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Magazin Mitbestimmung

Von ANNETTE JENSEN: Seit 17 Jahren im Callcenter, das reicht

Ausgabe 09/2016

Portrait Denis Schaumann arbeitet bei der Bertelsmann-Tochter Arvato. Obwohl er IT-Arbeit macht, wird er mit 11 Euro die Stunde als Callcenteragent bezahlt. Und kommt nicht von der Stelle. Jetzt macht er das Abitur nach. Und will studieren.

Von ANNETTE JENSEN

Sein halbes Leben arbeitet Denis Schaumann im Dortmunder Callcenter der Bertelsmann-Tochter Arvato. Als er 1999 nach der Hauptschule dort anfing, verdiente er für sein eigenes Empfinden nicht schlecht. „Faktisch ist mein Lohn seither aber immer weiter gesunken, weil die Gehaltserhöhungen niemals die Inflation ausgeglichen haben.“ Rund 11 Euro brutto bekommt der 34-Jährige heute pro Stunde. Dafür betreut er per Hotline das Kassensystem der O2-Läden. Gibt es ein Problem, rufen deren Mitarbeiter an und er sucht mit ihnen den Fehler oder löst ihn per Fernwartung.

Das ist eigentlich die Tätigkeit eines Systemadministrators – doch bezahlt wird Denis Schaumann als Callcenteragent. Noch schlechter stehen Kollegen da, die erst 2015 angefangen haben, berichtet der vor zwei Jahren gewählte Betriebsrat. Arvato nutzte die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, um das Entgelt für Neueinsteiger auf 8,50 Euro zu reduzieren. Die Firma ist ein Outsourcing-Dienstleister und beschäftigt nach eigenen Angaben 70.000 Menschen in 40 Ländern. Weil die Callcenter dezentral organisiert sind, ist es einfach für die Geschäftsführungen, die Belegschaften der verschiedenen Standorte gegeneinander auszuspielen. Ein Tarifvertrag existiert nicht, nur etwa zehn Prozent seiner 1100 Kollegen in Dortmund sind bei ver.di organisiert, berichtet Schaumann frustriert; er selbst ist vor zweieinhalb Jahren eingetreten.

Denis Schaumann will seine Situation verändern. Er hat den Realschulabschluss nachgeholt. Nun lernt er abends und am Wochenende fürs Abitur. Im nächsten Jahr möchte er fertig sein. Und dann studieren. Dass er erst jetzt, mit 34 Jahren, diesen Weg einschlagen kann, hat viele Gründe. Kurz vor dem Mauerfall war seine Familie in den Westen geflohen. Seine Mutter, ausgebildete Chemielaborantin, hatte große Schwierigkeiten, Fuß zu fassen, fand schließlich eine Stelle im Einzelhandel. Sein Vater, gelernter Schlosser und Schweißer, war dauernd auf Montage. Am Wochenende gab es viel Streit. Denis fühlte sich minderwertig, seine Mitschüler hänselten ihn wegen seines Dialekts, häufig schwänzte er den Unterricht. Als er mit 17 endlich auf eigenen Füßen stand, war er froh.

Das Geld reichte nicht

Er gründete eine Familie. Neben dem Arvato-Job, der ihn von 11.30 bis 20 Uhr beschäftigte, trug er zusätzlich nachts von 2 bis 5 Uhr Zeitungen aus. Auch seine Frau hatte einen Minijob. Doch das Geld reichte nicht für die fünfköpfige Familie, sie musste Aufstockung beantragen. „Es zerstört eine Ehe, wenn man nur noch arbeitet“, sagt Denis Schaumann.

Zwei Jungens blieben nach der Scheidung bei ihm. Für den einen, den seine Ex-Frau mit in die Ehe gebracht hatte, bekommt er 700 Euro Pflegegeld. Schaumann reduzierte seine Stelle auf 30 Stunden und arbeitet jetzt so, dass er am Nachmittag für die Kinder da sein kann. Nachts Zeitungen austragen darf er nicht mehr – Auflage vom Jugendamt. Doch Dank der Zahlung von der Pflegekasse steht er finanziell deutlich besser da als früher. „Im Vergleich zu meinen Kollegen bin ich richtig reich“. Etwa 2000 Euro hat die dreiköpfige Familie im Monat zur Verfügung; 100 Euro gehen für die betriebliche Altersversorgung drauf, die Schaumann 1999 abgeschlossen hat. Was seine stärkste Motivation ist? Seine Kinder sollen es einmal besser haben – und bei der Ausbildung nicht solche Umwege gehen müssen wie er.

Foto: Dirk Hoppe

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