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Magazin Mitbestimmung

: Staat ohne Zukunft

Ausgabe 10/2009

NACHRUF Die DDR brachte eine Wirtschaft hervor, die Wettbewerb nicht aushielt, eine Rechtsprechung, die parteilich war - und Menschen, die aufbegehrten. Von Richard Schröder

RICHARD SCHRÖDER ist Philosoph und evangelischer Theologe in Berlin. Er war in der DDR-Opposition aktiv, nach der Wende für die SPD Mitglied der Volkskammer und kurzzeitig auch Mitglied des Bundestages/Bild: ullstein

Zwanzig Jahre nach dem Anfang vom Ende der DDR nimmt die DDR-Nostalgie vielerorts eher wieder zu. Ich muss allerdings einschränken: Unter meinen Freunden und Verwandten gibt es nur einen, der dazu neigt, aber trotzdem gern reist und vieles kauft, was es zu DDR-Zeiten nicht gab. Besonders oft hört man: "In der DDR gab es keine Arbeitslosigkeit." Manche sagen gar, sie hätten heute mehr Angst vor der Arbeitslosigkeit als damals vor der Stasi. Das kann ja so sein, stellt ihnen aber ein erbärmliches Zeugnis aus. Denn auch wenn die Stasi sie persönlich in Ruhe gelassen hat, war doch die Angst vor dem Unheimlichen so groß, dass man ihren Namen nicht nannte, sondern von der "Firma" flüsterte. Jeder wusste von Menschen, die in ihre Fänge geraten waren. Hinter dem Spruch steckt eine Hartherzigkeit gegenüber den Opfern.

Es stimmt auch nicht ganz, dass jeder in der DDR einen sicheren Arbeitsplatz hatte. Wer einen Ausreiseantrag stellte, wurde meist arbeitslos. Nur die Kirche stellte solche Leute ein, als Friedhofsgärtner oder Krankenpfleger - und wurde dafür vom Staat attackiert. In den 50er Jahren ist Lehrern gekündigt worden, die nicht auf Parteilinie lagen. Später kam das seltener vor, weil bei der Zulassung zu Oberschule und Studium gesiebt wurde. Ich habe 1958 die achte Klasse mit "sehr gut" abgeschlossen, bekam eine Buchprämie vom Schulleiter - und die Ablehnung von der Oberschule. Meiner älteren Tochter erklärte die Lehrerin, ohne FDJ komme sie nicht auf die Oberschule. Sie hat ab 1990 eine Westberliner Oberschule besucht. Meiner jüngeren Tochter erklärte ihr Schulleiter 1988, mit ihren Überzeugungen könne sie nicht Jura studieren. Auch für sie kam der Fall der Mauer gerade recht. Heute können doppelt so viele des Jahrgangs Abitur machen, und das ist nicht mehr abhängig von Überzeugungen.

Nur, wenn man solche Einschränkungen auslässt, stimmt es: In der DDR gab es keine Arbeitslosigkeit. Aber Sklaven und Leibeigene mussten seinerzeit auch nicht um den Arbeitsplatz bangen. Wer den Hinweis unanständig findet, dem erzähle ich, was sich 1976 in einem Dorf zutrug: Nach einem Streit mit dem LPG-Vorsitzenden erklärten einige Mitglieder ihren Austritt aus der LPG. Darauf erwiderten die Staatsvertreter, sie könnten nur austreten, wenn sie für sich Ersatz stellen, denn sie müssten ja als (formelle) Eigentümer ihres Ackers das Soll abliefern. Bevor die DDR der UNO beitrat, kamen Arbeitsbummelanten ins Arbeitslager. Später gab es für "asoziales Verhalten" Gefängnisstrafen.

"In der DDR gab es keine Obdachlosen." Auch richtig. Das wurde nämlich auch als "asoziales Verhalten" bestraft. Wir reden von Menschen, die mit ihrem Leben nicht zurechtkommen, durch Scheidung oder Alkohol aus der Bahn geworfen sind. Es ist oft schwer, ihnen zu helfen. Wegsperren war aber sicher die falsche Methode. Wer es noch nicht weiß: Jeder in Deutschland hat Anspruch auf eine Wohnung. Das nützt ihm aber nichts, wenn er nicht ortsansässig sein will. Es stimmt auch, dass in der DDR Alkoholiker oft nicht entlassen wurden. Dass sie ihr soziales Umfeld nicht verloren, war ja für sich genommen gut, wenn auch kein Mittel gegen den Alkoholismus. Das kann sich aber nur ein Betrieb leisten, der nicht rechnen muss.

Was die Abschaffung der wirtschaftlichen Rechnungsführung im Ganzen angerichtet hat, wurde offenbar, als die DDR durch die Währungsunion der Konkurrenz der Weltwirtschaft ausgesetzt wurde. Es gibt zwei unverdächtige Zeugen für den Zustand der DDR-Wirtschaft, die damaligen Witze und das Geheimgutachten vom 31. Oktober 1989, das Planungschef Gerhard Schürer und andere für Egon Krenz verfertigt hatten, der wissen wollte, wie es wirklich stand. Erich Honecker und Günter Mittag (im Politbüro für Wirtschaft zuständig) weigerten sich nämlich schlichtweg, die Realität wahrzunehmen. Sie wollten die Warnungen der Fachleute nicht hören. Das kommt davon, wenn man Wahlen durch Akklamationen ersetzt und dann bei der Gerontokratie landet, der Herrschaft der Tattergreise.

Die Witze gehen so: "Was passiert, wenn in der Sahara der Sozialismus eingeführt wird? Fünf Jahre nichts, dann wird der Sand knapp." Oder so: "Die sieben Weltwunder der DDR:
- Obwohl niemand arbeitslos ist, hat die Hälfte nichts zu tun.
- Obwohl die Hälfte nichts zu tun hat, fehlen Arbeitskräfte.
- Obwohl Arbeitskräfte fehlen, erfüllen und übererfüllen wir die Pläne.
- Obwohl wir die Pläne erfüllen und übererfüllen, gibt es in den Läden nichts zu kaufen.
- Obwohl es nichts zu kaufen gibt, haben die Leute fast alles.
- Obwohl die Leute fast alles haben, meckert die Hälfte.
- Obwohl die Hälfte meckert, wählen 99,9 Prozent die Kandidaten der Nationalen Front."

Nationale Front - das war der offizielle Name für den Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen in der DDR. Das Geheimgutachten von Planungschef Schürer und anderen ist zugänglich über die Internetseite http://www.bstu.de/. Ich fasse die wichtigsten Aussagen zusammen:

Es heißt, die Inlandsverschuldung des Staatshaushaltes gegenüber den Sparguthaben der Bevölkerung sei von 1970 bis 1989 von 12 auf 123 Milliarden Ostmark gestiegen. Doch die Sparguthaben waren gar nicht real gedeckt. Erich Honecker hatte sein Wohnungsbauprogramm auf Pump finanziert, aber bei den billigen Mieten konnten die verbauten Sparguthaben ja nicht einmal die Zinsen bringen, die den Sparern gezahlt wurden. Das Resultat sind die Schulden der Wohnungsbaugesellschaften, die teils durch Verkäufe, teils durch Übernahme in den Erblastentilgungsfonds getilgt und verlagert wurden.

Es heißt, die Auslandsverschuldung in Devisen sei in demselben Zeitraum von 2 auf 49 Milliarden DM gestiegen. Der jährliche Schuldendienst betrage 150 Prozent der jährlichen Deviseneinnahmen. Eine Exportsteigerung sei wegen fehlender geeigneter Güter nicht möglich. 1989 übersteige der Westimport den Westexport um 14 Milliarden DM. Wörtlich heißt es: "Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen."

Das ZK-Mitglied Alexander Schalck-Golodkowski hatte seinerzeit vorgeschlagen, Devisenkredite aufzunehmen, um etwas zu produzieren, das für Devisen verkauft werden kann. Das Konzept war stimmig. Aber Honecker hat darauf gedrungen, für Devisen Konsumgüter zu kaufen, darunter Südfrüchte für Weihnachten. Die brachten aber Ostgeld, nicht Devisen. So schlitterte die DDR in die Devisen-Schulden-Falle.

Es heißt, man brauche von der Bundesrepublik einen weiteren Kredit von 25 Milliarden DM. Als Gegenleistung solle angeboten werden, dass das gegenwärtige Grenzregime bis zum Jahr 2000 überflüssig wird. Nach dem Fall der Mauer war dieses Faustpfand weg. Ministerpräsident Modrow hat das auch bei seinem Antrittsbesuch bei der Stasi wortreich beklagt. Früher, so erklärte er, habe die Regierung für jeden zusätzlichen Grenzübergang Millionen in Devisen raushandeln können, jetzt sei die Mauer ohne Gegenleistung offen.

Es heißt, die "sozialpolitischen Maßnahmen" seien nicht vollständig aus eigenen Mitteln finanziert worden und hätten zu einer groben Vernachlässigung von Investitionen in die Infrastruktur, die Produktionsmittel und die Bausubstanz geführt. Honeckers viel gerühmte "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" war zum Teil auf Pump finanziert.

Es heißt, eine durchgreifende Wirtschaftsreform sei nötig: (a) "drastischer Abbau von Verwaltungs- und Bürokräften", (b) "bedeutende Einschränkung von Arbeitsplätzen", (c) "grundlegende Veränderung in der Subventions- und Preispolitik" (gemeint sind die billigen Mieten und die billigen Grundnahrungsmittel), (d) "Senkung des Planungs- und Verwaltungsaufwandes", (e) "Klein- und Mittelbetriebe aus den Kombinaten ausgliedern", (f) "die Rolle des Geldes als Maßstab für Leistung, wirtschaftlichen Erfolg und Misserfolg ist wesentlich zu erhöhen", (g) "der Wahrheitsgehalt der Statistik und Information ist auf allen Gebieten zu gewährleisten."

Im Klartext: Wäre es nicht zur deutschen Einheit gekommen, wäre trotzdem die Arbeitslosigkeit enorm gestiegen. Schürer beklagt die Ineffizienz der DDR-Wirtschaft und gibt ihre Arbeitsproduktivität mit 60 Prozent der westlichen an. In Wahrheit lag sie eher bei 30 Prozent. Ich nenne hier nur als Beispiel die Landwirtschaft. Hier sind 70 Prozent der Beschäftigten arbeitslos geworden, weil heute 30 Prozent dasselbe leisten.

Für die Betroffenen war das eine Katastrophe. Das Verschwinden der LPGs hat die Dorfstrukturen verändert. Abwanderung ist die Folge, Überalterung der Bevölkerung, der Konsum hat zugemacht, wohl auch die Schule. Und 30 Kilometer bis zum nächsten Arzt. Das ist schlimm - aber was wäre die Alternative gewesen? Wer sollte Getreide kaufen, das mit dem dreifachen Personaleinsatz produziert wird? Oder sollte nur ein Drittel Westlohn bezahlt werden? Für die DDR lohnte sich die teure Produktion, weil sie sonst Nahrung für Devisen kaufen musste, da war der Kurs grob gerechnet 1:4. Man kann nicht die Mauer wegreißen und das Echo stehen lassen.

Wer nicht glaubt, dass der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft darauf beruhte, dass sie den Weltmarktbedingungen nicht gewachsen war, sollte sich in den anderen ehemals sozialistischen Ländern umsehen. Wenn es einen Königsweg ohne Schrammen gegeben hätte, hätte ihn wenigstens eines dieser Länder finden sollen. In Wahrheit sind der Lebensstandard und die Infrastruktur in all diesen Ländern niedriger als in den östlichen Bundesländern. Das heißt ja nicht, dass es keinen Grund zum Klagen gebe. Ich sage nicht, dass wir uns mit der hohen Arbeitslosigkeit abfinden sollen.

Man kann aber heute in Deutschland nicht Arbeitsplätze aus dem Hut zaubern, und zwar aus mindestens drei Gründen. Erstens: die Automatisierung. Intelligente Maschinen ersetzen zunehmend menschliche Arbeit. Das war einmal ein Menschheitstraum. Offenbar wird es meist schwierig, wenn sich Menschheitsträume erfüllen. Nur ein Beispiel: In der DDR gab es die kleinen Bagger nicht, mit denen heute Kanäle für Versorgungsleitungen ausgehoben werden. Das wurde mit Hacke und Schaufel besorgt. Da sind viele Arbeitsplätze weggefallen, aber doch wohl nicht diejenigen, die sich Arbeitslose vor allem wünschen!

Zweitens: die Situation gesättigter Märkte. Die Wirtschaft leidet nicht unter einem Mangel an Waren, sondern unter einem Mangel an Kunden. Die westdeutsche Industrie hatte 1990 so hohe Produktionsreserven, dass sie den Bedarf der DDR-Bevölkerung spielend hätte decken können. Und drittens: der Aufholprozess, den frühere Entwicklungs- und Schwellenländer erleben. Das hat auch eine positive Seite - für jene Länder. Dort steigt der Lebensstandard, wenn sie Industriegüter exportieren können. Aber wir können dann nicht dieselben bei uns produzieren. Wir müssen Produkte erfinden, die sie (noch?) nicht produzieren können. Deshalb ist die Bildungsfrage bei uns zur Überlebensfrage geworden.

Die wirtschaftliche Lage der DDR zum Zeitpunkt der Revolution war desolat. Ebenso die politisch-moralische Lage. Eine Mehrzahl der Ostdeutschen bestreitet heute, dass der SED-Staat ein Unrechtsstaat war. Nun ist das Wort nicht definiert, und man kann darüber streiten, was es bedeuten soll. Ich finde folgende Definition brauchbar: Wo Macht vor Recht geht, und zwar nicht nur hier und da, sondern prinzipiell und erklärtermaßen, da handelt es sich um einen Unrechtsstaat. Aber nennt es doch wie ihr wollt, nur wie es war, das sollte nicht beschönigt werden. Das Recht wurde ganz offiziell als Machtmittel der herrschenden Klasse verstanden, als deren Avantgarde sich die SED verstand, und so auch praktiziert.

Mein Kollege im Pfarramt hatte einmal bei Gericht zu tun und sah da, dass gerade eine öffentliche Gerichtsverhandlung wegen "Staatsverleumdung" angesetzt war. Da er noch nie eine Gerichtsverhandlung erlebt hatte, ging er hin. Er war der einzige Gast. Einem Mann wurde vorgeworfen, er habe in der Kneipe die DDR als Sowjetkolonie bezeichnet und die Algerier als Kameltreiber. Da sich die Zeugen untereinander verhedderten, wurde die Sitzung vertagt. Mein Kollege hatte aber die Adresse des Angeklagten gehört und besuchte die Familie. Die Ehefrau erklärte, sie wisse gar nicht, dass heute der Verhandlungstermin sei. Ihr Mann sei festgenommen worden, und seitdem habe sie nichts mehr gehört. Mein Kollege fragte, warum sie keinen Anwalt genommen habe. "Ach, kann man das denn?", fragte die Frau. Der Schwiegervater kam hinzu und sagte: "Wissen Sie, ich bin SED-Genosse, ich kann mich da nicht reinhängen. Können Sie einen Anwalt besorgen?" Mein Kollege hat das getan. Prompt fand die nächste Gerichtssitzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Anwalt war deshalb auch zum Schweigen verpflichtet und hat nur gesagt: Da steckt noch etwas anderes dahinter. Mein Kollege vermutete, dass der Beschuldigte einen Ausreiseantrag gestellt hatte.

Schon im Jahr 1952 hatte die SED die Verwaltungsgerichte abgeschafft, bei denen man gegen Behördenentscheidungen klagen konnte. Behörden gaben in der Regel für Ablehnungen von Ausreiseanträgen keine Gründe an. Weil das auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) moniert wurde, führte die SED im Dezember 1988 die Möglichkeit der Beschwerde gegen Verwaltungsentscheidungen wieder ein. Die Regelung sollte im Juli 1989 in Kraft treten. Damit hat die SED selbst dokumentiert, dass bis dahin ihr Rechtssystem rechtsstaatlichen Standards nicht genügte.

Der Protest gegen den Ausdruck "Unrechtsstaat" beruht aber nach meinem Eindruck auf einer Verwechslung. Die Leute hören "Unrechtsgesellschaft", als hätten die DDR-Bürger nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können, was natürlich Unsinn ist. Das Wort vom "Unrechtsstaat" ist aber keine Aussage über die Bürger. Es ist eine Aussage über einen Staat und sein Justizwesen. Es war ein Staat, der keine Zukunft mehr hatte.

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