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Magazin Mitbestimmung

Von GUNTRAM DOELFS: NWI statt BIP: Wohlstand anders messen

Ausgabe 11/2016

Stiftung Der Ökonom Hans Diefenbacher hat ein alternatives Maß für den Wohlstand einer Gesellschaft entwickelt – und für das IMK vor Kurzem nachgerechnet. Doch das Statistische Bundesamt will mit dem Index nicht arbeiten.

Von GUNTRAM DOELFS

Geht es nach den amtlichen Statistiken, müsste es den Deutschen derzeit blendend gehen. So ist zwischen 1991 und 2014 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um fast 30 Prozent gewachsen. Damit wuchs nach landläufiger Meinung auch der gesellschaftliche Wohlstand rasant – trotz des großen Einbruches während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009. Gäbe es da nicht ein Problem: Jeder Ökonomiestudent lernt bereits im Grundstudium, welche methodische Schwächen und Unzulänglichkeiten die Ermittlung des BIP aufweist. Weil es die Betrachtung des gesellschaftlichen Wohlstands auf wirtschaftliche Leistungskennzahlen reduziert, ist das BIP für die Messung des Wohlstandes nur sehr eingeschränkt aussagefähig.

Legen Ökonomen eine größere Zahl von Messindikatoren zu Grunde, kommen schnell ganz andere Ergebnisse zustande. Das zeigen aktuelle Berechnungen für den „Nationale Wohlstandsindex 2016“ (NWI), die eine Forschergruppe um den Heidelberger Ökonomen Hans Diefenbacher im Auftrag des Instituts für Makroökonomie der Hans-Böckler-Stiftung vorgenommen haben. Danach hat der gesellschaftliche Wohlstand von 1991 bis 2013 lediglich um vier Prozent zugenommen. Während das BIP also wachsenden Wohlstand verheißt, deuten die Zahlen des NWI auf Stagnation. Wie können statistische Zahlenwerke derart unterschiedliche Ergebnisse produzieren?

Diefenbacher hat den NWI bereits 2008 gemeinsam mit dem Berliner Politologen Roland Zieschank im Auftrag des Umweltbundesamtes (UBA) entwickelt, um das BIP „zu ergänzen, nicht um es abzuschaffen“, wie er betont. Hintergrund war der Umstand, dass das BIP viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen für eine Wohlfahrtsmessung nicht adäquat abbildet oder gar nicht berücksichtigt – von ehrenamtlichen Tätigkeiten über häusliche Arbeit, von der Ungleichheit der Einkommen bis hin zum Ressourcenverbrauch und den Grad der Umweltzerstörung infolge der wirtschaftlichen Tätigkeit.

Wer Umweltschäden saniert, treibt das BIP nach oben

Die Berechnung das BIP führt teilweise zu absurden Ergebnissen. So treiben etwa nachträgliche Sanierungskosten für die geschädigte Umwelt in vollem Umfang das BIP nach oben, obwohl zuvor die Gesellschaft durch die Zerstörungen massive Wohlstandseinbußen hinnehmen musste. Für Forscher wie Diefenbacher ist derart erzeugtes BIP-Wachstum nichts anderes als „illusionärer Wohlstand“.

In den NWI fließen hingegen insgesamt Daten von 20 sogenannten Komponenten ein, die zu einem Gesamtindex zusammengefasst werden. Zu den wichtigsten zählt der private Konsum, der mit dem Gini-Koeffizienten zur Ermittlung der Einkommensungleichheit gewichtet wird. Das Forscherteam nimmt hier eine klare Setzung vor und legt fest, dass größere gesellschaftliche Gleichheit sich auch positiv auf den Konsum auswirkt. Begründung: Für einen ärmeren Mensch erhöht die Chance, 100 Euro monatlich mehr Geld für den Konsum zu haben, den persönlichen Wohlstand immens. Bei einen Reichen fallen hingegen 100 Euro mehr kaum ins Gewicht.

Weitere Komponenten, die positiv in den NWI eingerechnet werden, sind unter anderem die Wertschöpfung durch ehrenamtliche Tätigkeiten und Hausarbeit oder auch öffentliche Ausgaben für das Gesundheits- und Bildungssystem. Gleichzeitig werden für die Bilanz viele negative Kosten abgezogen. Dazu zählen Kriminalität, Drogenmissbrauch, Verkehrsunfälle, gesellschaftliche Kosten zur Sanierung von Umweltbelastungen, der Einsatz von Atomenergie und nicht erneuerbaren Energien sowie Kosten für diverse Umweltbelastungen.

BIP und NWI driften seit Jahren auseinander

Die Forschergruppe zeigt nun in ihrer aktuellen Studie, wie unterschiedlich die Wohlfahrtsbilanzierung seit 1991 abhängig vom verwendeten Index ausfallen kann. Grundsätzlich unterscheiden die Wissenschaftler drei Phasen. In der ersten Phase zwischen 1991 und 1999 stiegen BIP und NWI nahezu parallel um etwa 1,5 Prozent pro Jahr. Die Gründe dafür waren aus Sicht der Forscher vielfältig: Zum einen stieg der private Konsum, während die Schere bei den Einkommen noch nicht stärker auseinanderdriftete. Zum anderen gab es erhebliche Erfolge beim Umweltschutz – auch deshalb, weil die Industrie in den fünf neuen Bundesländern nach der Wende nahezu komplett kollabierte.

In der zweiten Phase von 1999 bis 2005 beginnen BIP und NWI auseinanderzudriften. Während das Wachstum des BIP sich bei durchschnittlich einem Prozent einpendelt, sorgen der Internetcrash 2001 und die daraus folgende Krise mit steigender Arbeitslosigkeit und stagnierenden Löhnen für wachsende Ungleichheit bei den Einkommen: Folge: Der NWI sinkt unter dem Strich durchschnittlich um 1,5 Prozent. Interessante Unterschiede zeigen sich dann in der dritten Phase zwischen 2005 und 2013. Während das BIP-Wachstum wieder auf 1,4 Prozent pro Jahr zulegt (trotz des kurzzeitigen massiven Einbruchs während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009), bleibt der NWI nahezu konstant.

In der aktuellen Studie legen die Forscher nun auch erstmals vorläufige Berechnungen für 2014 vor, die eine Trendwende andeuten. Während das BIP um 1,6 Prozent stieg, legte der NWI um 2,2 Prozent zu. Verantwortlich für die positive Entwicklung „sind ein stabiler Konsum und die niedrigen Energiepreise“, so Hans Diefenbacher. Noch sind die Zahlen vorläufig, weil bis Ende des Jahres genauere Daten in die Berechnungen einfließen.

Immerhin ist es den Forschern aber gelungen, einen gravierenden Nachteil zum BIP abzumildern. Während die amtliche Statistik die BIP-Zahlen jedes Quartal vorlegt, konnte der NWI aufgrund der schwierigen Datenerhebung bislang nur alle 2,5 Jahre ermittelt werden. Da inzwischen die Landesstatistiker von Nordrhein-Westfalen regelmäßig den Gini-Index bei den Einkommen ermitteln, „konnten wir aufgrund der besseren Datenlage nun auf anderthalb Jahre verkürzen“, sagt Diefenbacher. Im kommenden Jahr wollen die Forscher den Berichtsabstand anhand prognostischer Modellrechnungen weiter verkürzen. Ziel ist ein Abstand von sechs bis zwölf Monaten.

Gleichwohl kämpft der NWI weiter mit Akzeptanzproblemen bei der amtlichen Statistik. Aufgrund der vielen normativen Setzungen bei der Auswahl der Komponenten, den teilweise erheblichen Problemen bei der Erhebung von aussagekräftigen Daten, der stark schwankenden Güte mancher Daten und der im Vergleich zum BIP fehlenden internationalen Vergleichbarkeit will das Statistische Bundesamt mit dem NWI nicht arbeiten. Auch von konservativen Ökonomen werden die normativen Vorgaben des NWI kritisiert. Diese Kritik gipfelte bereits 2010 in dem Vorwurf , Diefenbacher und Co. würden mit dem alternativen Wohlfahrtsindex eine „autoritäre Statistik“ promoten.

Den Heidelberger Ökonomen ficht diese Kritik nicht an; er spielt sie zurück ins Lager seiner Gegner. „Wir rechnen nicht besser, sondern nur anders. Auch beim BIP gibt es normative Setzungen, etwa die Entscheidung, ehrenamtliche Arbeit und Hausarbeit nicht zu berücksichtigen.“ Er hält die Wohlstandsbilanzierung mittels NWI für viel differenzierter als die alleinige Betrachtung des BIP. Diefenbacher stimmt es daher optimistisch, dass in wachsenden Teilen der Politik die Idee des NWI als ergänzende Option zum BIP eine immer größere Resonanz findet.

Fotos: pro imago life, Mathias Ernert

WEITERE INFORMATIONEN

Auf der Website der Hans-Böckler-Stiftung ist eine  IMK-Studie des Autorenteams um Diefenbacher mit dem Titel „Wohlfahrtsmessung ‚beyond GDP‘ – der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI2016)“ als PDF abrufbar. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Thesen von Michael von der Lippe und Claus Christian Breuer erschien 2010 unter dem Titel „Wohlstand – keine Alternative zum BIP“ in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“. Diefenbacher und sein Kollege Roland Zieschank antworten darauf mit dem Beitrag „Der Nationale Wohlfahrtsindex und die Diskussion um eine Ergänzung zum BIP.

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