Rätselhaftes Fundstück: Skandalurteil

Ausgabe 06/2025

Im Jahr 1927 werden in den USA die beiden italienischen Einwanderer Sacco und Vanzetti hingerichtet. Sie sollen einen Raubmord begangen haben. Doch die Beweise gegen die beiden sind dürftig, Das Urteil wird zum Skandal. Von Guntram Doelfs

Mit Handschellen aneinander und an einen Bewacher gekettet, sitzen Nicola Sacco (Bild rechts) und Bartolomeo Vanzetti (Bild Mitte) auf einer Bank im Gerichtsgebäude der US-Stadt Dedham in Massachusetts. Die italienischen Einwanderer werden verdächtigt, einen Raubmord begangen zu haben. Es ist ein denkwürdiger Prozess, der wegen seiner offensichtlichen Unfairness in die Annalen der US-Justizgeschichte eingehen wird. Sacco und Vanzetti wird er nach jahrelanger Haft das Leben kosten.

Die beiden italienischen Einwanderer leben in der Nähe von Boston. Sacco stammt aus Torremaggiore in Apulien, ist bettelarm und wird es auch lange bleiben. Erst als er die Facharbeiterausbildung in einer Schuhfabrik abschließt, verdient er etwas mehr Geld. Auch Vanzetti ist ein armer Schlucker. Der gebürtige Piemonteser schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und besitzt einen Fischkarren, von dem er Aale verkauft.

Im Jahr 1917 lernen beide sich kennen, denn sie teilen gemeinsame politische Überzeugungen. Sie sind Anhänger des kommunistischen Anarchisten Luigi Galleani, der in den USA das kapitalistische System stürzen will – auch mit Gewalt. Die beiden schreiben bis zum Verbot 1918 für seine italienischsprachige Zeitung Cronaca Sovversiva, auf Deutsch „subversive Chronik“. Galleanis Anhänger schrecken auch vor Bombenanschlägen nicht zurück. Ob Sacco und Vanzetti selbst an gewaltsamen Aktionen beteiligt waren, ist allerdings unbelegt.

Die Kombination „Migrant“ und „radikal“ reicht in den Augen vieler Amerikaner, sie zu suspekten Personen zu machen. Das wird eine große Rolle spielen, als am 15. April 1920 fünf Gangster den Zahlmeister einer Schuhfabrik in South Braintree bei Boston überfallen. Sie erbeuten 15.976 Dollar und erschießen den Zahlmeister und einen Wachmann. Die Täter können flüchten, doch sehr schnell werden zwei Männer verhaftet und angeklagt: Es sind Sacco und Vanzetti. Beide haben bei der Verhaftung Waffen dabei und verwickeln sich bei der Befragung in Widersprüche. Dennoch ist die Beweislage mehr als dürftig: Beide haben ein Alibi. Mehr als ein Dutzend Zeugen geben zu Protokoll, dass die Angeklagten zur Tatzeit woanders waren. Zu einer vermeintlich von Sacco abgefeuerten Kugel gibt es unterschiedliche Gutachten. Dafür macht Richter Webster Thayer während des laufenden Prozesses deutlich, wie sehr er Italiener und besonders Anarchisten verachtet und hasst. Die Angeklagten werden am 14. Juli 1921 von den Geschworenen schuldig gesprochen.

Es kommt zu weltweiten Massenprotesten, weil der Prozess offenkundig unfair geführt wird. Botschaften der USA müssen in etlichen Ländern beschützt werden. Zahlreiche Prominente, darunter der Nobelpreisträger Albert Einstein, setzen sich für die Verurteilten ein. Jahrelang versuchen die Anwälte, eine Berufung zu erreichen. Richter Thayer schmettert alle Versuche ab. Er verurteilt die Angeklagten zum Tode. Nach Jahren in Haft sterben beide am 22. August 1927 auf dem elektrischen Stuhl.

Ob sie zu den Tätern gehören, wird sich wohl nie mehr aufklären lassen. Für viele Linke wird ihr Schicksal zum Symbol der Unterdrückung durch die Mächtigen und die Mainstream-Kultur. Im Jahr 1935 widmet die Folk-Legende Woody Guthrie den beiden den Song „Two Good Men“. Am berühmtesten ist aber wohl „Here’s to you“ von Joan Baez aus dem 1971 erschienenen italienischen Spielfilm „Sacco und Vanzetti“. Baez erobert damit
die Charts, auch in vielen europäischen Ländern. Die Hingerichteten werden damit endgültig zu einem Symbol der Popkultur.

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Rätselfragen

1. Den Soundtrack zum Spielfilm „Sacco und Vanzetti“ (1971) steuerte ein berühmter italienischer Filmkomponist bei. Von wem stammt der Soundtrack?
2. Am Tag nach der Hinrichtung fand in einer deutschen Großstadt eine der größten Protestdemonstrationen der Weimarer Republik statt, an der rund 150 000 Menschen teilnahmen. Welche Stadt ist gemeint?
3. Die Zeit von 1917 bis 1920 war in den USA zunehmend geprägt von einer Hysterie gegen kommunistische und anarchistische Bewegungen, die nach Ende des Ersten Weltkrieges auch in den USA an Boden gewannen. Wie wird diese Phase genannt?

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