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Magazin Mitbestimmung

Von ANNETTE JENSEN: Was Arbeitnehmer wollen

Ausgabe 08/2017

Thema Vielfach ist Freizeit zur Manövriermasse geworden, dabei steht mehr freie Zeit ganz oben in der Prioritätenliste der Arbeitnehmer – dies ein Ergebnis der Beschäftigtenbefragung 2017 der IG Metall. Sozialpolitisch gibt sie klare Signale an eine künftige Regierung.

Von ANNETTE JENSEN

Die Zahl ist beachtlich: 681.241 Beschäftigte haben sich eine halbe Stunde lang Zeit genommen, um Fragen der IG Metall zu beantworten – 170.000 mehr als bei der ersten Beschäftigtenbefragung – damals vor der Bundestagswahl 2013. „Die gewaltige Beteiligung macht uns enorm stolz“, sagte Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der Gewerkschaft, bei der Vorstellung der Daten in Berlin am 25. April. Arbeitszeitfragen stehen ganz oben auf der Agenda – neben politischen Themen wie der Altersvorsorge und einer fairen Integration von Geflüchteten, was übrigens zwei Drittel der befragten Arbeitnehmer als wichtig oder sehr wichtig erachteten.

Der IG-Metall-Vorsitzende warnte Politik und Arbeitgeber, die Umbrüche in der Arbeitsgesellschaft zum Abbau von Schutzrechten zu missbrauchen. Dies gelte gerade für das Arbeitszeitgesetz. „Über 96 Prozent der Befragten wollen auch in Zukunft ein Arbeitszeitgesetz, das der Arbeitszeit Grenzen setzt. Dazu gehört auch das Recht auf Abschalten durch gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeiten.“

Relevanz für Betriebe und die Tarifrunde

„Für die IG Metall sind die Ergebnisse wichtig, um die richtigen Schwerpunkte in der nächsten Tarifrunde setzen zu können“, sagt Thomas Höhn, Zweiter Bevollmächtigter der IGM-Geschäftsstelle in Schweinfurt. Mit diesem Argument hatte der Gewerkschafter Betriebsräte und Vertrauensleute in seiner Region motiviert, möglichst viele Kollegen anzusprechen. 9500 Fragebögen kamen schließlich zurück in die Geschäftsstelle, über 50 Prozent mehr als in der Befragungsrunde 2013. Inzwischen sind die Antworten ausgewertet und aufgeschlüsselt nach Betrieben und sogar Abteilungen. Für Thomas Höhn gibt es eine deutliche Botschaft. „Die Gewährung der Freizeit ist oft nicht mehr sichergestellt.“ Vor allem bei Autozulieferern häufen sich die Fälle, in denen Beschäftigte in ihrer Freischicht angerufen werden. Zugleich ist es vielen Beschäftigten deutlich wichtiger, sich auf das freie Wochenende verlassen zu können, als finanzielle Zulagen zu bekommen. „Das war ein Aha-Effekt“, sagt der Gewerkschafter, „auch wenn wir noch nicht genau wissen, wie wir damit umgehen werden.“

Höhn hat Betriebsräten und Vertrauenleuten Tipps gegeben, wie sie den Belegschaften die Ergebnisse auf Versammlungen vermitteln und dabei Diskussionen über Arbeitszeitfragen anregen können. Der Aufwand ist immens: Allein beim Industriezulieferer Schaeffler in Schweinfurt hat die IG Metall 150 Versammlungen geplant. Neben den inhaltlichen Erkenntnissen geht es auch um das Signal: Die Metallgewerkschaft hat das Ohr an der Basis  – und bezieht deren differenzierte Perspektiven in ihr Handeln ein.

Landmaschinen John Deere: Feierabend fraglich

Beim Landmaschinenhersteller John Deere im pfälzischen Zweibrücken haben etwa 700 der knapp 1100 Beschäftigten die Fragebögen zurückgegeben – darunter auffällig viele Angestellte und Nicht-IG-Metaller, berichtet Betriebsrat Daniel Hasenfratz. Auch der Personalchef sei sehr interessiert an den Ergebnissen und habe zugelassen, dass die Unterlagen während der Arbeitszeit verteilt wurden.

64 Prozent der Befragten äußerten sich zufrieden mit ihren Arbeitszeiten – und damit deutlich weniger als der bundesweite Durchschnitt, der immerhin bei 71 Prozent liegt.

„Mich hat das nicht überrascht“, so Betriebsrat Hasenfratz. Das Management werbe gerne mit der Flexibilität im Werk, aber für die Kollegen in der Produktion bedeutet das manchmal, erst um 10 oder 11 Uhr zu erfahren, ob der LKW mit den benötigten Teilen rechtzeitig eintrifft und sie dann bis 15.30 Uhr weiterarbeiten müssen oder schon um 12 Uhr Schluss ist. „Wer sein Kind aus der Kita abholen will, muss das aber vorher wissen“, sagt Betriebsrat Hasenfratz.

BESCHÄFTIGTENBEFRAGUNG 2017

Die IG Metall hat Anfang des Jahres Fragebögen an rund 7000 Betriebe aus Industrie, Handel und Dienstleistungen verschickt, verteilt wurden sie von Betriebsräten und Vertrauensleuten. Zusätzlich gab es auch die Möglichkeit, online teilzunehmen. Die Standardfassung enthielt 42 Fragen zu Arbeitszeit und sozialpolitischen Themen und erhob außerdem einige soziodemografische Angaben. Beschäftigten mit mobilen Arbeitsplätzen wurden noch einige Zusatzfragen gestellt, die auch für ein von der Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt genutzt werden. Im Vergleich zur Befragung vor vier Jahren nahmen 170.000 Menschen mehr teil. Auch Nichtorganisierte wurden im großen Umfang erreicht: Rund 38 Prozent der Antwortenden haben keinen Mitgliedsausweis der Gewerkschaft.  Jeder Betrieb mit mehr als 20 Teilnehmern erhält eine Auswertung seiner Ergebnisse.  Die Rohdaten bleiben unter Verschluss, die anonymisierten Auswertungen lassen keine Rückschlüsse auf einzelne Teilnehmer zu.

Dazu kommt: Aufgrund des Saisongeschäfts des Landmaschinenherstellers dauern die Montageschichten bei John Deere in den Monaten Oktober bis Juli neun bis zehn Stunden, und in Stoßzeiten müssen die Beschäftigten auch noch samstags für sechs Stunden erscheinen. In der Halle, wo die Grundkörper für die Mähdrescher und Traktoren hergestellt werden, läuft die Produktion in solchen Hochphasen im Zweischichtbetrieb. Maximal 450 Überstunden (13 Wochen) dürfen sich auf jedem Arbeitszeitkonto angesammelt haben, wenn die Bänder von Juli bis September stillstehen und die Belegschaft ihren Freizeitausgleich nimmt. Auszahlen lassen können sich die Beschäftigten die langen Arbeitszeiten nicht. Was aber auf einem Langzeitarbeitskonto angespart ist, kann für Bildungszeiten, Sabbatical oder einen früheren Übergang in die Rente genutzt werden.

Ganz anders ist die Situation der Kollegen in den Entwicklungs-, Marketing- und Vertriebsabteilungen bei John Deere. Hasenfratz spricht von „Glaskastenbüros“, weil die Vorgesetzen den direkten Einblick haben, wann jemand kommt und geht. Von daher bleibt auch ihm nicht verborgen, dass hier häufig länger gearbeitet wird als die tarifvertraglich vereinbarten 35 Stunden, vielfach ohne dass das jemand aufschreibt. Jetzt aber hat der Betriebsrat dafür gesorgt, dass die vor kurzem in den Werkshallen eingeführte elektronische Zeiterfassung ab 2019 auch für die Bürobeschäftigten gilt. „Die Firmenleitung hat sich lange gesträubt, weil wir jetzt Transparenz bekommen“, erklärt Hasenfratz. Über Regelungen zu Homeoffice-Zeiten wird noch verhandelt.

Diese Arbeitszeitstrategien werden unterfüttert durch die Ergebnisse der IG-Metall-Umfrage, die bei der nächsten Betriebsversammlung im Oktober vorgestellt und diskutiert werden. Hasenfratz hofft außerdem, dass das Thema Arbeitszeit in den nächsten Tarifverhandlungen deutlichen Niederschlag findet.

Bei Airbus Operations in Bremen, wo die Flügel von Langstreckenflugzeugen zusammengebaut werden, gibt es große Überstundenkontingente, berichtet Stefan Oeltjenbruns, Leiter der IG-Metall-Vertrauensleute. Und auch hier stünden die Ingenieure unter Druck, mehr als 35 Stunden pro Woche zu arbeiten. „Doch der Ausgleich funktioniert bei uns ganz gut, viele nehmen ab und zu mal ein paar Tage frei“, sagt der IG Metaller. Schwieriger sei das hingegen bei den Schichtarbeitern, die die Airbusflügel mit Landeklappen, elektrischen Leitungen und Rudern ausstatten. „Da ist die Personaldecke einfach zu dünn, um ein paar Tage auszusetzen“, sagt Oeltjenbruns. Noch sind er und seine Kollegen dabei, die IG-Metall-Umfrage auszuwerten. „Und wir müssen da auch noch ein paar Details klären“, beschreibt Oeltjenbruns den Stand der Dinge.

Ford: Betriebsrat überrascht über Grad der Zufriedenheit

Mit 82 Prozent überdurchschnittlich zufrieden mit ihren Arbeitszeiten äußerten sich die Beschäftigten bei Ford in Köln, wo im Dreischichtsystem gearbeitet wird und der Betriebsrat jede Woche 10.000 Überstunden registriert. „Dieses Ergebnis hat mich schon überrascht“, sagt Betriebsrat und Vertrauenkörperleiter Benjamin Gruschka, der auch Mitglied im Vorstand der IG Metall ist. Natürlich würden viele lieber gar nicht Schicht arbeiten, weiß er aus Gesprächen. Doch bei Ford Köln schlug sich das in der Umfrage kaum nieder – vielleicht auch deshalb, weil es Nachtzuschläge gibt und das Schichtsystem auf einer 37,5-Stunden-Woche beruht, so dass die Beschäftigten zum Ausgleich 15 zusätzliche freie Tage im Jahr haben.

Auch jene 6500 Beschäftigten bei Ford in Köln, die ihre Arbeit überwiegend am Computer erledigen, scheinen mit ihren Arbeitszeiten weitgehend zufrieden zu sein. Vor einigen Monaten trat eine Betriebsvereinbarung in Kraft: In Absprache mit ihren Vorgesetzten können sie zu Hause oder sonstwo mobil ihre Aufgaben erledigen – auf Basis einer  Vertrauensarbeitszeit. „Wir haben noch keine Zahlen, aber das wird offensichtlich viel genutzt“, sagt Betriebsrat Gruschka.

Insgesamt sind aber nur etwas mehr als die Hälfte der Schichtarbeiter zufrieden mit ihrer Arbeit (57,8 Prozent) und damit deutlich weniger als der Durchschnitt der Beschäftigten mit einer Zufriedenheitsquote von 70 Prozent.

Deutliche Signale vor der Bundestagswahl

„Wer im September in den Bundestag gewählt werden will, der kommt an den Ergebnissen dieser Beschäftigten-Befragung nicht vorbei!“, hatte Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall, bei der Vorstellung der ersten Ergebnisse gesagt.  In der Tat: Bei zwei zentral wichtigen Arbeitszeitthemen, die die IG Metall abgefragt hat, ist vor allem die Politik der Adressat: Für 92 Prozent der Befragten  steht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz oben auf ihrer Wunschliste für Verbesserungen. Und 90 Prozent fordern, dass es bei der Reduzierung auf Teilzeit ein rechtlich verbrieftes Rückkehrrecht auf eine Vollzeitstelle gibt.

Darüber hinaus wollen 95 Prozent der Befragten, dass Krankenkassenbeiträge künftig wieder paritätisch finanziert werden. Und 82 Prozent stimmten der Aussage zu, das Rentenniveau müsse stabilisiert werden, selbst dann, wenn die Beiträge von Arbeitgebern und Beschäftigten steigen. Ganze 93 Prozent der rund 680.000 befragten Arbeitnehmer befürworten ein verbrieftes Recht auf betriebliche Weiterbildung. „Viele sind heute von einer fairen Chance auf Fortbildung im Berufsleben ausgeschlossen. Ein Initiativrecht für Betriebsräte zur Durchführung von Qualifizierungsmaßnahmen ist überfällig. Die nächste Bundesregierung muss hier endlich handeln“, forderte der Erste Vorsitzende der IG Metall.

Also – deutliche Signale an Berlin und in die Arena vor der Bundestagswahl. Wer immer nach dem 24. September im Parlament die Mehrheit gewinnt, sollte diese Themen bei den Koaltitionsverhandlungen auf dem Schirm haben, fordert die IG Metall.

Aufmacherfoto: Jürgen Seidel

 

WEITERE INFORMATIONEN

Die IG Metall hat interessante Ergebnisse der Beschäftigtenbefragung in der Broschüre „Arbeitszeit – sicher, gerecht und selbstbestimmt“ zusammengefasst.

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