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Magazin Mitbestimmung

: Wenn es ernst wird im Eurobetriebsrat

Ausgabe 03/2005

Obwohl die meisten Stellen bei General Motors Europe in den deutschen Opel-Werken abgebaut werden, reagierte insbesondere die Saab-Belegschaft im schwedischen Trollhättan eher verhalten auf eine erste Vereinbarung zwischen GM-Eurobetriebsrat und GM-Management. Warum?

Von Martin Bartmann
Der Autor promoviert an der TU Kaiserslautern mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema "Arbeitsbeziehungen in der Automobilindustrie im schwedisch-deutschen Vergleich".

In Deutschland wie in Schweden ist die Automobilindustrie eine wichtige Größe auf dem Arbeitsmarkt. Beide Länder weisen im europäischen Vergleich den größten "Automobilanteil" unter den in der Produktion beschäftigten Arbeitnehmern aus. Insbesondere bei den Produktionsarbeitern fallen aber auch erhebliche Unterschiede ins Auge.

In Schweden sind hohe Fluktuationsraten von bis zu 20 Prozent in diesem Bereich auch in Jahren ohne Entlassungen nicht ungewöhnlich. Die Arbeitnehmer, so interpretieren die schwedischen Gewerkschaften diesen Trend, verstehen die Beschäftigung in der Automobilproduktion zunehmend als temporären Abschnitt im Arbeitsleben, etwa unmittelbar nach dem Schulabschluss, aber immer weniger als (arbeits-)lebenslange Perspektive.

Vorzüge eines funktionierenden Arbeitsmarktes

Signifikante Unterschiede zwischen den Ländern gibt es auch bei der Arbeitslosenquote, die in Schweden mit derzeit rund fünf Prozent nur halb so hoch ist wie in Deutschland. Auch das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit ist weniger virulent als in Deutschland. Aktive Arbeitsmarktpolitik spielt in Schweden traditionell eine große Rolle, und das "Vollbeschäftigungsideal" genießt hohe Priorität. So blieben auch die extremen Friktionen in den 90er Jahren mit kurzzeitigen Arbeitslosenraten auf deutschem Niveau eine Ausnahmeerscheinung. Der schwedische Arbeitsmarkt insgesamt ist flexibler als der deutsche - davon profitieren auch die Arbeitnehmer. Arbeitsplatz- und auch Branchenwechsel sind üblicher als in Deutschland.

Das Arbeitslosengeld beträgt in Schweden in der Regel bis zu einem Einkommen von gut 2000 Euro 80 Prozent des letzten Nettolohns - und liegt damit erheblich höher als die 60 bzw. 67 Prozent in Deutschland. Eine geringe Rolle spielen in Schweden Abfindungen - nicht zuletzt weil sie stärker und unmittelbar auf die Arbeitslosenunterstützung angerechnet werden. Betriebsbedingte Kündigungen sind für schwedische Automobilunternehmen einfacher und in der Regel auch kostengünstiger durchzusetzen als in Deutschland.

Allerdings sind die Unternehmen verpflichtet, Stellenabbaupläne gegenüber den Gewerkschaftsklubs - dem Pendant zu den deutschen Betriebsräten - und der Arbeitsverwaltung frühzeitig anzuzeigen, je nach Größenordnung bis zu einem Jahr im Voraus. Qualifizierungs- und Vermittlungsprogramme werden zwischen Unternehmen, Gewerkschaftsklubs und Arbeitsverwaltung ausgehandelt und greifen normalerweise bereits vor den Entlassungen. Die Unternehmen müssen diese Programme zum Teil finanzieren und/oder die betroffenen Arbeitnehmer für die Maßnahmen freistellen.

Auch bei den Arbeitskosten, die in der Standortdiskussion immer wieder eine Rolle spielen, punktet Schweden im deutsch-schwedischen Vergleich mit erheblich niedrigeren Kosten pro Produktionsarbeiterstunde - bei ähnlichen Nettolöhnen. Hier kommt die stärkere Steuerfinanzierung des schwedischen Wohlfahrtsstaates zum Tragen.

Personalabbau - bislang kein schwedisches Drama

Vor diesem Hintergrund setzen die schwedischen Gewerkschaften auf einen funktionierenden Arbeitsmarkt, der die Beschäftigungschancen der Arbeitnehmer gewährleisten soll. Mit ihm steht und fällt ihre in diesem Sinne makroökonomisch ausgerichtete Strategie. Phasen von idealerweise kurzfristiger Arbeitslosigkeit werden auf hohem Niveau abgefedert. Absatzmarkt-, also betriebsbedingte Kündigungen werden im Grundsatz akzeptiert. Die Notwendigkeit von Personalabbau im Einzelfall ist selbstverständlich zwischen Management und Arbeitnehmervertretern immer wieder umstritten, Verhandlungen über diesen Punkt sind der Regelfall. Die schwedischen Gewerkschaftsklubs haben hierbei einen ähnlich umfassenden Zugang zu Informationen über die Lage der Unternehmen wie ihre deutschen Kollegen.

Die erwähnte hohe Fluktuationsrate bei den Produktionsarbeitern erleichtert Arbeitsplatzabbau und verringert das Konfliktpotenzial zwischen Arbeitnehmervertretung und den Beschäftigten. Dieser "Puffereffekt" verliert bei massivem Arbeitsplatzabbau oder gar Werksschließungen allerdings an Wirkung und existiert im Übrigen auch nicht beim Abbau von Angestellten- und Akademikerarbeitsplätzen.

Arbeitszeitflexibilisierungen analog zu den deutschen Zeitkontenregelungen werden auch in Schweden als Puffer eingesetzt, Arbeitszeitverkürzungsmodelle wie bei VW oder Opel spielen jedoch keine Rolle. Frühpensionierungen wurden von den schwedischen Gewerkschaften im Automobilsektor nie in dem Ausmaß wie in Deutschland favorisiert. Die Möglichkeiten wurden auch seitens des Staates erheblich früher wieder eingeschränkt als hierzulande.

"Zwei-Dämme-Strategie" bei Opel

Dagegen sind die von den Arbeitnehmervertretungen in der deutschen Automobilindustrie eingeschlagenen Wege stärker unternehmensfixiert. Die weit verbreiteten Standortsicherungsverträge, die Arbeitsplatzabbau durch Umverteilung von Arbeit innerhalb der Unternehmen zu verhindern suchen, unterstreichen dies. Temporäre Absatzprobleme von Unternehmen können so abgefangen werden - massive Absatzeinbrüche und dauerhafte Überkapazitäten hingegen nicht. Deswegen haben die Arbeitnehmervertreter weitere Instrumente entwickelt, denn betriebsbedingte Kündigungen unter Rückgriff auf die gesetzlichen Regelungen zur Sozialauswahl und zur Aufstellung eines Sozialplans gelten als letztes Mittel und sollen nach Kräften verhindert werden. Abfindungsangebote und/oder Beschäftigungsgesellschaften werden deshalb als Alternativen favorisiert.

Auch bei Opel wurde dieser Weg eingeschlagen. Klaus Franz, der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrates von Opel, spricht von einer Zwei-Dämme-Strategie: Den ersten Damm bilden die Beschäftigungssicherungspakte, die mit Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung wie der "30-Stunden-Plus"-Regelung bei Opel und auch mit Insourcing-Strategien Arbeitsplatzabbau verhindern sollen. Bricht dieser Damm aufgrund der Marktlage, stellen Abfindungsprogramme und Beschäftigungsgesellschaften den zweiten Damm vor der gesetzlichen Regelung dar.

Diese Beschäftigungsgesellschaften können durchaus als Äquivalent zu den Qualifizierungsprogrammen gelten, die in Schweden in der Regel schon vor der Entlassung greifen. Für die Unternehmen hingegen sind die "nachgelagerten" Beschäftigungsgesellschaften tendenziell günstiger, da durch die Zahlung von Transferkurzarbeitergeld durch die Bundesagentur für Arbeit erhebliche Mittel aus dem Sozialsystem eingesetzt werden.

Diese aktuell vom Opel-Betriebsrat ausgehandelten Abfindungsregelungen machen deutlich, dass Arbeitsplatzabbau in Deutschland, trotz des sozialstaatlichen Inputs in die Beschäftigungsgesellschaften, für die Unternehmen kostenträchtiger ist als in Schweden. Dies würde, um im Bild zu bleiben, auch beim Bruch des zweiten Damms und dem Greifen der gesetzlichen Regelung gelten.

Irritationen in Rüsselsheim und Trollhättan

Schwedische Gewerkschafter monieren deshalb die durch deutsche (und andere kontinentaleuropäische) Beschäftigungssicherungspakte und hohe rechtliche und finanzielle Hürden für Arbeitsplatzabbau hervorgerufene unfaire Wettbewerbssituation im konzerninternen Standortwettbewerb. Diese Hürden können nämlich dazu führen, dass es für die Unternehmen jenseits von Qualitäts- und Kostenargumenten kostengünstiger und mit weniger Konflikten behaftet ist, Produktions- und Beschäftigungskapazitäten in Schweden abzubauen.

Dies träfe insbesondere Saab hart. Zwar liegt die offizielle Arbeitslosenrate in der Region Trollhättan derzeit ungefähr im schwedischen Durchschnitt, die Aufnahmefähigkeit des regionalen Arbeitsmarktes bei weiterem massivem Stellenabbau bei Saab ist aber begrenzt. Damit ist ein wichtiger Baustein der schwedischen Strategie in der Region Trollhättan zumindest mittelfristig in Frage gestellt. Darüber hinaus wird die Verlagerung der wichtigsten Saab-Baureihe an einen nicht-schwedischen Standort auch als Bedrohung für die Identität und das Überleben der Marke Saab gesehen.

Irritationen in Deutschland hingegen hat die offensive Haltung der schwedischen Regierung im Standortwettbewerb zwischen Rüsselsheim und Trollhättan - mit Zusagen für Infrastrukturförderung und intensiven Gesprächen von Regierungsvertretern mit dem GM-Management - ausgelöst. Diese Vorstöße wurden von deutscher Seite teilweise als unlauter interpretiert. Sie können allerdings auch als Rückgriff auf die tripartistische Traditionslinie der schwedischen Arbeitsbeziehungen gesehen werden - und somit als ein Indiz für die relativ starke Fokussierung der schwedischen Gewerkschaften auf die nationalen Aushandlungsmechanismen.

Europaweiter GM-Aktionstag an allen Standorten

Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und gewerkschaftlichen Strategien und die sich daraus ergebenden Konflikte erschweren die transnationale Koordination von Interessenvertretung. Sie ist aber unabdingbar, wenn die Arbeitnehmer den Strategien der Konzernleitungen, die Standorte gegeneinander auszuspielen und eine nach unten führende Konzessionsspirale anzustoßen, nicht weitgehend hilf- und machtlos gegenüberstehen wollen. Man sollte sich allerdings davor hüten, jedes Koordinierungsproblem und jeden Konflikt in der Standortkonkurrenz auf nationale Unterschiede zurückzuführen.

Auch zwischen Standorten in einem Land existieren unterschiedliche Interessen und Strategien - wie das Beispiel Opel jüngst gezeigt hat. Und auch hier ist eine koordinierte Strategie der Arbeitnehmervertretungen kein Selbstläufer. Im transnationalen Kontext ist die Herausforderung allerdings ungleich größer, und die Mechanismen sind noch in der Etablierungsphase.

Bei GM Europa hat sich das 1996 gegründete "Europäische GM Arbeitnehmerforum" - so nennt sich der Eurobetriebsrat (EBR) - als Koordinierungsorgan etabliert und über die in der Eurobetriebsrats-Richtlinie vorgesehenen Informationsrechte hinaus als Verhandlungspartner für die Unternehmensleitung durchgesetzt. Die Position der schwedischen Vertreter im EBR charakterisiert dessen Vorsitzender Klaus Franz als relativ zurückhaltend. Die Schweden wiederum sahen den EBR ihrerseits teilweise als verlängerten Arm der deutschen Interessen. Inzwischen allerdings zeichnet sich eine stärkere Koordinierung auch mit den Schweden ab.

So haben sich am europaweiten GM-Aktionstag im Oktober 2004 auch die Kollegen in Trollhättan beteiligt. Darüber hinaus ist es dem EBR gelungen, Absprachen über die zulässigen Mittel in der Standortkonkurrenz zwischen Rüsselsheim und Trollhättan zu treffen. So wurde vereinbart, das nationale Flächentarifniveau als unterste Konzessionsgrenze zu definieren. Position des EBR ist weiterhin, dass der Standort, der nicht den Zuschlag für den Bau der Mittelklasse (Opel Vectra und Saab 9-3) erhält, nicht gänzlich in Frage gestellt werden darf.

Kurz- und mittelfristig ist nicht mit einem Verschwinden der unterschiedlichen nationalen Bedingungen und Strategien zu rechnen, und manche relevante Stellgröße liegt auch nicht im Einflussbereich der jeweiligen Arbeitnehmervertretung. Weder können die deutschen Betriebsräte unmittelbar gegen die hohe Arbeitslosenrate steuern, noch können ihre schwedischen Kollegen die Anrechnungspraxis von Abfindungszahlungen auf die Arbeitslosenunterstützung direkt ändern. Diesem immer wieder mühsam auszuhandelnden Ausgleich der nationalen Interessen müssen sich die Arbeitnehmervertretungen stellen.

Die Entwicklung bei GM Europa

- Anfang Oktober 2004 kündigt GM Europa ein weiteres hartes Sanierungsprogramm mit dem Abbau von 12000 Arbeitsplätzen an den europäischen Standorten an.
- Im Werk Bochum stoppt die Belegschaft die Produktion für insgesamt sechs Tage. Der Produktionsstopp wird als Informationsveranstaltung deklariert. Aufgrund von ausbleibenden Zulieferungen aus Bochum muss auch in anderen Werken die Produktion eingestellt werden.
- Am 17. Oktober findet ein europaweiter GM-Aktionstag statt. Es beteiligen sich Zehntausende Arbeitnehmer in Belgien, Deutschland, Großbritannien, Polen, Schweden und Spanien.
- Am 8. Dezember einigen sich das GME-Management und der EBR auf eine europäische Rahmenvereinbarung zum Sanierungsprogramm. 12000 Arbeitsplätze sollen abgebaut werden, davon 9500 in Deutschland. Teil der Rahmenvereinbarung ist ein Abkommen über den Abbau in Deutschland. Betriebsbedingte Kündigungen sollen durch Altersteilzeitregelungen, Outsourcing von Unternehmensteilen, Abfindungsprogramme und Beschäftigungsgesellschaften vermieden werden. Das Management gibt keine Standortgarantien.
- Ende Januar 2005 wird die Frist für den freiwilligen Wechsel von Arbeitnehmern in Beschäftigungsgesellschaften und für die Abfindungsprogramme bis zum 25. Februar verlängert.
- Mitte Februar wird die Bekanntgabe der Entscheidung über den zukünftigen Produktionsstandort der Mittelklasse (Vectra, Saab 9.3) verschoben. Gerüchte über die drohende Schließung des Saab-Werkes in Trollhättan bzw. über die Zukunft von Saab im GM-Verbund werden in der deutschen und schwedischen Presse verbreitet.

Internettipps

Arbetslivsinstitutet - Nationales schwedisches Forschungsinstitut zum Themenkomplex Arbeit. Auf der Webseite gibt es auch englische Veröffentlichungen des Instituts zum Thema Arbeitsbeziehungen: www.arbetslivsinstitutet.se/en/
EIRO - European Industrial Relations Observatory - Informationsdatenbank zu europäischen Arbeitsbeziehungen: www.eiro.eurofound.eu.int/
EMIRE - European Employment and Industrial Relations Glossary - Nach Ländern sortiertes Glossar zu Begriffen der Arbeitsbeziehungen: www.eurofound.eu.int/emire/emire.html
Schwedische Arbeitsgesetze in Englisch zum Download: www.sweden.gov.se/sb/d/3288/a/19565

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