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Magazin Mitbestimmung

Zwischenruf: Sonderschicht für Sisyphus

Ausgabe 05/2014

Sozialpolitik hat ihren Platz in einem demokratisch verfassten Europa. Dafür braucht das Parlament ein starkes Mandat. Doch wird es unumgänglich sein, weitere wirtschafts-und sozialpolitische Kompetenzen auf die EU zu übertragen. Von Manfred Weiss

Die sozialen Verwerfungen, die ein problematisches Krisenmanagement vor allem in den Ländern Südeuropas ausgelöst hat, geben allen Anlass zur Sorge. Doch wäre es verfehlt, in Resignation und anachronistischen Europaskeptizismus zu verfallen. Es geht darum, sich das Potenzial der Europäischen Union (EU) auch im sozialpolitischen Bereich bewusst zu machen und dafür zu sorgen, dass es reaktiviert wird. Eine Momentaufnahme reicht dafür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte des europäischen Projekts.

Der ursprüngliche Vertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 war durch sozialpolitischen Minimalismus gekennzeichnet. Ziel war einzig und allein die Errichtung eines gemeinsamen Marktes. Dies sollte durch Marktfreiheiten und möglichst ungebremsten Wettbewerb erreicht werden. Würde, so die ursprüngliche Vorstellung, der gemeinsame Markt installiert und erfolgreich sein, würde sich der soziale Fortschritt gewissermaßen von alleine einstellen. Diese naive Sichtweise erwies sich sehr bald als Trugschluss.

Inzwischen ist die Sozialpolitik im Vertrag fest verankert. Der europäische Gesetzgeber verfügt über weitreichende Kompetenzen für arbeits- und sozialrechtliche Regelungen. Für viele arbeitsrechtliche Fragen wurde die Gesetzgebung dadurch erleichtert, dass statt der Einstimmigkeit im Rat nur noch eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist. Das Gewicht des EU-Parlaments in der Gesetzgebung wurde durch das Mitentscheidungsverfahren gestärkt. Und schließlich wurde die soziale Dimension der EU vor allem dadurch aufgewertet, dass in die durch den Lissabonner Vertrag rechtsverbindlich gewordene Charta der Grundrechte der EU unter der Überschrift „Solidarität“ soziale Grundrechte aufgenommen wurden.

Auch der europäische Gesetzgeber ist nicht untätig geblieben. Zahlreiche Richtlinien, etwa im Bereich der Arbeitssicherheit, des Schutzes der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen, bei Betriebsübergängen oder im Falle der Insolvenz des Arbeitgebers, zu atypischen Arbeitsverhältnissen oder zur Arbeitszeit, haben das Mindestniveau innerhalb der Gemeinschaft nicht nur harmonisiert, sondern für eine Reihe von Mitgliedsländern angehoben. Kaum zu überschätzen ist der Effekt der Richtlinien zum Verbot der Diskriminierung nicht nur wegen des Geschlechts, sondern wegen vieler anderer Faktoren. Die Umsetzung gerade dieser Richtlinien ging auch in Deutschland nicht ohne das Katastrophenszenarien ausmalende Wehgeschrei der Arbeitgeberseite vonstatten. Und mit der Entsenderichtlinie, die demnächst von einem Rechtsakt zur effektiveren Durchsetzung begleitet werden soll, wurde der – immer noch verbesserungsbedürftige – Versuch unternommen, die Auswirkungen der Dienstleistungsfreiheit erheblich abzumildern. Erinnert sei daran, dass diese Richtlinie überhaupt nur dadurch möglich wurde, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Rechtsprechungslinie entwickelt hatte, die im Interesse des Arbeitnehmerschutzes Einschränkungen der Marktfreiheiten weit über den Vertragstext hinaus erlaubt. Über den engen Wortlaut des Vertrages hinaus hat der EuGH Beschränkungen dann zugelassen, wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt und zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich sind, wobei entscheidend ist, dass das Gericht den Arbeitnehmerschutz als Grund des Allgemeininteresses begreift.

Die im sozialpolitischen Bereich jedoch größte Leistung des europäischen Gesetzgebers ist darin zu sehen, dass er die lediglich in einigen Mitgliedstaaten verankerte Idee der Arbeitnehmermitwirkung europaweit ausgedehnt und so verfestigt hat, dass auch in den Ländern, die solcher Kooperation zuvor ablehnend gegenüberstanden, ein Ausscheren unmöglich erscheint. Ein Mindestniveau von Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter ist überall in der EU durchgesetzt. Im transnationalen Kontext sind die Europäischen Betriebsräte als wichtige Akteure nicht mehr wegzudenken. Und die Arbeitnehmermitwirkung in den Gremien der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) gewinnt an Boden.

Neben der Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte der EU, die dem EuGH weitreichende Möglichkeiten zur Entwicklung und Verstärkung von Schutzpositionen für die Arbeitnehmer eröffnet, hat der Lissabonner Vertrag, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, noch zwei für die Sozialpolitik wesentliche Neuerungen gebracht. So ist jetzt die „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“, wie es in Artikel 3 des EU-Vertrages (EUV) heißt, das anzustrebende Leitbild und nicht mehr nur die an Wettbewerb orientierte Marktwirtschaft. Und Artikel 9 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) verpflichtet die EU, bei Festlegung und Durchführung ihrer Politik „den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes“ und „mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“ Rechnung zu tragen.

Die Sozialpolitik der EU ist alles andere als ideal. Sie kann jedoch Erfolge vorweisen, an die bei Beginn des Projekts im Jahre 1957 niemand zu denken gewagt hätte. Dass diese Erfolgsgeschichte zunehmend in den Hintergrund tritt, ist angesichts der aktuellen sozialpolitischen Verwerfungen nicht verwunderlich. Doch ist es wenig hilfreich, die EU als angeblich neoliberales Gebilde abzuqualifizieren und unreflektiert auf den EuGH einzuschlagen, wenn er Entscheidungen fällt, die nicht in jeder Hinsicht progressiven Vorstellungen entsprechen.

Inzwischen ist man sich einig, dass die Krise der Währungsunion vor allem darauf beruht, dass die Vergemeinschaftung der Währung nicht durch eine stärkere Integration der Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik unterfüttert wurde. Es wird kein Weg daran vorbeigehen, diesen Fehler baldmöglichst zu beseitigen. Insoweit sind auch die Gewerkschaften aufgerufen, durch transnationale Koordination ihrer Tarifpolitik einen Beitrag zu leisten. 

Im Übrigen darf nicht vergessen werden, dass die austeritätspolitischen Maßnahmen, unter denen vor allem die Menschen in den Ländern Südeuropas zu leiden haben, im entscheidenden Punkt (nämlich im Hinblick auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus – EMS) nicht im Wege europäischen Rechts und am EU-Parlament vorbei weitgehend in einem Verfahren getroffen wurden, das so nicht im Vertrag vorgesehen ist, sondern auf völkerrechtlicher Basis beruht. Dabei kommt der Kommission und den Mitgliedstaaten eine maßgebende Rolle zu. Diese primär von der Exekutive verantwortete Politik leidet an einem gravierenden demokratischen Defizit. 

Deswegen ist es von vorrangigem Interesse, das Europäische Parlament, dem baldmöglichst auch das Initiativrecht zur Gesetzgebung eingeräumt werden sollte, zu stärken und bei der anstehenden Wahl dafür zu sorgen, dass es in seiner Mehrheit dem sozialen Fortschritt verpflichtet ist. Die durch das Parlament gewährleistete demokratische Legitimation ist Voraussetzung für die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung. Eine hohe Wahlbeteiligung würde diesen Demokratisierungsprozess beschleunigen. Die EU hat das Potenzial zu vernünftiger und nachhaltiger Sozialpolitik. Ein progressiv ausgerichtetes Parlament könnte im Zusammenwirken mit den anderen Organen der EU dafür sorgen, dass dieses Potenzial endlich wieder abgerufen wird. Dafür braucht das Parlament ein starkes Mandat.

Manfred Weiss ist emeritierter Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Frankfurt am Main

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