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Magazin Mitbestimmung

Forschung: So sieht Konsensfindung aus

Ausgabe 11/2012

Eine Untersuchung der Sprache von Aufsichtsräten und insbesondere der Art und Weise, wie über Entscheidungs- und Konsensfindung im Aufsichtsrat gesprochen wird, verrät viel über das Selbstverständnis seiner Mitglieder.

Forschung zu Aufsichtsräten konzentriert sich meist auf Fragen der Effizienz, ihrer Hintergründe und ihrer Messung. Konsens wird dabei als eine wesentliche und zugleich selbstverständliche Bedingung für die Effizienz des Gremiums angesehen. Aber: Ist Konsensfindung tatsächlich so einfach? Und objektiv feststellbar? Oder haben wir es hier nicht mit einem sehr komplexen Gegenstand zu tun, der sozial konstruiert wird und jeweils unterschiedlich konnotiert ist?

Dass Metaphern wichtig für unser Denken und Sprechen sind, wissen wir spätestens seit dem klassischen Werk der US-amerikanischen Linguisten George Lakoff und Mark Johnson. Metaphern helfen uns vor allem dabei, komplexe Phänomene zu begreifen und zu verstehen. Dabei geht es nicht nur um die unmittelbar verwendeten Sprachbilder, sondern auch um tiefer liegende metaphorische Verständnisse, die durch bestimmte Sprachweisen zutage treten. Auch die Denkweisen über Organisationen und komplexe organisatorische Prozesse, zu denen zweifellos auch die Konsensfindung in Gruppen wie Aufsichtsräten gezählt werden kann, sind metaphorisch geprägt.

In einer gemeinsamen Studie der Universitäten von Chemnitz und Regensburg wurden über 70 Interviews mit deutschen Aufsichtsräten (Frauen wie Männer, Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter, neue und alteingesessene Aufsichtsratsmitglieder) geführt und ausgewertet. Im Vordergrund stand die Frage, wie sich Aufsichtsräte den Konsens und die Konsensfindung vorstellen und sie verbildlichen, vor allem, welche Leitmetaphern sie für die Beschreibung der Konsensfindung verwenden. Aus dem Interviewmaterial konnten insgesamt fünf dominante Metaphern gewonnen werden, auf denen die Konsensverständnisse in unterschiedlicher Intensität beruhten:

1. Der mikropolitische Prozess

Ein mikropolitisches Verständnis von Konsens taucht in fast zwei Dritteln aller Interviews auf. Konsens wird als ein Ergebnis von vielfältigen, mitunter auch kämpferischen Aushandlungsprozessen innerhalb des Aufsichtsrates aufgefasst. Laut diesem Verständnis stehen sich zwei Gruppen – die Arbeitnehmer- und die Anteilseignervertreter – streng gegenüber. Bei der Konsensfindung geht es entsprechend darum, die jeweils andere Gruppe in irgendeiner Weise zu überzeugen, für sich zu gewinnen. Kämpferische Semantik („dann gibt es Kampf und Auseinandersetzungen“, „das Ringen um den Kompromiss“) beschreibt die Auseinandersetzungen. Darüber hinaus finden sich aber auch vielfältige Hinweise auf subtile Prozesse („die andere Seite aushorchen“, „Stimmungen ausloten“, „das Ohr auf der ganzen Schiene haben“, „Überzeugungsarbeit leisten, denn eine solch wichtige Entscheidung kann man nicht mit der Brechstange machen“), um die eigene Position zu stärken und durchzusetzen. Dazu ist es auch notwendig, die eigene Bank zu überzeugen („alle auf eine Linie bringen“). Ungeachtet aller Kampfrhetorik wirkt sich der gemeinsame Auftrag solidarisierend aus: „Es bringt nichts, wenn wir uns die Augen auskratzen, selbst bei aller Schärfe des Geschäfts muss man hinterher auch wieder zusammensitzen.“ Konsens auf der eigenen Bank, aber auch Konsens im Gesamt-Aufsichtsrat wird letztlich als ein Zeichen der Stärke des Gremiums aufgefasst, Dissens entsprechend als Schwäche, die auch Probleme bereitet, eine bestimmte Entscheidung gegenüber anderen Akteuren und Gruppen vertreten zu können, weil man damit „demonstriert, dass man seinen eigenen Laden nicht im Griff hat“.

2. Der produktive Prozess

In rund der Hälfte aller Interviews wird Konsens als das Ergebnis eines produktiven Prozesses verstanden. Konsens ist „hart verdientes Brot“, das „viel Schweiß, viel Mühe und viele Diskussionen“ erfordert. Debatten auf Aufsichtsratsebene sind entsprechend dazu da, Konsens „herzustellen“ und „eine Meinungsbildung zu machen“. Dazu ist es notwendig, „in Ruhe und Frieden zu arbeiten“ oder „Themen vernünftig zu diskutieren“. Dennoch kommt es mitunter vor, dass „ziemlich viel Druck im Kessel ist“. Auch eine gute Vorbereitung, um das Plenum von „mühseligen Diskussionen“ zu befreien, ist hier wichtig: „Dass da schon mal ein kleiner Schliff hier und ein kleiner Schliff da stattfindet, ist normal.“ Zugleich wird dabei vermieden, dass „irgendeiner in einen Fraktionszwang reingegossen wird.“
Im Gegensatz zur mikropolitischen Perspektive ist der Aufsichtsrat hier weniger ein Gremium von zwei oppositionellen Gruppen, sondern vielmehr ein Team von Ingenieuren oder Facharbeitern, die in einem intensiven Dialog und in enger Kooperation ein hochwertiges Produkt, hier Konsens, erarbeiten, auch wenn das Team mal der gesamte Aufsichtsrat, mal die eigene Bank ist: „Wir sind in der Vorprägung dabei und gehen dann zurück zu unserer Mannschaft.“

3. Der rationale Prozess

Eine rationale Sichtweise auf Konsensfindung lässt sich in etwa einem Viertel aller Interviews finden. Hier wird davon ausgegangen, dass eine Art Rezept für Konsensfindung existiert, dem es zu folgen gilt, um erfolgreich zu sein. Dieses Rezept sieht vor allem eine ausreichende Informiertheit aller Beteiligten vor, sodass der Konsens eine Funktion des Informationsflusses ist. „Wenn man lösungsorientiert an den Sachfragen entlangarbeitet, ist die Teilhabe kein Nachteil in den Entscheidungsprozessen.“ In naturwissenschaftlich anmutender Manier wird angenommen, dass erst eine umfassende Informationslage und eine möglichst emotionsfreie Diskussion die Konsensfindung ermöglichen („wirklich auch auf der Sachebene Argumente austauschen“). Mehr noch: Sobald eine genügende Informiertheit aller Beteiligten vorliegt, stellt sich Konsens gewissermaßen automatisch ein. Unterschiedliche Kompetenzen und professionelle Hintergründe sind wichtige sekundäre Elemente der Konsensfindung, weil dadurch jedes Aufsichtsratsmitglied die Kollegen zu seinem Gebiet „updaten“ und damit zum Konsens beitragen kann. „Es ist wie in einem Team, wo jeder sich mit seinen Stärken einbringt.“ Sobald das geschehen ist und alle Aufsichtsratsmitglieder ausreichend informiert (und vernünftig) sind, kann Dissens eigentlich nicht mehr auftreten. „Die Lösung von Konflikten verläuft in der Regel über eine umfassende Diskussion. Eventuell wird eine Entscheidung auch nochmals verschoben, um mehr Informationen einholen zu können.“

4. Der ästhetische Prozess

Die ästhetische Perspektive, die in etwa einem Siebtel aller Interviews festzustellen ist, gründet in einem Gegensatz von Konsens und Dissens. Während der Letztere als „hässlich“ und „unangenehm“ beschrieben wird, gilt Konsens als „nett“, „schön“, „angenehm“: „Natürlich ist es schöner, wenn man einstimmig ist.“ Konsens steht für Ordnung, Dissens für Chaos. „Freies Spiel der Kräfte hatten wir noch nicht, wollen wir auch nicht.“

Konsens kommt oft dadurch zustande, dass Aufsichtsräte sich einer gemeinsamen Unternehmensgeschichte verpflichtet fühlen: „Es ist hier etwas kollektiver, was zum Teil auch daran liegen mag, dass einige Vertreter der Arbeitgeberseite von Anfang an dabei sind und auch das Wachsen miterlebt haben.“ Vor allem im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Metaphern impliziert Konsens als ästhetischer Prozess einen eher passiv beobachtenden Aufsichtsrat, der aus Ästheten und Hedonisten besteht, welche zwar das Ergebnis bewundern, sich aber weniger für sein Zustandekommen interessieren.

5. Der bürokratische Prozess

Die letzte Metapher (in einem Achtel aller Interviews zu beobachten) versteht Konsens als Ergebnis eines bürokratischen Prozesses, der gewissen Regeln und Ritualen folgt. Jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied hat hier eine bestimmte Rolle, und alle sind dem Unternehmenswohl verpflichtet: „Denn die Leitschnur für den Aufsichtsrat ist ja das Unternehmensinteresse. Ihm sind wir verpflichtet. So steht das überall.“

Konsens ist entsprechend ein implizit „vorgegebenes Ziel“ und damit unvermeidlich, während Dissens, ungeachtet der unterschiedlichen Bänke, hier kaum auftreten kann. Diskussionen sind hier eher Teil eines Rituals. Und solange Rituale und Regeln eingehalten werden, stellt sich Konsens so gut wie automatisch ein. „Die Aufsichtsratssitzung selber ist letztendlich ein Verwaltungsvorgang.“ Mehr noch als bei der Ästhetik-Metapher sind die Mitglieder des Aufsichtsrats hier passive Teilnehmer, die klare Rollen und Rituale befolgen und möglichst den Konsens-Automatismus nicht stören sollen, aber auch nicht wollen.
 
NIEDERSCHLAG IN DER PRAXIS

Auch für Aufsichtsräte ist Konsens nicht gleich Konsens. Das dürfte auch für den Alltag in Aufsichtsräten nicht folgenlos sein. Aufsichtsratsmitglieder mit unterschiedlichen Konsens-Metaphern, so kann vermutet werden, praktizieren auch unterschiedliche Verhaltensweisen bei der Konsensfindung. Solche, die vorwiegend eine Produktivitäts-Metapher verwenden, sehen Entscheidungen als gut und akzeptabel an, wenn sie intensiv diskutiert worden sind. Die Vertreter der Mikropolitik-Metapher dagegen sind wahrscheinlich weniger an langen Plenumsdiskussionen interessiert, um offene Konflikte der eigenen Gruppe nicht offenzulegen, und favorisieren eher vorbereitende Sitzungen. Die Anhänger des Bürokratieverständnisses und der Ästhetik-Metapher ziehen es möglicherweise vor, geduldig abzuwarten, als aktiv tätig zu werden.

Interessanterweise zeigen sich zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter kaum wesentliche Unterschiede bezüglich der Verbreitung von metaphorischen Verständnissen. In beiden Gruppen dominieren die Mikropolitik- und die Produktions-Metapher, auch wenn sie von den Arbeitnehmervertretern noch häufiger verwendet werden als von den Anteilseignervertretern. Unterschiede sind vielmehr zwischen einzelnen Aufsichtsräten, eventuell auch zwischen Branchen zu erwarten. Wo immer Aufsichtsratsmitglieder mit grundsätzlich unterschiedlichen Konsensverständnissen aufeinandertreffen, sind Konflikte wahrscheinlicher – denn die Metaphern stehen nicht nur für unterschiedliche rhetorische Ausschmückungen, sondern für divergierende grundlegende Überzeugungen darüber, was gut, richtig und wichtig ist in der alltäglichen Aufsichtsratsarbeit.

Text: Thomas Steger, Professor für Führung und Organisation an der Universität Regensburg, und Irma Rybnikova, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Chemnitz 

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