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Magazin Mitbestimmung

: Verschiedenartigkeit als Motor des Erfolgs

Ausgabe 06/2004

Dem Neoliberalismus ist es zwar gelungen, die gewerkschaftlichen Strukturen zu zerstören. Doch sind gleichzeitig in den USA neue kollektive Bewegungen entstanden, die sich für Frauen, Homosexuelle oder ethnische Minderheiten stark machen.

Von Michael J. Piore
Der Autor ist Professor für Politische Ökonomie am MIT in Cambridge/Massachusetts am Institute for Work and Employment Research. Zusammen mit Charles F. Sabel hat er 1984 die aufkommende Flexibilisierung der Produktion als "zweite industrielle Revolution" beschrieben.

Die hinter uns liegenden Jahrzehnte sind gekennzeichnet durch ein Erstarken der neoliberalen Ideologie sowie durch nachhaltige Angriffe gegen die Institutionen des Wohlfahrtsstaates. Die Entwicklungen in den USA spielen dabei eine Schlüsselrolle. Es gibt allerdings eine Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Entwicklungen in den USA und den neoliberalen Erwartungen. Die Modelle, die wir durch politischen Druck weltweit durchsetzen wollen, sind nicht genau diejenigen, die wir selbst praktizieren. Da der Neoliberalismus der extremen Individualisierung den Vorrang gibt, wird der Unterschied zur tatsächlichen Entwicklung am deutlichsten bei der Rolle der kollektiven Institutionen. Es ist richtig, dass in den vergangenen Dekaden viele der US-amerikanischen Institutionen geschwächt und wohlfahrtsstaatliche Strukturen beseitigt wurden. Aber an ihre Stelle sind neue Institutionen und Strukturen getreten. Entgegen der gängigen Darstellungen richtet der Markt nicht uneingeschränkt über die Sphären des sozialen und ökonomischen Lebens.

Neoliberales Ideal und Realität am Arbeitsplatz

Der US-amerikanische Wohlfahrtsstaat bestand seit dem "New Deal" der 30er Jahre im Wesentlichen aus drei Säulen: den rechtlich abgesicherten Gewerkschaften, die Löhne und Arbeitszeiten aushandelten, und zweitens aus der staatlichen Grundsicherung für die Menschen, die nicht arbeiten konnten. Dazu zählten die Arbeitslosen- und Krankenversicherungen oder das Altersruhegeld, aber auch die Bereitstellung von Wohnungen oder Mahlzeiten. Die dritte Säule schließlich war die Einführung eines Mindestlohnes.

Fast alle Leistungen des Wohlfahrtsstaates wurden in den vergangenen 25 Jahren wieder beschnitten - und dies ist das Herzstück der neoliberalen Revolution in der US-amerikanischen Gesellschaft. Am deutlichsten äußerte sich diese Revolution in den dramatischen Mitgliederverlusten der Gewerkschaften. Waren 1975 noch 28 Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft (außerhalb des landwirtschaftlichen Sektors) organisiert, so traf dies im Jahr 2000 nur noch auf neun Prozent zu. Wurden bis in die 70er Jahre Standards durch Tarifverhandlungen gesetzt, werden heute die Regulierungen der Arbeitsbedingungen direkt vom Markt abgeleitet. Streiks und Arbeiterunruhen nahmen in einem bisher ungekannten Ausmaß ab.

Auch für Geringverdiener und Menschen außerhalb des Arbeitsmarktes wurden die Rechte und Leistungen drastisch reduziert. Das Niveau des Mindestlohnes fiel stärker als der Durchschnitt. Der Anteil der Arbeitslosen, die Unterstützungsleistungen erhalten, ist gesunken. 1996 wurde das alte System der öffentlichen Unterstützungsleistungen abgeschafft, und Einkommensbeihilfen wurden zeitlich begrenzt. Diese Veränderungen fielen zusammen mit einer dramatisch wachsenden Ungleichheit der Einkommen.

Die Schwächung des Wohlfahrtsstaates aus der "New Deal"-Ära hat jedoch nicht zu einem marktregulierten Arbeitsmarkt geführt, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es sich die Befürworter des Neoliberalismus vorgestellt hatten. Unterhalb des alten Tarifverhandlungssystems hatte sich bereits in den späten 60er und den 70er Jahren ein neues System der Regulierung zu entwickeln begonnen. Als das alte System kollabierte, drang das neue in die entstandene Lücke vor. Den Mittelpunkt des alten Regimes bildeten die gesetzlich abgesicherten kollektiven Tarifverhandlungen. Das neue System hingegen basiert auf materiellen Regelungen, die durch Gesetze, administrative Verfügungen und gerichtliche Entscheidungen entstanden sind. Sie werden zusammengeführt in den Human-Resource-Management-Strategien und der Personalpolitik großer Unternehmen.

Unternehmen prägen die Arbeitsbeziehungen

Der wichtigste Impuls zur Entstehung des neuen Regelsystems war die Gesetzgebung zur Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Gesetze dieser Art haben in den Vereinigten Staaten eine lange Tradition. Aber die Bemühungen, Chancengleichheit zu realisieren, wurden erst 1964 unter dem Druck der schwarzen Bürgerrechtsbewegung wieder belebt. Seitdem garantieren Gesetze den Schutz auch anderer sozial stigmatisierter oder benachteiligter Gruppen, zum Beispiel Frauen, ethnische Minderheiten, Behinderte und lokal auch Schwule, Lesben und Transsexuelle. Viele dieser Gruppen haben sich in Unternehmen und Berufsvereinigungen formiert. Sie verfolgen eine Politik zur Durchsetzung ihrer Interessen und Rechte, so wie es früher die Gewerkschaften taten.

In diesem Umfeld haben amerikanische Unternehmen ein spezifisches System der Arbeitsbeziehungen entwickelt, das heute Human Resource Management genannt wird. Eines seiner wichtigsten Merkmale sind standardisierte personalpolitische Strategien, die auf alle Arbeitnehmer angewendet werden. Das Ziel dieser Programme ist es, das Unternehmen vor Klagen wegen willkürlicher und ungleicher Behandlung der Arbeitnehmer zu schützen. Diese Regelungen bewirken ein Stück der Stabilität, die vorher das Tarifverhandlungssystem innehatte. Einige Arbeitgeber etablierten recht erfolgreich private Schlichtungs- und Schiedsverfahren, um juristische Auseinandersetzungen zu umgehen. Auch dies stellt eine Parallele zum alten Tarifvertragssystem dar.

Das neue System der Arbeitsbeziehungen wurde durch Frauen- und Minderheiten-Gruppen angeschoben, die den Schutz der Gesetzgebung vor Chancenungleichheit suchten. Wie weit bringen diese Gruppierungen nicht nur individuelle Rechte, sondern auch kollektive Bürgerrechte hervor? Dies wäre für das Arbeitsrecht und die Arbeitsbeziehungen der gesamten industriellen Welt von Bedeutung.

Der Wandel in den Arbeitsbeziehungen scheint mit einem fundamentalen Strukturwandel der post-industriellen Gesellschaft verknüpft zu sein. In den Vereinigten Staaten war der Zusammenbruch der Gewerkschaftsbewegung in den 80er Jahren die dramatischste strukturelle Veränderung. Die männlichen Familienernährer hatten sich in den Gewerkschaften organisiert, die die Arbeitsbedingungen aushandelten. Mit der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen schwächte sich diese Stellung des Mannes als Alleinverdiener ab.

Dazu verloren in den 80er und 90er Jahren viele Unternehmen ihre dominante Position als Verhandlungspartner der Arbeitsbeziehungen, weil die ökonomische Krise zusammen mit dem technologischen Wandel die Stabilität der Unternehmen unterminierte. Große Konzerne waren von Insolvenz bedroht, sie verschwanden vom Markt oder fusionierten mit anderen Unternehmen. Die traditionellen Grenzen zwischen den Wirtschaftszweigen wurden unter dem Einfluss sich wandelnder Märkte neu gezogen, verblassten oder verschwanden sogar. Mit der Auflösung von Unternehmensgrenzen brachen auch die Wohlfahrtsinstitutionen zusammen, die an die Organisation der Unternehmen geknüpft waren.

Wettbewerbsdruck der US-Firmen wirkt normbildend

Ähnlich dramatisch veränderte sich die Arbeitsorganisation: Die Arbeit wird zunehmend in Projekten und Teams organisiert. Jedes Projekt ist ein Unikat, Innovation und Kreativität sind notwendig, um es zu produzieren. In der Arbeitswelt wird heute die Fähigkeit belohnt, professionelle Kompetenz und Erfahrung jenseits traditioneller Professionsgrenzen zu integrieren und das jeweilige Wissen in spezifische Anwendungen einzubringen - die klassische Teamarbeit. Kompetenzen werden nachgefragt, die eben nicht durch klar umrissene und zertifizierte Fähigkeiten gekennzeichnet sind. Arbeitnehmer werden bei ihrer Arbeits- und Karriereplanung zunehmend abhängig von sozialen Netzwerken, in denen ihre besonderen und einzigartigen Fähigkeiten bekannt sind. Die sozialen Gruppen, aus denen heraus politische Mobilisierung stattfindet, haben in vielen Branchen und Professionen genau diese Netzwerkfunktion übernommen.

Aber handelt es sich hier um eine amerikanische Sonderentwicklung, oder werden hier Leitbilder für eine globale Wirtschaft geprägt? Um dies zu beantworten, müssen wir betrachten, was andere Länder dazu bringt, den amerikanischen Vorbildern zu folgen. Vier Faktoren sind wirkungsmächtig: der unmittelbare Druck der USA in internationalen Wirtschaftsorganisationen; neue Produktionstechnologien und Managementstrategien, die in den USA entwickelt wurden (oder zuerst dort zur Anwendung kamen); die Diffusion der US-amerikanischen Kultur durch Werbung und Unterhaltungsindustrie; und schließlich der Wettbewerbsdruck, den US-Firmen auf internationalen Märkten ausüben.

Ich meine: Die technologischen und organisatorischen Trends werden eher zu einer Annäherung der Arbeitsbeziehungen führen. Das ist besonders wahrscheinlich für die Tendenz, betriebliche Organisationsstrukturen nicht mehr dauerhaft und klar abzugrenzen. Die Dominanz der Projektarbeit als Prinzip der Arbeitsorganisation hat ähnliche Effekte, zumindest in den hoch entwickelten Staaten.

Kulturelle Verschiedenheit kann effizient sein

Ob die neuen sozialen Gruppen, die in den USA bei der Mobilisierung von Arbeitnehmern nun die entscheidende Rolle spielen, dies auch woanders tun werden, ist eine andere Frage. Die zunehmende weltweite Migration produziert eine ethnische Vielfalt, die schon in den USA das Fundament für die neuen sozialen Bewegungen legte. Vorstellbar ist eine solche Entwicklung in anderen Industrienationen also durchaus.

Die Hegemonie der US-amerikanischen Massenkultur wird zweifellos die Entwicklung neuer sozialer Bewegungen verstärken. Amerikanische Kinofilme, Fernseh-Soaps und Werbespots tragen zur weltweiten Diffusion der Symbole dieser Bewegungen bei. Modetrends werden in den schwarzen Ghettos und Schwulen-Discos der Vereinigten Staaten geprägt: von den Blue Jeans zu Baseballmützen, Tätowierungen und Piercings.
Aber die wichtigste Kraft, die das amerikanische Modell der Vielfalt verbreitet, mag der Wettbewerbsdruck auf den weltweiten Märkten sein. Die Branchen, die für das Wiedererstarken US-amerikanischer Firmen auf den Weltmärkten verantwortlich waren - Informationstechnologie, Telekommunikation, Biotechnologie und große Handelskonzerne wie zum Beispiel Wal-Mart, Nike, the Gap - haben die am stärksten diversifizierten Belegschaften. Hier zeigt sich: Verschiedenheit kann effizient sein. In diesen Branchen ist die Beschäftigung am stärksten expandiert. Also sind sie auch am stärksten offen für neue und wachsende Arbeitnehmergruppen, wodurch die Belegschaften bunt gemischt sind.

Es gibt aber auch eine Begründung der Arbeitgeberseite für die Vielfalt. Sie wurde in den Business Schools entwickelt und von Managern aufgegriffen, die versuchten, HR-Strategien für Minderheiten zu rechtfertigen. Die Begründung basiert auf genau den neuen Formen der Unternehmensorganisation, die Teamwork in Projekten fordern. Beides braucht und belohnt die Fähigkeit zum wechselseitigen Verständnis, das Differenzen zu überbrücken hilft. Und eine kulturell diversifizierte Belegschaft tendiert dazu, diese Fähigkeit zu entwickeln und zu pflegen.

Vielfalt (Diversity) fördert auch neue Einfälle, da sie die Quellen der Kreativität vervielfacht und Ideen hervorbringt, die ein Kondensat aus den verschiedenen Perspektiven sind. Dadurch hat die kulturell diversifizierte Arbeitnehmerschaft der USA einen spezifischen Vorteil bei der Expansion in internationale Märkte; nicht nur weil sie über die Fähigkeiten zur Kommunikation und Interpretation verschiedener Kulturen verfügt, sondern auch weil einige der Gruppen ein spezifisches Wissen über die angesteuerten (Absatz-)Märkte mitbringen. So gesehen könnten amerikanische Unternehmen ausländische Konkurrenten dazu zwingen, ihre Belegschaften auch zu diversifizieren.


"Worlds of Capitalism"
war Thema einer Tagung, auf der in Hamburg Michael J. Piore über "The Neo-Liberal Ideal and the Reality of Workplace Practice in the United States" referierte. Übersetzt hat den Text Britta Rehder. Die Tagungsberichte erscheinen in Max Miller (Hrsg.): Welten des Kapitalismus. Institutionelle Alternativen in der globalisierten Ökonomie.Campus (Oktober 2004)

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