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Magazin Mitbestimmung

Die Fragen stellten GUNTRAM DOELFS und MARGARETE HASEL.: Wie positioniert sich die IG Metall vor dem Wahlkampf?

Ausgabe 03/2017

Interview Tanja Smolenski, Leiterin der Grundsatzabteilung der IG Metall, über das gewachsene Selbstbewusstsein ihrer Gewerkschaft und warum Martin Schulz richtig liegt.  

Die Fragen stellten GUNTRAM DOELFS und MARGARETE HASEL.

Tanja Smolenski, die IG Metall spricht in ihrem Positionspapier zur Bundestagswahl  von einer „entscheidenden politischen Weichenstellung“ bei dieser Wahl. Warum diese dramatische Tonlage, wo die Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung ist?

Volkswirtschaftlich betrachtet ist die Lage gut. Aber es gibt auch Schattenseiten. Wir haben weiterhin 2,7 Millionen Arbeitslose in diesem Land. Und mehr als eine Million Menschen, die in dieser Statistik derzeit gar nicht auftauchen, weil sie entweder in Weiterbildungsmaßnahmen stecken oder aus anderen Gründen aus der Statistik fallen. Und wir dürfen auch nicht die Augen davor verschließen, dass die Ungleichheit von Einkommen, Vermögen und Teilhabe in Deutschland weiter wächst – trotz der guten Lage am Arbeitsmarkt. Das ist keine dramatische Tonlage, sondern die Erkenntnis, dass die Arbeitslosenquote allein die Situation der Menschen in diesem Land nicht ausreichend beschreibt.

Bis vor kurzem dominierten Themen wie Flüchtlingspolitik und innere Sicherheit die politische Debatte. Was ließ die IG Metall schon im vergangenen Herbst bei der Veröffentlichung des Positionspapiers glauben, dass das Thema Sozialstaat als Kampagnenthema im Bundestagswahlkampf erfolgreich sein kann?

Konkrete Themen, wie Rente oder Vereinbarkeit von Beruf und Familie, spielen für die Zufriedenheit der Menschen natürlich immer eine sehr große Rolle. Für uns ist entscheidend, dass die Forderung nach Gerechtigkeit und der Wunsch nach Zusammenhalt in unserer Gesellschaft für unsere Mitglieder sehr wichtig sind. Sie erwarten von uns, dass wir zu diesen Themen deutliche Positionen formulieren. Die große Resonanz, die der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nun mit seinen sozialpolitischen Forderungen erhält, zeigt, dass auch außerhalb der IG Metall erkannt wird, wie wichtig soziale Themen für die Menschen sind.

Die Nominierung von Martin Schulz hat die politische Stimmung gedreht?

Der Erfolg von Martin Schulz liegt vor allem darin begründet, dass er die Menschen ernst nimmt und ihre Sorgen und Probleme auf die politische Agenda setzt. Vielleicht ist es genau das, was vorher zu kurz gekommen ist. Aber Stimmungen anzusprechen ist eines, konkrete Forderungen aufzustellen und dann auch umzusetzen ein anderes.

Mit ihrem Sozialstaatskongress im Oktober 2016 hat sich die IG Metall deutlich politisch positioniert. Spiegelt das auch das gewachsene Selbstvertrauen einer Gewerkschaft wider, deren Mitgliederzahl wieder wächst?

Ja, keine Frage. Unser Selbstvertrauen resultiert wesentlich aus unserer Mitgliederstärke, aber nicht nur. Durch die Entwicklungen von Outsourcing und Werkverträgen sehen wir wieder ganz klar, wie wichtig Tarifverträge für gute Arbeit sind. Und dass wir es sind, die diese machen und viel bewirken können. Das ist nicht neu, aber essenziell in einer Situation, in der es darum geht zu entscheiden, wie wir die großen Herausforderungen der Digitalisierung angehen wollen. Allein oder zusammen? Das macht Gewerkschaft aus.

Derzeit stellt die IG Metall mit einer großen Beschäftigtenbefragung das Thema Arbeitszeit wieder stärker ins Zentrum der Debatte um den Sozialstaat. Warum?

Zeit ist Geld – und damit ein zentrales Verteilungsthema. Wir haben eine Milliarde unbezahlter Überstunden pro Jahr. Das kostet die Beschäftigten richtig Geld und sorgt für eine Umverteilung zugunsten der Arbeitgeber oder der Profite. Diesen Trend wollen wir umdrehen. Das Thema Arbeitszeit hat aber noch weitere Facetten. Es geht hier nicht nur um materielle Fragen, sondern auch um die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Gerade die Arbeitgeber fordern immer wieder mehr Flexibilität von den Beschäftigten. Aber Flexibilität ist keine Einbahnstraße für die Arbeitgeber.

Wollen Sie für die Beschäftigten mehr Zeitsouveränität?

Ja, besonders wenn wir bestimmte Lebensphasen betrachten. Außerdem brauchen wir in Zukunft eine bessere sozialpolitische Flankierung von Erwerbsbiografien. Wie kann Arbeit über den gesamten Erwerbsverlauf hin in ganz unterschiedlichen Situationen abgesichert werden? Das müssen wir komplett neu denken. Wir brauchen eine neue Form von Normalarbeitsverhältnis, das auch Phasen mit reduzierter Arbeitszeit ermöglicht, aber – das ist entscheidend – mit gemeinsamer solidarischer Absicherung.

Die IG Metall entwirft in ihrem Positionspapier einen Gesellschaftsvertrag, der die rasanten Veränderungen durch Digitalisierung, Globalisierung und Industrie 4.0 für Beschäftigte „sicher“, „gerecht“ und „selbstbestimmt“ begleiten soll. Was unterscheidet diesen Staat vom behütenden Fürsorgestaat alter Prägung?

Wir setzen nicht auf eine Lösung von „oben“, sondern auf die Selbstbestimmung der Beschäftigten, auf eine Vielfalt der Lebensentwürfe und -verläufe. Im Gegensatz zum Sozialstaat alter Prägung, der stark auf das alte Modell – Ausbildung plus lebenslange Vollzeiterwerbstätigkeit ist gleich Erwerbsleben – ausgerichtet war, geht es uns um Teilhabe für alle – auch für diejenigen, die keine geradlinigen Erwerbsbiografien vorweisen können. Unsere Idee von Sozialstaat bedeutet auch, dass dieser präventiv agiert und investiert. Wir wollen mehr Chancengleichheit durch mehr Aus- und Weiterbildung, aber auch den Ausbau von unterstützender gesellschaftlicher Infrastruktur, etwa in den Bereichen Schule, Bildung, Kinderbetreuung oder Gesundheitsvorsorge.

Kritiker sprechen bereits von einem gewerkschaftlichen Wunschkonzert, das Menschen in einen Wohlfühlkokon einhüllen soll.

Wir wollen niemanden in Watte packen, aber wir wollen jedem die Möglichkeit schaffen, gut und vor allem ohne Angst durch das Arbeitsleben zu kommen. Es wird in den nächsten Jahren zu einem grundlegenden wirtschaftlichen Transformationsprozess kommen. Der hängt auch von Faktoren ab, die wir als Gewerkschaft zunächst gar nicht in der Hand haben. Aber entscheidend ist: Wir können und wir werden diesen Transformationsprozess gestalten. Und zwar im Sinne der Beschäftigten.

Müssen sich auch die Gewerkschaften ändern? 

Ja, wir müssen noch stärker versuchen, unsere Mitglieder zu beteiligen. Was wollen sie eigentlich? Was ist ihnen wichtig? Wollen alle überhaupt das Gleiche? Auch dafür erwarten wir von der Beschäftigtenbefragung entscheidende Aufschlüsse. Wir fragen ganz konkret nach, wie es in den Betrieben mit der Arbeitszeit aussieht. Vieles wissen wir nicht.

Ein heikles Eingeständnis …

Absolut, aber anders geht es nicht. Die Belegschaften sind wahnsinnig vielfältig geworden. Außerdem müssen wir in der IG Metall stärker aufmerksam werden, was in der Gesetzgebung passiert. Wir müssen unsere Themen stärker in die Politik reintragen. Ein Beispiel: In den Wahlprogrammen der Parteien finden sich Entwürfe über ein Wahlarbeitszeitgesetz. Also müssen wir klar und deutlich sagen: Moment mal, die Arbeitszeit regeln wir, aber der Gesetzgeber kann das sinnvoll unterfüttern. Die Einführung des Mindestlohns zeigt ja, dass es durchaus Bereiche gibt, wo es sinnvoll ist, wenn der Gesetzgeber regelnd eingreift.

Soziale Fehlentwicklungen werden in der Gesellschaft durchaus wahrgenommen. Der Zulauf zu populistischen Vereinfachern, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern, gilt als eine der Folgen. Kann die Forderung nach mehr Sozialstaat diesen Trend brechen?

Nicht von heute auf morgen, aber grundsätzlich schon. Wir propagieren nicht nur den Anspruch auf soziale Sicherheit, sondern handeln konkret im Betrieb, durch Tarifpolitik und mischen uns in die Gesetzgebung ein. Für mich ist das der richtige Weg. Der große Vorteil liegt in unserem Ansatz des Mitgestaltens. Wir können im Betrieb mit Beschäftigten in den Dialog treten, die vielleicht große Zweifel an diesem Gesellschaftsmodell haben und dazu tendieren, Parteien zu wählen, die einfache Antworten anbieten. Wir können im direkten Gespräch ihre Sorgen aufnehmen und alternative Antworten anbieten. Diese Stärke müssen wir hervorheben.

Was lässt die IG Metall hoffen, damit den Populisten von der AfD das Wasser abzugraben?

Im Umgang mit der AfD müssen wir mehrere Handlungsebenen unterscheiden: Erstens grenzen wir uns klar von den reaktionären und fremdenfeindlichen Positionen dieser Partei ab. Vor allem aber werben wir positiv für unsere eigenen Positionen – bei allen Beschäftigten. Wir setzen auf solidarisches Handeln, eine solidarische Politik für alle. Die AfD will den wirtschaftlichen und sozialen Wandel aufhalten und überall Mauern hochziehen. Das sehen wir anders. Als Gewerkschaft können wir nicht die Augen verschließen vor den Veränderungen. Viel besser ist es, wenn wir uns in diesen Prozess einmischen und diesen im Sinne der Menschen mitgestalten. Und hier müssen wir auch immer den Dialog mit den Beschäftigten suchen, auch mit denen, die vielleicht heute Sympathie für die Positionen der AfD haben.

Wann wäre für die IG Metall die eigene Bundestagswahlkampagne ein Erfolg?

Wenn der nächste Koalitionsvertrag Ansätze für eine neue Arbeitsmarktpolitik enthält, die den Beschäftigten mehr Sicherheit und Unterstützung in der Arbeitswelt gibt. Positiv wären Ansprüche auf Arbeitszeitmodelle, die ein selbstbestimmteres Leben ermöglichen, eine Stärkung der Tarifbindung und Mitbestimmung – und dass endlich das Rentenbeitragsdogma begraben wird.

ZUR PERSON

Tanja Smolenski, 43, leitet seit 2015 den Fachbereich Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik beim IG-Metall-Vorstand. Die Grundsatzabteilung residiert nicht in der Frankfurter Hauptverwaltung, sondern im Berlin-Büro der Gewerkschaft. Die gebürtige Braunschweigerin hat Volkswirtschaftslehre und Soziologie in Berlin, Krakau und Manchester studiert. Im Jahr 2002 wechselte sie ins Berliner Büro der IG Metall. Smolenski ist Mitglied im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung.

Fotos: Anna Weise

 

DIE BESCHÄFTIGTENBEFRAGUNG DER IG METALL

Im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 hat die IG Metall im Januar eine deutschlandweite Beschäftigtenbefragung in rund 13 700 Betrieben gestartet. Mit der Umfrage, die im März endet, will die Gewerkschaft herausfinden, wo die Beschäftigten derzeit in Fragen der Arbeitszeit und auch hinsichtlich der allgemeinen politischen Situation der Schuh drückt. Praktische Erfahrungen bei Schichtarbeit, zu Überstunden, mobiler Arbeit oder auch zu der Möglichkeit, die Arbeitszeit zeitweise reduzieren zu können, stehen im Mittelpunkt der Befragung. Außerdem wurden die Beschäftigten gefragt, wie sie die Ideen der IG Metall zur Fortentwicklung des Sozialstaates einschätzen. An der Befragung beteiligten sich nach Angaben von Smolenski mehr Beschäftigte als bei der vergleichbaren Befragung 2013. Damals waren es mehr als 500 000 Menschen. Was auch 2017 auffällt: Mehr als die Hälfte der zurückgesendeten Fragebögen stammt von Beschäftigten, die keiner Gewerkschaft angehören. Derzeit läuft die Auswertung der Daten, erste Ergebnisse will die Gewerkschaft kurz vor dem 1. Mai vorstellen – und damit ihre Kampagne zur Bundestagswahl einläuten.

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