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Collage aus Screenshots verschiedener Tiktok-Auftritte (Sascha Döring/EVG, Yasmin Fahimi/DGB, Heidi Reichinek/Die Linke, Hanna Schürmann/IG Metall) Magazin Mitbestimmung

Social Media: Späte Aufholjagd

Ausgabe 04/2025

Lange haben Gewerkschaften Tiktok links liegen lassen. Jetzt wollen sie verlorenes Terrain zurückgewinnen. Von Andreas Schulte

Mit ein bisschen mehr Zeit für ihre Arbeit würden Sascha Döring und Daniel Rehn noch mehr junge Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter erreichen. Davon sind die beiden Social-Media-Verantwortlichen der EVG überzeugt. Aber ein bis fünf hochqualitative Posts täglich auf der Plattform Tiktok abzusetzen, das Pensum schaffen sie beim besten Willen nicht. Ärgerlich nur, dass erst bei dieser Schlagzahl der geheime Tiktok-Algorithmus Beiträge mit deutlich höherer Reichweite als üblich verbreitet.

„Natürlich wären virale Videos schön, aber unser Account hat ein anderes primäres Ziel“, sagt Rehn. „Wir wollen Mitglieder informieren und potenzielle Mitglieder ansprechen.“ Die Bahn stellt jährlich rund 6000 Auszubildende ein. Genau diese Zielgruppe adressieren Rehn und Döring, denn Tiktok ist die Plattform für die Jüngeren. Dazu produzieren die beiden in Eigenregie zum Beispiel einen kurzen Post über das Recht auf einen Arztbesuch auch während der Arbeitszeit. Daniel filmt meist, Sascha steht vor der Kamera. „Viele Reaktionen der User zeigen, dass wir die richtigen Themen setzen“, sagt Döring. Mit mehr Reichweite und mehr Posts könnte die EVG indes zusätzlich komplexere gewerkschaftliche Themen platzieren. Bei nur ein bis zwei Beiträgen pro Woche folgen dem EVG-Account „deineevg“ gut 1000 Tiktok-User.

Damit steht die EVG sinnbildlich für das Engagement von Gewerkschaften auf Tiktok: Sie sind Spätstarter und dabei, verlorenen Boden gutzumachen. So sind der DGB, die EVG, die IGBCE, die GdP seit rund einem Jahr auf Tiktok, die IG Metall seit 2023, Verdi seit 2022. Mittlerweile verzichten nur noch die IG BAU, die NGG und die GEW auf zentral gesteuerte Accounts. Tiktok ist seit 2018 in Deutschland aktiv.

Lange zeigten Gewerkschaften der chinesisch gesteuerten Plattform die kalte Schulter. Aus gutem Grund: Denn Tiktok steht im Verdacht, Daten an chinesische Stellen weiterzugeben. Posts leisteten zudem Desinformation Vorschub und unterwanderten die Demokratie. Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter warf Tiktok gar Spionage vor.

Doch die Gewerkschaften stehen vor einem Dilemma. Verzichten sie weiterhin auf Tiktok, werden sie von der jungen Generation nicht mehr wahrgenommen. In Deutschland sind fast zehn Millionen Menschen unter 25 Jahren auf Tiktok. „Viele von ihnen nutzen keine andere Informationsquelle“, weiß Henrik von Janda-Eble, Geschäftsführer der Nürnberger Markenagentur Stilbezirk, die unter anderem politische Organisationen in Social-Media-Angelegenheiten berät. Er sagt deshalb: „Wenn man diese jungen Leute nicht bei Tiktok abholt, holt man sie nirgendwo ab.“

Das Problem: Tiktok bringt Gewerkschaften in Versuchung, Methoden anzuwenden, die sie ablehnen. „Der Tiktok-Algorithmus liebt Populismus“, sagt von Janda-Eble. Verbreitung findet, was zugespitzt, emotional und personalisiert rüberkommt. „Wer sachlich aufklärt, kämpft mit stumpfem Schwert. Gewerkschaften müssen sich womöglich neu erfinden, ohne alte Werte über Bord zu werfen.“ So verzichtet die IG BAU auf Tiktok und bevorzugt andere Medien. Es fehle das Personal, um Posts zu produzieren und den Account zu pflegen. Außerdem setze man auf eigene Newsletter, um unabhängig von Betreibern großer Plattformen zu bleiben, sagt Sprecher Frank Tekkiliç. Yasmin Fahimi prägt den DGB-Account starkmituns. Doch Gewerkschaften mit mehr Mitgliedern versuchen zunehmend, den Nerv des Tiktok-Algorithmus zu treffen, ohne die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen. Fast 17 000 Follower zählt der Account „wirsindverdi“ – Rekord unter den Gewerkschaften im DGB. Ein Selbstläufer war das nicht, berichtet Cornelia Berger, Leiterin Kommunikation und Marketing in der Verdi-Bundesverwaltung: „Unser Account war zunächst eine Spielwiese und dümpelte vor sich hin. Es reicht nicht, unsere Inhalte von Facebook und Instagram eins zu eins zu übernehmen. Der Tiktok-Algorithmus greift sie dann kaum auf.“

Mittlerweile hat die Dienstleistungsgewerkschaft ihren Umgang mit Tiktok professionalisiert. Die Social-Media-Abteilung produziert rund dreimal pro Woche Posts. Dafür steckt sie die Köpfe regelmäßig zusammen. „Auf ein Brainstorming folgt ein Skript, das diskutiert und verbessert wird“, beschreibt Berger. Das dauert vier bis fünf Stunden. Erst dann wird produziert. Besonders herausfordernd und zugleich entscheidend sei es, komplexe Themen auf eine Kernbotschaft herunterzubrechen. „Allerdings ist es ein Mythos, dass Tiktoks kurz sein müssen, um erfolgreich zu sein. Es ist mehr möglich als nur Parolen“, sagt Berger. Besonders die Posts im Bundestagswahlkampf seien gut gelaufen.

Grafik zu den beliebtesten Medien

Wie wichtig Tiktok im gesellschaftlichen Diskurs ist, zeigt eine Auswertung politischer Posts aus dieser Zeit. So stammen – gemessen an der Zahl der Reaktionen – die zwei populärsten Posts des vergangenen Bundestagswahlkampfs von Tiktok. Einer davon stammt von der Linken Heidi Reichinnek. Dies hat das Media-Analysehaus Unicepta ermittelt. Dabei haben andere Netzwerke wie Youtube, Facebook und Instagram deutlich mehr Nutzer. „Diese Wahl war eine Tiktok-Bundestagswahl“, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Marcus Bösch. Er betreibt den Newsletter „Understanding Tiktok“. Seine These lautet: Je mehr Demokraten sich auf Tiktok bewegen, desto wahrscheinlicher ist es, dass demokratische Inhalte Reichweite erlangen.

Ein verlässliches Rezept für erfolgreiche Tiktok-Posts wäre also ein Schlüssel zu mehr Demokratie. Nicht nur Verdi sucht noch danach – trotz der Unterstützung durch eine Agentur. „Der Algorithmus ist ein Buch mit sieben Siegeln. Keiner kennt ihn, und er scheint sich ständig zu ändern“, sagt Berger. Doch auch ohne Patentrezept arbeitete Verdi gerade zuletzt erfolgreich. Allein im vergangenen Monat ist der Account um rund eintausend Follower angewachsen. „Ein sehr schöner Sprung“, sagt Berger. Es soll nur der Beginn einer größeren Tiktok-Offensive sein. Die Gewerkschaft hat ihre Social-Media-Redaktion gerade erst um zwei Kräfte erweitert. „Beide sind jünger als der Durchschnitt unserer Mitglieder, kommen aus dem Umfeld von Verdi und beide kennen sich mit Tiktok aus“, sagt Berger. „Wir beginnen so mit dem Aufbau eines Influencerteams.“

Grafik zum Vertrauen in klassische Medien

Dies sei der richtige Weg, findet Experte von Janda-Eble. „Für populäre Gesichter auf Tiktok braucht man Spezialisten, die Form und Sprache des Mediums beherrschen.“ Dies hat auch der Deutsche Gewerkschaftsbund lernen müssen. Der DGB hat schon einiges ausprobiert auf Tiktok. Schnellschüsse, Hochglanzproduktionen, Ausschnitte aus Talkshows mit der Vorsitzenden Yasmin Fahimi. Der durchschlagende Erfolg lässt noch auf sich warten. „Es gelingt uns noch nicht, persönliche, authentische Videos zu schaffen“, sagt Kathrin Biegner, verantwortlich für Social-Media-Beiträge. Ein weiteres Problem: „Die Sprache auf Tiktok ist häufig sehr zugespitzt, aggressiv oder extremst selbstironisch, aber wir haben bisher andere Sprachregeln“, sagt sie. Im Herbst will der DGB eine nächste Tiktok-Offensive starten. Schon jetzt unterstützt der Gewerkschaftsbund einzelne Aktive, die in persönlichen, regionalen oder zielgruppenspezifischen Kanälen für Gewerkschaften unterwegs sind. Sein Content-Netzwerk dient als Austauschplattform und hilft Tiktokern mit einer Messenger-Gruppe, mit Workshops und einer umfangreichen Datenbasis. Denn: „Tiktok ist eigentlich weniger ein Kanal für Organisationen als für individuelle Creators“, weiß Biegner.

Diese These bestätigt der Erfolg von Hanna Schürmann. Die 25-Jährige ist in der Jugend der IG Metall aktiv, Teil des DGB-Content-Netzwerks und eines der Gesichter des Kanals „igmetaller_innen“. Der Account stammt aus der Zielgruppenarbeit der IG Metall und richtet sich vor allem an jugendliche Frauen. Schürmanns erfolgreichster Post wurde fast drei Millionen Mal angeschaut. Regelmäßig erreicht sie mehr als einhunderttausend Menschen.

„Ich bin sehr Social-Media-affin“, sagt Schürmann. „Das ist eine wichtige Voraussetzung für Erfolg.“ Wenn man einen reichweitenstarken Spot produzieren wolle, müsse vieles passen. „Das Produktionsteam und ich müssen Spaß haben, und wer vor der Kamera steht, muss von der Gewerkschaftsarbeit überzeugt sein.“ Ihr Engagement sieht sie auch als Verpflichtung. „Wir Jugendliche dürfen nicht nur fordern, wir müssen auch liefern.“ Bei Gewerkschaften erkennt sie Nachholbedarf im Umgang mit Tiktok. Ein Mittel für mehr Tempo bei der anstehenden Aufholjagd? „Manchmal wünsche ich mir, dass wir Jugendliche bei diesem Thema intern mehr Gehör finden.“

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