150 Jahre Hans Böckler: Schafft die Einheit! – Aber wie?
Nach dem Zweiten Weltkrieg favorisierte der Gewerkschafter eine starke, zentrale Einheitsorganisation. Sein Plan scheiterte an den westlichen Besatzungsmächten. Die Einheitsgewerkschaft kam trotzdem. Von Knud Andresen
„Es war ein langer Weg“, sagt der hagere Mann im schlecht sitzenden Anzug. „Viele sind nicht mehr da.“ Über dem Saal liegt Stille. 80 Leute sind gekommen, einfach gekleidet. Die Männer haben schwielige Hände und wettergegerbte Gesichter, die wenigen Frauen tragen Kopftücher. Der Hagere – er heißt Mathias Wilms und wird an jenem Tag zum Vorsitzenden der ersten freien deutschen Gewerkschaft nach dem Krieg gewählt – hält das Papier mit der Rede in seinen zitternden Händen. „Die deutschen Gewerkschaften sind von diesem Augenblick an zurück im Leben“, sagt er noch. Dann versagt ihm die Stimme. Noch zweimal setzt er zum Reden an. Dann schüttelt er den Kopf. „Das ist alles“, sagt er und setzt sich.
So beschreibt der US-Militärjournalist Deb Myers die Gründung des Freien Gewerkschaftsbundes in Aachen am 18. März 1945. Während Hitler sich noch im Führerbunker unter der Reichskanzlei verschanzte, war die Stadt im äußersten Westen Deutschlands schon von den Amerikanern befreit worden – und machte den ersten Schritt zum Neuaufbau freier Gewerkschaften.
Zur gleichen Zeit nimmt im 80 Kilometer entfernten, ebenfalls schon befreiten Köln Hans Böckler Kontakt zu früheren Gewerkschaftern auf. Bereits wenige Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht erläutert der bereits 70-Jährige den britischen Militärbehörden sein Konzept einer zentralen Gewerkschaft: Sie sei nicht geplant „als Dachorganisation, sondern als die Einheits- und einzige Gewerkschaft in straffer Zentralisation, 17 Industrie- und Berufsgruppen, jede in sich Arbeiter, Angestellte und Beamte vereinigend“.
„Einheitsgewerkschaft“ ist der prägende Begriff jener Zeit – und Hans Böckler ihr vehementer Verfechter. Aber was heißt „Einheitsgewerkschaft“ überhaupt? Zuerst ist es ein politisches Ziel: Die sozialistischen, christlichen und liberalen Gewerkschaftsströmungen sollen nicht wieder neben- und gegeneinander arbeiten wie bis zu ihrer Zerschlagung nach der Machtübernahme der Nazis 1933, sondern eine gemeinsame, von Parteien unabhängige Organisation aufbauen – übrigens unter Einschluss kommunistischer Gewerkschafter. „Einheitsgewerkschaft“ ist aber auch eine klare Absage an eine berufsständische Organisation. Von nun an soll gelten: „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“.
Doch es bleiben offene Fragen: Ist eine zentrale Gewerkschaft mit branchenbezogenen Abteilungen das Ziel? Oder sollen starke Einzelgewerkschaften in einem Bund vereint werden – so wie wir es bis heute kennen?
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Hunger-Demonstration in Hamburg (1947): Der DGB-Gewerkschafter Adolph Kummernuss (links unten) spricht auf der zentralen Kundgebung. -
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DGB-Plakat zum 1. Mai 1948 in der britischen Besatzungszone: „Stärker als alle Parteien!“ -
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Maifeier in Ost-Berlin (1949): Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) in der DDR wird durch die SED vereinnahmt. -
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Maifeier in Westberlin (1950) vor dem kriegszerstörten Reichstag: Deutschland ist ein geteiltes Land. -
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Hoher Besuch: Bundeskanzler Konrad Adenauer gratuliert Hans Böckler zum 70. Geburtstag.
Böcklers Überlegungen schließen an Planungen für eine zentrale Einheitsgewerkschaft an, die während der NS-Zeit in gewerkschaftlichen Widerstands- und Exilkreisen diskutiert wurden. „Schafft die Einheit“, lautete die Devise. Sogar eine Zwangsmitgliedschaft wie bei der Deutschen Arbeitsfront der Nazis wird erörtert, eine Forderung, die Böckler nicht propagiert, obwohl er sie für sinnvoll erachtet.
Vielerorts folgen die lokalen Gewerkschaftsgründungen Böcklers Organisationsziel. Zugleich entstehen aber auch die ersten autonomen Industriegewerkschaften. Im Oktober 1945 existieren 367 verschiedene Gewerkschaften auf lokaler Ebene. All diese Akteure der ersten Stunde wollen eine parteipolitisch unabhängige Einheitsgewerkschaft, aber in puncto Organisationsform gehen die Vorstellungen weit auseinander.
Böcklers Plan, möglichst zügig eine zentrale Gewerkschaft aufzubauen, scheitert vor allem an den britischen Besatzungsbehörden. Die westlichen Besatzungsmächte sind skeptisch gegenüber einer zonen- oder gar deutschlandweiten Zentralgewerkschaft und fordern einen Gewerkschaftsaufbau von unten – eine Entscheidung, der Böckler sich Ende 1945 beugen muss.
Ob eine zentrale Einheitsgewerkschaft nach 1945 eine realistische Option war, ist aus heutiger Sicht fraglich. Unter vielen der beteiligten Gewerkschafter und der wenigen Gewerkschafterinnen, politisch geprägt durch die harten Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik, dominiert der Wunsch, zu den vertrauten Organisationsformen zurückzukehren. Manche von ihnen – auch die britischen Besatzungsbehörden – befürchten zudem einen zu starken Einfluss der kommunistischen Partei, die in manchen Betrieben eine starke Basis hat. Ein Blick in die sowjetisch besetzte Zone genügt: Anfang Juni 1945 hat die sowjetische Militärverwaltung die Gründung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) zugelassen, einer formal überparteilichen Zentralgewerkschaft mit Branchen- und Industrieabteilungen. Mit dem bald beginnenden Kalten Krieg wird der FDGB zum Transmissionsriemen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Ab 1948 gibt es kaum noch Austausch zwischen den Gewerkschaften in den vier Besatzungszonen. Im Westen wiederum werden ab 1950 kommunistische Gewerkschaftsfunktionäre als Hauptamtliche aus den DGB-Gewerkschaften verdrängt.
Die Entscheidung für einen dezentralen Aufbau der Gewerkschaften in den westlichen Besatzungszonen ist gefallen. In der amerikanischen und der französischen Zone werden ausschließlich lokale Gründungen zugelassen. In der britischen Zone dagegen können Ende 1946 die ersten Industriegewerkschaften – IG Bergbau und IG Metall – gegründet werden. Unumstrittene Führungsfigur ist Hans Böckler, der im April 1947 in Bielefeld zum Vorsitzenden des DGB in der britischen Zone gewählt wird. Erst im Oktober 1949 wird der DGB als bundesweiter Dachverband von 16 Industrie- und Branchengewerkschaften gegründet und Hans Böckler zum Vorsitzenden gewählt.
In einem Punkt bleibt Böckler jedoch konsequent – bei der vollständigen Absage an Berufsgewerkschaften. Bereits 1945 sind Angestelltengewerkschaften gegründet worden, die sich als Einheitsgewerkschaften und Teil der Gewerkschaftsbewegung verstehen. Ihr Organisationsbereich liegt jedoch quer zum Industrie- und Branchenprinzip. Sie nehmen auch Angestellte aus Industriebetrieben auf, was bald zu Konflikten führt. Böckler verlangt, dass sich der Organisationsbereich auf den Handel sowie auf Banken und Versicherungen beschränken soll. Auf einem Gewerkschaftskongress in Recklinghausen im Juni 1948 kommt es zum Bruch. Die 1949 gegründete Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG) bleibt außerhalb des DGB.
Böckler erwartet eine stark gelenkte Wirtschaftsstruktur mit sozialisierten Schlüsselindustrien – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen wird.
Böcklers Motiv für einen starken DGB hat vor allem politische Gründe. Die Gewerkschaften erwarten eine staatlich stark gelenkte Wirtschaftsstruktur mit sozialisierten Schlüsselindustrien – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen wird. Ein starker Zentralverband hätte in einer solchen Wirtschaftsordnung die Interessen der Beschäftigten vertreten. Als charismatischer DGB-Vorsitzender füllt Böckler diese Rolle persönlich aus, gerade auch im Umgang mit politischen Repräsentanten wie Bundeskanzler Konrad Adenauer. Das Scheitern der Sozialisierungspläne und der frühe Tod Böcklers Anfang 1951 schmälern den Einfluss des DGB und seines Vorsitzenden. Die Einzelgewerkschaften entwickeln fortan autonom ihre Strategien.
Organisationsreformen sind seitdem immer wieder debattiert worden. Anfang der 1970er Jahre etwa geht es um eine stärker koordinierende Rolle des DGB gegenüber den Einzelgewerkschaften. Die 1971 angenommene DGB-Satzung sieht eine Stärkung des Bundes vor, zum Beispiel bei der Erarbeitung von tarifpolitischen Grundsätzen. Insbesondere die kleineren Gewerkschaften erhoffen sich dadurch mehr Einfluss. Die Grundstruktur der Organisation bleibt jedoch auch nach der zweiten Satzungsänderung von 1981 bestehen.
In den 1980er Jahren, nachdem gemeinwirtschaftliche Unternehmen wie die Neue Heimat abgewickelt worden sind, spürt der DGB erstmals Geldnöte. Sparprogramme führen zu einem „Rückzug aus der Fläche“, also der DGB-Strukturen in den Kreisen. Hauptamtliche gibt es bald nur noch von der Bezirksebene aufwärts. Trotz des kurzfristigen Mitgliederbooms nach der Wiedervereinigung verschärfen sich die strukturellen Probleme in den 1990er Jahren; auch der Mitgliederschwund der Einzelgewerkschaften nimmt wieder an Fahrt auf. 1994 beschließt der Bundeskongress die Konzentration der Aufgaben des DGB auf die politische Interessenvertretung – bei weiterem Abbau des Personals. In der Organisationsdebatte bewegt sich nicht viel, abgesehen von dem schnell verebbten Vorschlag aus den Reihen kleinerer Gewerkschaften, den DGB zu einer Mitgliederorganisation umzugestalten.
Geprägt sind die 1990er Jahre durch Fusionen und Beitritte. Größte Zusammenschlüsse, darunter die DAG, sind der von fünf Einzelgewerkschaften zur Dienstleistungsgesellschaft Verdi im Jahr 2001 und, vier Jahre zuvor, die Fusion von IG Chemie-Papier-Keramik, IG Bergbau und Energie sowie der Gewerkschaft Leder zur IG Bergbau, Chemie, Energie. Seit dem Jahr 2001 vereint der DGB statt der früheren 16 nur noch acht Gewerkschaften. Die Entwicklung zu starken Einzelgewerkschaften unter einem gemeinsamen Dach scheint unumkehrbar. Hans Böckler könnte damit vermutlich gut leben. Die Idee einer zentralen Einheitsgewerkschaft war ihm eine Zeit lang sehr wichtig. Aber sein eigentliches politisches Vermächtnis macht sie nicht aus.
KNUD ANDRESEN ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Autor zahlreicher Beiträge zur Gewerkschaftsgeschichte.