ich erinnere mich auch sehr deutlich an eine Situation im Sommer 2008, als mich die IG Metall im Vorfeld der Tarifverhandlungen gebeten hatte, eine Einschätzung der wirtschaftlichen Lage zu geben. Ich musste vor der Kulisse der sich entfaltenden Finanzmarktkrise sagen: Es wird schlecht – und zwar sehr schlecht. Das hören Gewerkschaften vor Tarifverhandlungen nicht gerne. Aber es wurde uns ebenfalls gesagt: Wir bezahlen euch nicht, damit ihr uns immer nur sagt, was wir hören wollen. 

Im Ökonomen-Ranking der „FAZ“ wird dem IMK ein starker Einfluss auf der Ebene der politischen Beratung attestiert, in den Medien hingegen und im wissenschaftlichen Diskurs unter Ökonomen – so der „FAZ“-Befund – findet das Institut kaum Beachtung. Wurmt Sie das? 

Was die eigene Profession betrifft, taucht das Gewerkschaftslabel auf wissenschaftlichen Konferenzen oder in Debatten nicht mehr auf. Was die Rezeption in wissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland betrifft, liegen wir allerdings nicht gut. Das liegt aber an der Ausrichtung dieser Zeitschriften, die immer noch sehr stark im konventionellen Mainstream verhaftet sind. Mit unseren wirtschaftstheoretischen Vorstellungen haben wir natürlich Schwierigkeiten, da hineinzukommen. In der Politik werden wir stark herangezogen zur Beratung, allerdings ist die Politik eine Art wirtschaftspolitische Kampfzone. Da wird das Attribut „gewerkschaftsnah“ verwendet, um uns zu diskreditieren. Wie umgekehrt die Kollegen des IW als „arbeitgebernah“ diskreditiert werden. 

Ist das der Grund, warum Sie sich mit IW-Chef Michael Hüther gut verstehen? 

Zunächst einmal gibt es eine formale Symmetrie, die auch von den Medien gern benutzt wird. Zum anderen kann ich nicht feststellen, dass zwischen Michael Hüther und mir ein Abgrund liegt. Das hat sich insbesondere in der Situation der Finanzmarktkrise erwiesen, wo er und ich unisono ein starkes Konjunkturprogramm gefordert haben. Auf dieser gemeinsamen Basis kann man argumentieren. Das schließt nicht aus, dass man in anderen Fragen völlig konträr ist, etwa beim Mindestlohn. 

Diesen „konventionellen Mainstream“ unter deutschen Ökonomen – gibt es den überhaupt? Zeigt nicht Herr Hüther, dass die in den Gewerkschaften beliebte Einordnung – hier Keynesianer, dort Neoliberale –zu pauschal ist? 

Nun, jede Etikettierung hat ihre Pauschalität und wird den Individuen nicht gerecht. Herr Hüther ist ein Ordoliberaler – und die kennen Krisen und wissen, dass die Marktwirtschaft einen Ordnungsrahmen braucht. Wenn ich vom deutschen Mainstream spreche, meine ich die Kollegen, wie sie heute in ihrer Mehrzahl auf den Lehrstühlen der Universitäten sitzen. Sie gehen von einem in sich stabilen marktwirtschaftlichen System aus. Zu ihnen zählen die 300 Kollegen, die im – unter anderem von Bernd Lucke initiierten – Hamburger Appell vor den Bundestagswahlen 2005 jedweder Stabilisierungspolitik seitens des Staates eine klare Absage erteilt haben. Das vertreten sie auch heute noch. An diesen Modellen wird heute allerdings massiv Kritik geübt. Nicht nur von Keynesianern. Sie kommt auch von der Mikroökonomie, die sich nicht genügend in diesen makroökonomischen Modellen berücksichtigt sieht. Sie kommt aus der Verhaltensökonomie. Und sie kommt verstärkt von den Studenten, die sagen: Wir wollen nicht nur eine Meinung gelehrt bekommen. Der Mainstream steht massiv unter Druck, und es ist tatsächlich sehr die Frage, ob man noch lange von einem Mainstream sprechen kann.

In dem Netzwerk „Plurale Ökonomik“ soll die Ökonomie interdisziplinär vorangebracht werden. Einige Ihrer Schüler und ehemalige IMK-Wissenschaftler, die inzwischen einen Ruf auf einen Lehrstuhl erhalten haben, sind dort sehr engagiert. Wird dies die Güte der Prognosen verbessern? 

Das ist der Lackmustest. Die Messlatte ist, dass wir Krisen besser und früher vorhersehen als bisher, um rechtzeitig warnen zu können. Der Rezessionsindikator, den wir am IMK entwickelt haben, ist ein Beispiel dafür. Wir füttern ihn mit vielen Daten, um Konstellationen herauszufiltern, unter denen Rezessionen entstehen können. Das sind Dinge, wo wir uns bewegen müssen. Und wir müssen auch die Grenzen unserer Fachs überschreiten in Richtung Gesellschaftswissenschaften. Da setze ich große Hoffnungen auf die übernächste Generation – nicht auf die nächste, die noch im bisherigen Rahmen ausgebildet wurde. 

Anfang Juni 2015 war Yanis Varoufakis – damals noch Finanzminister – gefeierter Gast bei einer Veranstaltung des IMK in Berlin. Inzwischen ist das Land faktisch zahlungsunfähig und haben die Griechen in einem Referendum der drastischen Sparpolitik die Rote Karte gezeigt, für die Ministerpräsident Tsipras nun im Parlament eine Mehrheit sucht. Viel Porzellan ist zerdeppert … 

Das Ergebnis der jüngsten Übereinkunft ist vor allem ein wechselseitiges fundamentales Misstrauen. Das ist ein Riesenproblem bei der Lösung des Griechenlandproblems. Die Brüsseler Vereinbarung enthält neben teilweise überzogenen Sparvorschlägen, notwendigen Reformansätzen auch eine sehr sinnvolle Investitionskomponente, die unbedingt genutzt werden sollte. Zudem lässt das Abkommen Raum für eine Verlängerung der Rückzahlungsfristen für Griechenlands Schulden. Ein schwieriges Abkommen, aber nutzbar.

ZUR PERSON

GUSTAV A. HORN, 60, ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung seit dessen Gründung im Jahr 2005. Davor leitete der streitbare Ökonom die Konjunkturabteilung am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Er lehrt an der Universität Duisburg-Essen, und er engagiert sich seit 2011 als Vorsitzender der Kammer für Soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die vor Kurzem die Denkschrift „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ veröffentlicht hat.

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