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Betriebsrat Özcan Pancarci (l) und sein Stellvertreter Thomas Niesigk Magazin Mitbestimmung

Betriebsrätepreis: „Um 180 Grad gedreht“

Ausgabe 06/2022

Beim Gabelstaplerunternehmen Linde Material Handling in Aschaffenburg verwandelten sich Pläne zum Personalabbau und zur Werksschließung in Millioneninvestitionen – und in eine Nominierung für den Betriebsrätepreis. Von Stefan Scheytt

„Ned nur babbeln, sondern machen!“ Mit diesem Slogan zog Özcan Pancarci vor zwei Jahren als parteiloser Kandidat (mit Unterstützung von SPD und Grünen) in den Wahlkampf um das Amt des Landrats von Aschaffenburg. Fragt man den Maschinenschlosser und Industriemeister heute, warum er sich diese Aufgabe zutraute, antwortet er: „Auch als Betriebsrat muss man sich zu sehr verschiedenen Themen die richtigen Experten holen und dann einen Konsens für gemeinsame Entscheidungen finden.“ Und dann umreißt der 53-Jährige sein Aufgabenfeld: seit neun Jahren Betriebsratsvorsitzender beim Gabelstapler- und Logistikunternehmen Linde Material Handling in Aschaffenburg, mehr als 3000 Beschäftige; seit sieben Jahren Vorsitzender des Konzernbetriebsrats beim Mutterkonzern Kion, gut zehn Milliarden Euro Umsatz, 12 000 Mitarbeiter, 23 Betriebsratsgremien mit mehr als 230 Kollegen; stellvertretender Vorsitzender des Europäischen Betriebsrats der Kion Group und schließlich Vize-Aufsichtsratschef sowohl beim Kion-Konzern als auch bei dessen Gabelstapler-Tochter. „Wir sind ein Riesenladen“, sagt Özcan Pancarci und deutet damit an: Wer so viele Aufgaben als führender Arbeitnehmervertreter in einem solchen „Riesenladen“ gewuppt kriegt, durfte sich auch eine Kreisverwaltung zutrauen.

In der CSU-Hochburg Aschaffenburg ist aus dem Landratsjob erwartungsgemäß nichts geworden, aber nur wenige Wochen nach der Wahl musste sich Özcan Pancarci schon der nächsten Herausforderung stellen: Denn auf die Coronakrise antwortete das Management mit einem Plan, der vorsah, in Deutschland rund 2400 Arbeitsplätze abzubauen, davon 800 in Aschaffenburg, betriebsbedingte Kündigungen inklusive. Özcan Pancarci: „Die Devise war: Fixkosten runter; Dienstleistungen outsourcen von der Kantine über den Werkschutz bis zur internen Logistik; Produktion wenn möglich in Niedriglohnorte verlagern; nur noch die Kernkompetenzen behalten.“

Was folgte, waren endlos scheinende Verhandlungen mit dem Management, in denen Özcan Pancarci und seine Mitstreiter vor allem eine Botschaft aussandten: „Wenn wir jetzt Beschäftigte abbauen, gefährden wir den gesamten Standort. Denn wenn es wieder aufwärts geht, können wir das verlorene Know-how nicht einfach zurückholen.“ Das gelte vor allem für die interne Logistik in der Produktion. Pancarcis Argument: „Wir bauen hier 200 Fahrzeuge am Tag und jedes zweite sieht anders aus, weil es der Kunde so wünscht, und entsprechend komplex verzahnt sind die Fertigungsprozesse. So etwas kann man nicht einfach an billigere externe Dienstleister abgeben.“

Beschäftigungsgarantie und Ergänzungstarifvertrag erkämpft

Unter der Prämisse, alle Beschäftigten an Bord zu behalten, legten die Betriebsräte einen Gegenentwurf vor, der in einen Logistiktarifvertrag mündete: Der brachte zwar eine um 2,5 Stunden erhöhte Wochenarbeitszeit bei gleichem Lohn für bestehende Arbeitsverhältnisse sowie um 15 Prozent reduzierte Löhne für Neueingestellte. Dafür gibt es keine betriebsbedingten Kündigungen, eine Beschäftigungsgarantie bis 2025 sowie ein Verbot der Ausgliederung der Logistik bis 2027. In einem späteren Ergänzungstarifvertrag erkämpften sich die Beschäftigten weitere Verbesserungen im Detail. Wobei zum Kampf auch der Abbruch von Verhandlungen gehörte, ebenso eine außerordentliche Betriebsversammlung vor dem Werkstor mit weit über 1000 Kolleginnen und Kollegen und – zur großen Überraschung der Arbeitgeber – auch die Kündigung des ersten geschlossenen Tarifvertrags.

Vorzeigestandort statt Kahlschlag

Als das Symbol des erfolgreichen Einsatzes gilt das zum Standort Aschaffenburg gehörende Werk im nahen Kahl mit Ersatzteillager, Werkzeugbau und Sonderfertigung. Wäre es nach den Kahlschlagplänen der Manager gegangen, wäre der Standort heute abgewickelt. Inzwischen präsentiert das Unternehmen Kahl als zukünftigen „Vorzeigestandort“ mit einem „zukunftsweisenden, nachhaltigen Logistikzentrum“ und einem Investitionsrahmen von rund 70 Millionen Euro. „Das haben wir komplett um 180 Grad gedreht“, freut sich Betriebsrat Özcan Pancarci. Und auch an den drei anderen Standorten in und um Aschaffenburg stehen die Zeichen auf Investition im zweistelligen Millionenbereich, unter anderem für die Umsetzung eines modernen Logistikkonzepts in der Produktion, wie es der Tarifvertrag dem Unternehmen auferlegte.

Manchmal kann es Özcan Pancarci selbst kaum glauben: „Wir sind vom geplanten Abbau von weit über 2000 Arbeitsplätzen zum Ausbau aller Aschaffenburger Standorte gewechselt, die am Ende moderner, effizienter, höher in der Kapazität und zukunftssicherer sein werden als je zuvor.“ Sein Kollege Thomas Niesigk, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, konzediert, dass sich die Nachfrage nach dem ersten Coronaschock viel schneller erholte als vom Management erwartet. „Wir vom Betriebsrat waren da zuversichtlicher, wir vertrauten sehr auf die Stärken der Beschäftigten und Produkte und haben jetzt den höchsten Auftragsbestand ever. Hätte das Unternehmen damals seinen Willen durchgesetzt und so viele Arbeitsplätze abgebaut, wären wir jetzt in noch größeren Lieferschwierigkeiten als ohnehin schon.“

Weitere Informationen:

Auf unserer Übersichtseite Deutscher Betriebsrätetag

Der Deutsche Betriebsräte-Preis ist eine Initiative der Fachzeitschrift „Arbeitsrecht im Betrieb“ des Bund-Verlags. Die Hans-Böckler-Stiftung ist Kooperationspartnerin. Mit dem Preis werden seit 2009 alljährlich Praxis-Beispiele vorbildlicher Betriebsratsarbeit ausgezeichnet. In diesem Jahr wird der Preis am 10. November auf dem Deutschen Betriebsräte-Tag in Bonn verliehen. Von mehr als 60 Bewerbungen wurden 12 Projekte nominiert.

www.deutscher-betriebsraete-preis.de

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