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Für Martin Bühre, Betriebsrat bei Enercity Hannover, brauchen Unternehmen Impulse der Beschäftigten. Magazin Mitbestimmung

Reform: Mitbestimmen in modernen Zeiten

Ausgabe 05/2022

In mitbestimmten Unternehmen läuft vieles besser. Mit einem modernen Betriebsverfassungsgesetz könnte es aber noch besser laufen, wie die Erfahrungen von Betriebsräten zeigen. Von Fabienne Melzer

Der Betriebsrat von Enercity  Hannover war­tet nicht auf Ideen des Managements. Martin Bühre, der Betriebsratsvorsitzende und immer aufgeschlossen für Neues, schaut sich die Räume eines Neubaus an, den der Energieversorger bezieht, und spricht dabei über seine eigenen Ziele: „Wir wollen in zehn Jahren nicht nur noch da sein, wir wollen auch relevant sein.“ Dafür, sagt er, müsse sich im Unternehmen jedoch einiges ändern. In vielen Köpfen herrsche noch traditionelles und hierarchisches Denken. Das frustriere immer mehr Menschen, die gerne Verantwortung übernehmen und Ideen verwirklichen möchten. Daher ist Bühre überzeugt: „Wir können Innovation nicht dem Management überlassen. Innovation ist ein sozialer Prozess. Das Management ist eher auf Optimierung als auf Erneuerung ausgerichtet. Da braucht es andere Impulse, etwa vom Betriebsrat.“

Der Verdi-Betriebsrat will eine Problemlösungsgemeinschaft schaffen. Das Unternehmen müsse die Beschäftigten als Teil der Lösung verstehen. „Genauso müssen wir aber auch als Betriebsrat arbeiten“, sagt Bühre. Alle sind eingeladen, mitzumachen, nichts findet hinter verschlossenen Türen statt. Inzwischen kommen auch Trainees zu den Besprechungen und Arbeitsgruppen des Betriebsrats. Kürzlich sagte einer von ihnen zu Martin Bühre: „Wenn im Unternehmen alle so ticken würden wie der Betriebsrat, wären wir schon viel weiter.“

Oft sind es Betriebsräte, die in ihren Unternehmen Entwicklungen vorantreiben. In mitbestimmten Unternehmen läuft vieles besser, wie zahlreiche von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studien zeigen. Mitbestimmte Unternehmen arbeiten nachhaltiger und sind innovativer. Dennoch ist es um die Mitbestimmung nicht immer gut bestellt. Das liegt auch an einem Betriebsverfassungsgesetz, das 50 Jahre nach seinem letzten grundlegenden Update in die Jahre gekommen ist. Der DGB hat deshalb im April einen Reformvorschlag vorgelegt, der das Recht auf die Höhe des digitalen Zeitalters bringen soll. Darin fordert er unter anderem, die Gründung von Betriebsräten zu erleichtern. Denn die Zahl der mitbestimmten Unternehmen sinkt, und manche Arbeitgeber lassen Betriebsratswahlen gar nicht zu.

Um jeden Millimeter gerungen

Gerade in Branchen der Zukunftstechnologien müssen Betriebsräte wie Ralf Adam von Globalfoundries und Andreas Urbenz von X-FAB um jeden Millimeter Mitbestimmung kämpfen. Ihre Unternehmen produzieren in Dresden eines der derzeit gefragtesten Produkte: Halbleiter. Seit der Pandemie sind sie Mangelware. Zunächst brachen die Lieferketten zusammen, nachdem Hersteller in China während der Pandemie die Fa­briken schlossen. Dann versetzte die Pandemie der Welt einen Digitalisierungsschub, und die Nachfrage nach Halbleitern explodierte. Mit ihrer Technik treiben die Hersteller Innovationen voran, auch in den eigenen Fabriken. Doch bei der Mitbestimmung hinken sie oft hinterher. Oder wie Ralf Adam sagt: „Wir schaffen erst einmal die Grundlagen der Mitbestimmung.“

Derzeit ringen die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten und Betriebsräte mit dem Arbeitgeber um einen Tarifvertrag, die zweite Qualitätsstufe der Mitbestimmung, wie Adam es nennt. Die erste Qualitätsstufe erreichten sie vor elf Jahren: Sie wählten einen Betriebsrat. Schon das kein einfaches Unterfangen in einem globalen Unternehmen mit Sitz in den USA. „Damals erzählte die Geschäftsleitung den Beschäftigten: ,Wenn der Betriebsrat kommt, wird der Standort dichtgemacht. Betriebsräte führen in die Pleite‘“, erzählt Ralf Adam. „Als wir mit dem Tarifvertrag kamen, ging das Spiel von vorne los.“ Drei Jahre verhandelten sie, dann unterzeichnete der Arbeitgeber im Frühjahr ein Eckpunktepapier. Im nächsten Schritt geht es um einen Entgelttarifvertrag. Globalfoundries produziert in Asien, Europa und den USA. In Dresden arbeiten rund 3300 Menschen, die Produktion läuft rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr, und kann die Nachfrage trotzdem nicht decken. Das Unternehmen investiert, gefördert vom Bund mit bislang 219 Millionen Euro. „Im Vergleich zu vor zwei Jahren hat sich die Produktion verdoppelt, die Mannschaft ist dagegen fast gleich geblieben“, sagt Ralf Adam.

Bei X-FAB gibt es zwar seit 2021 den vollen Tarifvertrag, aber auch Betriebsrat Andreas Urbenz kann nicht über Arbeitsmangel klagen: „Ich war in den vergangenen zehn Jahren für 450 bis 500 Beschäftigte zuständig.“ Da gibt es jede Menge individuelle Probleme zu klären. Je komplexer ein Unternehmen wird, desto schwieriger wird die Betreuung für den Betriebsrat. Weder Andreas Urbenz noch Ralf Adam halten die derzeitigen Freistellungsregeln für Betriebsräte im Betriebsverfassungsgesetz für ausreichend.

Mit etwa 540 Beschäftigten ist die X-FAB deutlich kleiner als Globalfoundries. Die Firma produziert Wafer, das Geschäft läuft, und das Unternehmen sucht händeringend Leute. Doch etliche gehen schon nach einem Tag wieder. „Wir arbeiten noch in Zwölfstundenschichten und haben eine 40-Stunden-Woche“, sagt Andreas Urbenz. „Das wollen viele nicht.“ Der Betriebsrat würde gerne auf eine 37,5-Stunden-Woche runter.

Besonders drückt der Schuh beim Thema Qualifizierung. „Das fiel in den vergangenen Jahren immer dem Kostendruck zum Opfer“, sagt Andreas Urbenz. Die Betriebssysteme der Maschinen laufen in Englisch. Wer die Sprache nicht beherrscht, ­versteht die Fehlermeldungen nicht. Die Vorschläge des DGB gehen für Urbenz in die richtige Richtung. Danach sollen Betriebsräte ein Mitbestimmungs- und Initiativrecht bei der Qualifizierung im Betrieb erhalten und nicht nur, wie bisher, bei Anpassungsqualifizierungen.

Die Pandemie und der Digitalisierungsschub haben nicht nur die Nachfrage nach Halbleitern in die Höhe schießen lassen, sie haben auch die Zusammenarbeit der Sozialpartner verändert. Während der Pandemie fanden Besprechungen nur über Video statt, Büros blieben menschenleer, und Beschäftigte arbeiteten am Küchentisch. Diese Entwicklung lässt sich nicht mehr vollständig zurückdrehen, daher müssen auch digitale Zugangsrechte für die Mitbestimmung geklärt werden. Deshalb erweitert der DGB in seinem Reformvorschlag das Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb auch auf digitale Kommunikationskanäle.

Evonik schafft digitales Zugangsrecht

Beim Spezialchemieunternehmen Evonik sahen die Betriebsparteien nach zwei Jahren Pandemie die Vorteile der digitalen Zusammenarbeit und gossen die dafür notwendigen Bedingungen in Papierform. Personalvorstand und Arbeitsdirektor Thomas Wessel (IG BCE) sagt: „Dialog und Austausch tragen auch in digitaler Form zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit bei. Die guten Erfahrungen während der Pandemie haben uns bestärkt, bei Evonik Verhandlungen über ein digitales Zugangsrecht aufzunehmen. Das Ergebnis ist eine Vereinbarung, die genau auf unser Unternehmen zugeschnitten ist.“ Ein digitales Zugangsrecht zu wollen, ist das eine, es einzurichten das andere. So mussten die Betriebsparteien eine für das Unternehmen passende Logik des digitalen Zugangs entwickeln und Datenschutz und Sicherheit gewährleisten.

Die Vereinbarung schafft Klarheit und Verlässlichkeit. Die Gewerkschaft kann über die Mitbestimmungsseiten im Intranet Mitglieder informieren und sich über das Videosystem mit ihnen austauschen. So problemlos wie bei Evonik läuft es in anderen Betrieben allerdings nicht. Für sie bleibt eine gesetzliche Lösung daher unerlässlich – und nur eine von vielen Baustellen im Betriebsverfassungsgesetz.

Eine andere betrifft die Möglichkeiten für Betriebsräte, sich zu entwickeln. Wenn sich hier nichts verbessert, fürchtet X-FAB-Betriebsrat An­dreas Urbenz, wird es künftig schwierig, Leute für einen freigestellten Betriebsratsposten zu finden. „Im Moment erscheint es vielen als Einbahnstraße“, sagt Urbenz. Wichtig seien aber auch die Rahmenbedingungen von Betriebsräten für ihre finanzielle Entwicklung. Mit Sorge blickt Martin Bühre, Betriebsratsvorsitzender bei Enercity in Hannover, auf ein Urteil des Braunschweiger Landgerichts, das kürzlich öffentlich wurde. Darin vertreten die Richter die Ansicht, dass das Entgelt von Betriebsräten sich nur entsprechend des Entgelts Beschäftigter ihrer früheren Tätigkeit entwickeln darf. „Wer will denn dann noch Betriebsrat werden?“, fragt Bühre. „Vielleicht der 55-Jährige, der beruflich schon alles erreicht hat.“

Ein wirklich scharfes Schwert

Über eine andere Reformidee des DGB würde sich Susanne Quast freuen: Mitbestimmung bei der Personalbemessung. „Wenn wir einen Personalplan als Betriebsrat ablehnen könnten, hätten wir wirklich ein Schwert für bessere Arbeitsbedingungen“, sagt die Betriebsratsvorsitzende der Sana Kliniken in Düsseldorf und überzeugte Verdianerin. Die 59-jährige Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin hat den Niedergang der Pflege von Beginn an erlebt. Mit den Fallpauschalen 2004 begann der sukzessive Personalabbau in den Krankenhäusern. „Wir haben heute etwa ein Drittel weniger Pflegekräfte als vor der Einführung der Fallpauschalen“, sagt Susanne Quast. Zwar wurde 2018 eine Untergrenze für die Besetzung mit Pflegepersonal in Krankenhäusern eingeführt, sie orientierte sich aber an Kliniken, die mit ihrer Besetzung im unteren Viertel lagen. „Damit wollte man gefährliche Pflege verhindern. Um gute Pflege ging es schon gar nicht mehr“, empört sich die Betriebsrätin noch immer.

Die Beschäftigten wehrten sich lange nicht gegen die steigende Belastung, und die Arbeitgeber nutzten das Pflichtbewusstsein der Pflegekräfte aus. „Nach fast 20 Jahren Fallpauschalensystematik funktioniert so gut wie nichts mehr durch den Fachkräfte- und Personalmangel“, fasst Susanne Quast zusammen. Viele Pflegekräfte arbeiten in ihrem Beruf aus tiefer Überzeugung, und es geht ihnen dabei gar nicht so sehr um mehr Geld, aber wenn sie ihren Beruf nicht mehr gut machen können, überschreitet das ihre Grenzen.

Zwar beschreibt die Betriebsrätin die Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber als konstruktiv, und auch bei der Personalplanung werde der Betriebsrat gehört, könne darauf hinweisen, wenn Schichten gar nicht funktionieren. Aber ein echtes Mitbestimmungsrecht bei der Personalplanung wäre ein ganz anderes Kaliber. „Wenn es allerdings richtig scharf sein soll“, schränkt Susanne Quast ein, „muss es mit Sanktionen verbunden werden, die den Arbeitgebern wirklich wehtun.“ 

DGB-Reformvorschlag Personalbemessung, § 92 (1) (…): In Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten unterliegt die Personalplanung und -bemessung der Mitbestimmung des Betriebsrats.

DGB-Reformvorschlag Vergütung von Betriebsräten, § 37, Absatz 4 (…): Bei der Bemessung des Arbeitsentgeltes und der allgemeinen Zuwendungen sind auch die bei Wahrnehmung der Betriebsratstätigkeit erworbenen Qualifikationen und Erfahrungen wie auch die auf Dauer wahrgenommenen Aufgaben zu berücksichtigen.

DGB-Reformvorschlag Zugang zum Betrieb, §2 (…): Dies umfasst auch den Zugang zu den im Betrieb genutzten elektronischen Kommunikationsmedien.

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