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Magazin Mitbestimmung

Verschwiegenheitspflicht: Weil der Aufsichtsrat kein Geheimrat ist

Ausgabe 11/2014

Aufsichtsratsmitglieder unterliegen einer umfassenden Verschwiegenheitspflicht. Wenn sie sich trotzdem gegenüber Betriebsrat, Belegschaft oder gar der breiten Öffentlichkeit äußern wollen, müssen sie vorsichtig sein – und kreativ. Von Joachim F. Tornau

Geht es nach den Buchstaben des Gesetzes, dann brauchen Aufsichtsratsmitglieder vor allem eine Stärke: Sie müssen schweigen können. Dürfen keine Betriebsgeheimnisse ausplaudern, keine vertraulichen Informationen preisgeben. Sonst droht nicht nur der Verlust von Mandat und Arbeitsplatz, sondern auch Schadenersatzforderung oder gar Strafverfolgung. Geht es dagegen nach Klaus Franz, dann braucht, wer für die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat eines Unternehmens sitzt, ganz andere Qualitäten: „Eine der wichtigsten Kompetenzen ist die kommunikative“, sagt der 62-Jährige. Gewonnene Erkenntnisse müsse man für die Beschäftigtenvertretung nutzen – und auch weitergeben. „Wer das nicht tut, ist Geheimrat statt Aufsichtsrat.“ 

Klaus Franz weiß, wovon er spricht. Bis Ende 2011 war er der oberste Arbeitnehmervertreter bei Opel und General Motors Europe,­ führte den Gesamtbetriebsrat und die europäische Beschäftigtenvertretung an und fungierte als stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats. Und: Er schwieg nicht. Im Gegenteil: Als der Rüsselsheimer Autobauer nach der Jahrtausendwende von Krise zu Krise stolperte und sich immer neue Manager die Klinke in die Hand gaben, war kein Opelaner so medienpräsent wie er. Er trommelte für die – letztlich gescheiterte – Trennung vom US-amerikanischen Mutterkonzern, warb bei der Bundesregierung um staatliche Beihilfen und nahm auch in der Öffentlichkeit nie ein Blatt vor den Mund. Nicht zu Unrecht wurde ihm deshalb das Etikett „Mr. Opel“ angeheftet. 

VERTRAULICHKEIT MACHT SINN

Doch wie verträgt sich das mit der Verschwiegenheitspflicht, der Klaus Franz als Vize-Aufsichtsratschef unterlag? Zunächst einmal: Es ist nicht pauschal alles geheim, was bei einer Aufsichtsratssitzung besprochen wird. „Was vertraulich ist und was nicht, ist immer eine Einzelfallentscheidung“, erklärt Lasse Pütz, Wirtschaftsrechtler der Hans-Böckler-Stiftung. Und diese Entscheidung treffe nicht der Vorstand oder der Aufsichtsratsvorsitzende nach eigenem Gutdünken. Vielmehr müsse das Unternehmen ein objektives und überprüfbares Interesse an der Geheimhaltung haben. Das heißt: Es muss um Informationen gehen, deren Weitergabe dem Unternehmen schaden könnte und die bis dato nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt sind. Oder es muss sich – bei börsennotierten Unternehmen – um Insiderinformationen handeln. „Was schon in der Zeitung stand, kann aber nicht mehr als vertraulich gelten“, sagt Pütz.

Konkret heißt das: Über technische Entwicklungen, Kundenlisten, bevorstehende Akquisitionen, geplante feindliche Übernahmen oder Personalentscheidungen zu reden ist in der Regel tabu. Und auch beim Berichten über eine Aufsichtsratssitzung ist Vorsicht geboten: Weil die Beratungen vertraulich sind, dürfen Diskussionen nicht im Detail wiedergegeben werden. Das eigene Abstimmungsverhalten – oder das der Arbeitnehmerbank insgesamt – zu offenbaren und zu begründen ist okay. Über die Haltung anderer Aufsichtsratsmitglieder zu sprechen nicht. 

Ein Maulkorb? Nein, sinnvoll, meint Pütz. „Die Vertraulichkeit ist ein enorm wichtiges Gut.“ Ohne sie würden Aufsichtsräte nicht mehr so gut informiert und eine offene Aussprache verhindert. „Deshalb halte ich auch nichts von öffentlichen Aufsichtsratssitzungen, wie das für kommunale Unternehmen mal vorgeschlagen war“, sagt der Experte der Hans-Böckler-Stiftung. „Dann gäbe es nur noch Schaukämpfe.“ Der Haken: Die Verschwiegenheitspflicht ist sehr umfassend. Nicht nur gegenüber Presse, Funk und Fernsehen gilt sie, sondern auch gegenüber der Belegschaft. Und selbst Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss darf Vertrauliches nicht verraten werden – obwohl gerade die betriebliche Arbeitnehmervertretung auf frühzeitige Information angewiesen ist, um rechtzeitig eigene Strategien oder Gegenmaßnahmen entwickeln zu können.

WIRTSCHAFTSAUSSCHUSS ALS PFUND

Was tun? „Man muss sich Wege suchen“, erklärt Pütz. „Der Wirtschaftsausschuss spielt da eine wichtige Rolle.“ Denn diesem Gremium, das in Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten der Unterrichtung des Betriebsrats über wirtschaftliche Fragen dient, muss der Vorstand Auskunft geben – und Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Hat nun beispielsweise ein Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren, dass ein Standort des Unternehmens vor dem Aus steht, kann er als Mitglied des Wirtschaftsausschusses in aller Unschuld fragen: „Sagen Sie mal, sind eigentlich gerade Werksschließungen geplant?“ Und was die Unternehmensführung dann berichtet, kann fortan nicht mehr unter die Verschwiegenheitspflicht gegenüber dem Betriebsrat fallen. „Auch aus diesem Grund“, sagt der Wirtschaftsrechtler, „ist es sinnvoll, dass Betriebsräte im Aufsichtsrat sitzen.“

Klaus Franz sieht das ähnlich. Er habe seine Tätigkeit in den verschiedenen Mitbestimmungsorganen immer „cross-funktional“ verstanden, betont der ehemalige „Mr. Opel“. „Ich habe keinen Unterschied gemacht, welchen Hut ich gerade aufhatte.“ Auch nicht, wenn er sich an die Beschäftigten oder an die Öffentlichkeit wandte: „Die hat es nie interessiert, ob ich gerade als Aufsichtsrat, als Betriebsrat oder als europäischer Arbeitnehmervertreter spreche.“ Das Unternehmen allerdings interessierte das sehr wohl: Ganze Detektivbüros, erzählt Franz, habe ihm General Motors auf den Hals gehetzt, um die verbotene Weitergabe brisanter Informationen nachzuweisen. Vergeblich. Wie sich erwies, waren so viele Leute im Unternehmen an der Vorbereitung einer Aufsichtsratssitzung beteiligt, dass man die Indiskretion nicht einfach der Arbeitnehmerseite in die Schuhe schieben konnte.

Wenn Klaus Franz von seinen langjährigen Erfahrungen berichtet, erschließt sich schnell, warum er Kommunikationsfähigkeit für eine der wesentlichen Kompetenzen eines Aufsichtsrats hält: Es braucht Kreativität und Fantasie, wenn man Informationen weitergeben will, ohne die Grenzen des Erlaubten zu überschreiten. Als Beispiel bemüht auch Franz die geplante Werksschließung: „Im Betriebsrat rede ich dann nur von Veränderungen des Markts, von Überkapazitäten und von einer drohenden Reaktion des Managements.“ Den Rest könnten sich die Kollegen dann selbst zusammenreimen.

TRUMPFKARTE ÖFFENTLICHKEIT

Und auch die Trumpfkarte der medialen Öffentlichkeit lasse sich, aller Verschwiegenheitspflicht zum Trotz, durchaus spielen: „General Motors hat einmal einen möglichen Vorstandsvorsitzenden ins Gespräch gebracht, den wir nicht akzeptiert haben“, erzählt Franz. Also habe man der Gegenseite klargemacht: Ihr könnt uns überstimmen, aber dann dreht der Streit eine dreiwöchige Ehrenrunde durch den Vermittlungsausschuss – und es ist nie auszuschließen, dass währenddessen etwas an die Presse durchsickert. Damit sei das Thema vom Tisch gewesen. „Alternativ hätten wir aber auch ganz in die Offensive gehen und öffentlich einen eigenen Personalvorschlag machen können“, sagt das IG-Metall-Mitglied. „Es gibt vielfältigste Mittel.“ 

Böckler-Experte Lasse Pütz rät zur Vorsicht: Die Rechtsprechung in puncto Verschwiegenheitspflicht sei sehr streng, warnt er. „Sich als Aufsichtsratsmitglied an die Presse zu wenden, kann ich ehrlicherweise nur bei vorheriger rechtlicher Beratung empfehlen.“ Klaus Franz indes beherrschte das Spiel mit der Öffentlichkeit wie kaum ein Zweiter in seiner Funktion – und hat deshalb keine Bedenken, es weiterzuempfehlen: „Eine gut lancierte Pressekampagne“, findet er, „ist oftmals erheblich wirkungsvoller als eine dreistündige Arbeitsniederlegung.“ 

PFLICHT DER INTERESSENVERTRETUNG

Zu den Aufsichtsräten, die vor öffentlichen Stellungnahmen nicht zurückscheuen, gehört auch Johann Rösch. Der ver.di-Einzelhandelsexperte sitzt seit 2011 als Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat der angeschlagenen Warenhauskette Karstadt – und hat die halbherzigen Sanierungsversuche von Investor Nicolas Berggruen, der im Sommer nach vier Jahren aufgab, stets kritisch begleitet. Auch in Interviews. 

Für den 61-Jährigen war und ist der Gang an die Öffentlichkeit jedoch weniger strategisches Instrument als „Notwendigkeit“, wie er sagt. „Wenn Planungen oder Entscheidungen Auswirkungen auf die Arbeitsplätze oder das Einkommen der Kolleginnen und Kollegen haben, dann halte ich eine öffentliche Positionierung für angezeigt.“ Denn den lapidaren Pressemitteilungen, mit denen Unternehmen Aufsichtsratsbeschlüsse mitzuteilen pflegen, lasse sich zumeist nicht entnehmen, dass eine Entscheidung gegen die Stimmen der Arbeitnehmerbank zustande gekommen ist. „Dann halte ich eine Bewertung aus unserer Sicht für notwendig“, sagt Rösch.

Sich gegenüber Belegschaft oder Betriebsrat in Schweigen zu hüllen kommt für den Gewerkschafter erst recht nicht infrage. „Im Gegensatz zu den Kapitalvertretern werden die Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat von den Beschäftigten gewählt“, erklärt er. „Daraus ergibt sich aus meiner Sicht eine besondere Verpflichtung der Interessenvertretung.“ Natürlich verrate er auch hier nichts über interne Diskussionen und Beratungen des Aufsichtsrats. Sondern spreche nur über Tatsachen, die die Interessen der Beschäftigten unmittelbar betreffen. Doch davon gebe es genug – etwa wenn es um die strategische Ausrichtung geht, um geplant Ausgliederungen oder zu geringe Investitionen. „Für Fehlleistungen des Managements haben nach meiner Erfahrung immer die Beschäftigten die Zeche gezahlt, nicht selten durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes“, sagt der Karstadt-Aufsichtsrat. Daher sei es unerlässlich, die Kollegen über drohende Fehlentwicklungen zu informieren. Und sich gemeinsam dagegen zu wehren.

MEHR INFORMATIONEN

Roland Köstler: VERSCHWIEGENHEITSPFLICHT. Hinweise zum praktischen Umgang. Arbeitshilfen für Aufsichtsräte, Heft 5. Düsseldorf, Hans-Böckler-Stiftung, 3. überarbeitete Auflage 2010. 35 Seiten. 

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