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Magazin Mitbestimmung

: Wir halten am europäischen Sozialmodell fest

Ausgabe 03/2009

DEBATTE: EGB-Generalsekretär John Monks setzt sich mit der EuGH-Kritik von Fritz Scharpf auseinander

Von John Monks, Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes/Foto: Horst Wagner

Professor Fritz Scharpf, einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler Europas, äußerte sich in der Zeitschrift Mitbestimmung zu den radikalisierenden Auswirkungen der jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Es geht um die Entscheidungen zu Viking, Laval, Rüffert und Luxemburg, mit denen soziale und Gewerkschaftsrechte den wirtschaftlichen Grundfreiheiten - wie der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit - untergeordnet wurden.

 Die Einstellung, die der EuGH in seinen vier jüngsten Urteilen hierzu vertritt, löst beim Europäischen Gewerkschaftsbund Besorgnis aus. Seit der EU-Erweiterung 2004 liegt die Frage in der Luft: Kann ein Ausgleich erwirkt werden, wenn die wirtschaftlichen Grundfreiheiten - die Mobilität von Personen, Kapital und Waren - mit den nationalen Arbeitssystemen kollidieren? So, wie der EuGH jetzt entschieden hat, werden die sozialen Modelle der Mitgliedsländer den wirtschaftlichen Freiheiten untergeordnet. Wenn diesen Maximen des EuGH Folge geleistet wird, geraten grundlegende Bestandteile der nationalen Sozialmodelle in Gefahr.

Im Fall Viking wird die Autonomie der Sozialpartner stark eingeschränkt durch die erforderliche Rechtfertigung von kollektiven Maßnahmen etwa bei Streiks. In den Urteilen Laval, Rüffert und die Kommission gegen Luxemburg macht der EuGH deutlich, dass die Abwehr von Sozialdumping, indem Mindestarbeitsbedingungen wie etwa Mindestlöhne durch Tarifverhandlungen festgelegt werden, von ihm als Hindernis für den freien Dienstleistungsverkehr verstanden wird. Im Grunde verweigert der EuGH damit der Arbeitnehmerseite eine Waffengleichheit in der Auseinandersetzung mit dem globalisierten Kapital.

So kann der EGB nur Professor Scharpfs Analyse beipflichten, dass das soziale Europa stark angeschlagen ist und nun Wege und Mittel gefunden werden müssen, um diesen Schaden zu beheben. Allerdings wird es hierauf keine einfache Antwort geben. Hier warnen wir vor einer Rückkehr zum Nationalstaat, denn die wirtschaftliche Integration in Europa hat einen Punkt erreicht, an dem eine Umkehr unmöglich ist.

Nach Ansicht der Gewerkschaften im EGB muss es vor allem Aufgabe des Gesetzgebers - hier: Europäisches Parlament und Ministerrat - sein, die Balance zwischen dem europäischen Binnenmarkt und einem sozialen Europa neu zu justieren. Beide fordert der Europäische Gewerkschaftsbund zu einem raschen und konsequenten Handeln auf, weil die Arbeitnehmerseite nicht auf ein europäisches Sozialmodell verzichten kann. Nur auf europäischer Ebene kann ein sozialer Rahmen entwickelt werden. Die Urteile des Gerichtshofs müssen daher in erster Linie durch Gesetze rückgängig gemacht werden.


VERBESSERUNGEN ERREICHT_ Von daher halten wir am europäischen Sozialmodell fest. Es liegt im ureigenen Interesse der Gewerkschaften, sich für eine Ausgestaltung der EU einzusetzen, die einer anderen Logik als der des Marktes folgt. Denn wenn zugelassen wird, dass sich der Binnenmarkt in eine Freihandelszone entwickelt, hätte das verheerende Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Europa.

Nicht zu vergessen sind hier auch die erheblichen sozialen Verbesserungen, die bisher bereits erreicht worden sind. Als gemeinschaftliche Ziele schreibt Artikel 136 EG die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie einen ausreichenden sozialen Schutz vor. Eine ganze Reihe von europäischen Richtlinien hat zu konkreten Verbesserungen im Arbeitsleben von EU-Bürgern geführt - wie etwa die Gleichstellung bei der Entlohnung, Mindestvorschriften für befristete Arbeitsverträge und Teilzeitarbeit, mehrere Richtlinien zur Information und Konsultation, die neue Zeitarbeitsrichtlinie. Auch könnte endlich die Charta der Grundrechte der EU - aus dem Jahr 2000 - mit der Ratifizierung des EU-Vertrages von Lissabon (die für den Herbst 2009 geplant ist, sofern die Iren zustimmen) rechtsverbindlich in Kraft treten.

Lösungsstrategien müssen unserer Ansicht nach auf europäischer Ebene gefunden werden. Und hier gibt es eine Bezugsbasis gemeinsam geteilter Werte, die auch der europäischen Integration zugrunde liegen. Niemand anders als der europäische Gesetzgeber muss Mittel (oder Einschränkungen) finden, die es den europäischen Richtern ermöglichen, Urteile zu verabschieden, die den Binnenmarkt an einem sozialen Rahmen ausrichten.


DEN EuGH STÄRKER STEUERN_ Fritz Scharpf spricht sich für einen "politischen Appell" aus, der dazu führen soll, dass die Mitgliedstaaten die EuGH-Urteile ablehnen. Sofern die Mehrheit der Regierungen zu dem Schluss kommt, dass ein Urteil des EuGH die Grenzen der europäischen Zuständigkeit überschreitet. Nach Ansicht des EGB kann dieser Vorschlag, wenn er auch verführerisch scheint, keine angemessene Reaktion darstellen: Denn die Gewaltenteilung zwischen der Legislative und der Judikative ist ein wesentliches Merkmal der Demokratie. Gleichwohl halten wir eine Evaluierung der Unabhängigkeit des EuGH - was die Nominierung von Richtern und den Einfluss von bestimmten Gruppen auf die Rechtsprechung betrifft - für durchaus erstrebenswert.

Sofern nicht der Binnenmarkt betroffen ist, hat der EuGH bisher bei sozialen Fragen einen eher progressiven Ansatz vertreten. Ich erinnere hier an die Rechtsprechung zur Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern, zur Arbeitszeit und sexuellen Diskriminierung und an die EuGH-Auslegung des EU-Arbeitsrechts insgesamt.

Den Mitgliedstaaten sollte hier nicht die Möglichkeit gegeben werden, sich wahlweise Urteilen des EuGH zu widersetzen und dadurch seine Rolle zu schwächen. Vielmehr müsste der Gesetzgeber grundlegende Weichenstellungen vornehmen, um den Gerichtshof stärker steuern zu können. Die Entwicklung der EU scheint nämlich zwischen den konträren Anforderungen von Markt und Sozialem festzustecken, und der Gerichtshof verfügt über keinen klaren Auftrag, einen konstitutionellen Ansatz zu verfolgen, der ihm ermöglichen würde, angemessen zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und sozialen Grundrechten abzuwägen. Denn die kritisierten Urteile des EuGH verstoßen letztlich ja gegen Grundrechte, wie sie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf definiert.

Eine restriktive Auslegung der Europäischen Verträge durch den EuGH ist nach unserer Auffassung sowieso nicht zwangsläufig, da die Verträge eine klare soziale Dimension aufweisen, die insbesondere durch den Vertrag von Lissabon noch einmal bekräftig wird.

Wir als EGB haben uns immer dem marktliberalen Credo widersetzt, dass wirtschaftliches Wachstum automatisch zu sozialem Fortschritt führt. Insbesondere bekämpfen wir - wenn auch nicht immer erfolgreich - die Auffassung, dass die Sozialpolitik nur ein Mittel sei, die sozialen Folgen des Binnenmarktes abzufedern. Wir stimmen nicht zu, wenn es heißt, man brauche gleiche Entlohnung von Männern und Frauen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Für uns ist dies ein Ziel an sich.

Da die Unternehmen die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines immer größer werdenden Binnenmarktes nutzen können, müssen nach Ansicht des EGB auch faire Spielregeln auf europäischer Ebene gefunden werden, um die erworbenen Rechte der Arbeitnehmer zu schützen und sie europäisch weiterzuentwickeln.

Sozialpolitisch verzeichnet die Union eine deutliche Antriebsschwäche. Die Gemeinschaft wurde ursprünglich gegründet, um einen gemeinsamen Markt für den Dienstleistungs-, Waren-, Personen- und Kapitalverkehr zu schaffen. Von daher wird die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sehr oft als die wichtigste soziale Dimension der EU aufgefasst. Hier einen Übergang zu einem Modell mit einer klaren sozialen Dimension zu erreichen ist nicht leicht. Viele Jahre mussten die Arbeitnehmer und Bürger warten, ehe das soziale Kapitel des EU-Vertrages 1999 in Kraft trat, während bereits 1986 die Einheitliche Europäische Akte den schrittweisen Aufbau eines internen Binnenmarktes besiegelt hatte.

KOMPLEXER MECHANISMUS_ Die soziale Dimension in den EU-Verträgen folgt einem komplexen Mechanismus - einer komplizierten Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Und das ist eines der größten Probleme. Einige Mindeststandards für Gesundheit und Sicherheit, Information und Konsultation der Arbeitnehmer werden gemeinschaftlich entwickelt. Andere Dinge bleiben im Zuständigkeitsbereich der nationalen Gesetzgebung, wie Arbeitsentgelt, Koalitionsrecht, Streikrecht und Aussperrungsrecht (Artikel 137 EG). Über wiederum andere Bereiche muss im Ministerrat der 27 Länder von allen "einstimmig" entschieden werden - das betrifft soziale Sicherheit und sozialen Schutz der Arbeitnehmer, Kündigungsschutz und Mitbestimmung. Und nicht zuletzt wollen unsere EGB-Mitglieder die reiche Vielfalt ihrer nationalen Systeme der industriellen Beziehungen respektiert wissen.

Diese differenzierte Kompetenzaufteilung in sozialen Fragen steht in einem krassen Gegensatz zu der vermeintlichen Einfachheit der Bestimmungen zu den vier Grundfreiheiten. Hier haben die jüngsten EuGH-Urteile dem Kampf für ein soziales Europa einen schweren Schlag versetzt. Diese Urteile spiegeln ein Identitätsproblem der EU wider, das tiefer liegt als die Frage nach den akzeptablen Grenzen der Befugnisse des EuGH.


DIE FORTSCHRITTSKLAUSEL_ Um ein stärkeres Gleichgewicht zwischen den wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes und den sozialen Grundrechten herzustellen, schlägt der EGB vor, den Europäischen Verträgen eine "soziale Fortschrittsklausel" beizufügen. Ziel ist, die Beziehungen zwischen den Grundrechten und den wirtschaftlichen Freiheiten eindeutig zu klären und dies auch festzuschreiben.

Die soziale Fortschrittsklausel muss auf höchster Ebene rechtsverbindlich sein, um sicherzustellen, dass sie die Entscheidungen des EuGH auch tatsächlich beeinflusst. Nur ein Protokoll in den EU-Verträgen bietet in dieser Hinsicht ausreichende Sicherheit. Es muss bekräftigen, dass der Binnenmarkt nicht nur Selbstzweck ist, sondern auch zu sozialem Fortschritt in der EU führen soll. Es muss klarstellen, dass die wirtschaftlichen Freiheiten und Wettbewerbsbestimmungen nicht Vorrang vor den sozialen Grundrechten und dem sozialen Fortschritt haben.

Außerdem sollte die Klausel auch dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen Freiheiten nicht von den Unternehmen ausgenutzt werden, um die Vorschriften des nationalen Sozial- und Arbeitsrechts zu umgehen oder Mindestlöhne zu unterlaufen. Alles in allem muss die Soziale Fortschrittsklausel also eine klare legislative Entscheidung darstellen, den Binnenmarkt innerhalb eines sozialen Rahmens zu entwickeln, und nicht umgekehrt.

Der Vorschlag für die Soziale Fortschrittsklausel wurde vielfach als unrealistisch abgetan, denn er bedarf der einstimmigen Unterstützung aller 27 Mitgliedstaaten. Wir müssen also dafür werben. Denn der Schutz vor Diskriminierung und die Achtung der Tarifverträge sind Anliegen, die alle Arbeitnehmer und Gewerkschaften in Europa teilen, unabhängig davon, ob sie sich in den "alten" oder "neuen" Mitgliedstaaten befinden. Auch für Unternehmen gilt, dass ihr Überleben von einem fairen Wettbewerb im Binnenmarkt abhängt. Letztlich muss also das nationale Arbeitsrecht besseren Schutz bieten vor den Exzessen des Marktes.


Mehr Informationen

Der Aufsatz von John Monks wurde zuerst in einer Langfassung im Social Europe Journal auf Englisch publiziert. Das Social Europe Journal ist ein Online-Magazin der europäischen Linken, es wird von Henning Meyer vom Global Policy Institute in London herausgegeben, mehr unter www.social-europe.eu

Das Interview mit Fritz Scharpf finden Sie auf unserer Website unter www.magazin-mitbestimmung.de (Heft 7+8/2008) auf Deutsch, und auf Englisch unter www.magazin-mitbestimmung.de/english


 

 



 

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