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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW „Es gibt mehr als nur eine Art Kapital“

Ausgabe 09/2011

INTERVIEW Birger Priddat, Philosoph und Ökonom, über eine zeitgemäße Begründung der Mitbestimmung aus der jüngeren ökonomischen Theorie und die Vorteile der Kooperation

Das Gespräch führten MARGARETE HASEL und KAY MEINERS. 

Herr Professor Priddat, Sie haben ein Buch geschrieben, in dem Sie neue Argumente für die Mitbestimmung zusammentragen. Muss man es als Verteidigungsschrift lesen?
Mir geht es darum, die alten ideologischen Grabenkämpfe zu überwinden: Hier die Arbeit, dort das Kapital. Die frühere Partizipationsforschung war manchmal sehr normativ. Es wurde viel darüber geschrieben, wie die Welt sein sollte. 

Wie sieht Ihr Ansatz aus?
Die jüngere ökonomische Theorie, aber auch Disziplinen wie die Anthropologie und die Evolutionsbiologie liefern starke Argumente dafür, dass Kooperation sinnvoll ist. Sie ist nicht wirtschaftsfremd, sondern wirtschaftsimmanent. Das Bild des Menschen, der sich nur am Eigennutz und an Konkurrenz orientiert, wird langsam obsolet. Das neue Bild zeigt einen Menschen, der mit anderen zusammenarbeitet und deren Lage mitdenkt. Das gilt auch für die Wirtschaft. 

Einer der Ökonomen, die Sie vorstellen, ist der Brite Ronald Coase, Nobelpreisträger des Jahres 1991.
Die Neue Institutionenökonomie, die 1937 mit seinem Werk über die Theorie der Firma beginnt, fragt, warum Menschen überhaupt in einer Organisation wie einer Firma zusammenarbeiten. Warum akzeptieren sie Hierarchien und regeln nicht alles über Marktbeziehungen? Seine Antwort: Sie kooperieren, um die Transaktionskosten zu senken. Zudem beschreibt Coase die Firma als Geflecht von Verträgen, die unvollständig sind und deshalb informell nachverhandelt werden.  

Warum ist dieser Punkt so wichtig?
Kooperation und Mitbestimmung sind nachhaltige Institutionen, über die Überschüsse aus der koordinierten Zusammenarbeit, die Kooperationsrenten, fair verteilt werden können.  

Wie begründet die neuere Ökonomie, dass den Arbeitnehmern Mitbestimmungsrechte zustehen?
Sie argumentiert, dass nicht nur die Kapiteleigner etwas investieren, sondern auch die Arbeitnehmer. Sie eignen sich Humankapital an, das sie anderswo nicht verkaufen können. Gemessen an den üblichen Risikokriterien von Investoren – Diversifizierung, Investitionstyp, Investitionsmenge, Risikohöhe und Sicherheit – gehen sie ein ziemlich riskantes Investment ein. Das Risiko wollen sie vergütet bekommen. Sie werden zu Humankapitalisten, die genauso mitreden wollen wie die anderen Investoren. 

Was ist die Konsequenz, wenn man das Humankapital dem Finanzkapital gleichstellt?
Wenn man akzeptiert, dass es verschiedene Formen von Kapital gibt, haben wir es nicht mehr mit Kapital-Arbeit-Beziehungen zu tun, sondern mit Kapital-Kapital-Beziehungen. Hierher beziehen die Stakeholder-Ansätze ihre Legitimation. Stakes definieren sich gerade als Anteile – oder Kapital – an einem Unternehmen, die nicht mit klassischen Eigentumstiteln unterlegt sind. Die Stakeholder müssten in letzter Konsequenz zu Shareholdern werden und ins Board aufgenommen werden. 

So weit geht in Amerika kaum jemand.
Bisher machen sich nur einige Theoretiker darüber Gedanken. Ein Vorstand von Walmart würde es als Anarchie oder Stalinismus empfinden, wenn im Board plötzlich ein Arbeitnehmervertreter säße. 

Einige Theoretiker gehen sehr weit – etwa der US-Ökonom David Ellerman, dem Sie ein ganzes Kapital widmen. Er geißelt Erwerbsarbeit als neue Form der Sklaverei.
Ellerman ist ein radikaler Liberaler, der strikt eigentumstheoretisch argumentiert. Er will die freiwillige Teilversklavung der Erwerbsarbeit durch neue Verträge ablösen, die zwischen freien Bürgern und Miteigentümern geschlossen werden.  

Henry Ford hat einst beklagt, dass er eigentlich nur zwei Hände kaufen will, aber immer gleich einen ganzen Menschen bekommt.
Genau. Der Arbeitnehmer vermietet seine Arbeitskraft wie ein Werkzeug. Doch anders als der Eigentümer eines Werkzeuges wird der Arbeitnehmer vollständig in die Unternehmensorganisation einbezogen. Er verleiht sich selbst mit und haftet für das, was er leistet. Darum kann der Arbeitsvertrag nicht als Miete einer Sache behandelt werden, sondern nur als Kooperationsvertrag von Personen, die beide Eigentümer sind. 

Eine schöne Idee. Doch die Macht zwischen dem Unternehmen und dem Individuum ist asymmetrisch verteilt.
Eigentlich müsste Ellerman die Gewerkschaften neu erfinden, um die asymmetrisch verteilte Verhandlungsmacht auszugleichen. Aber in Amerika sieht man die Gewerkschaften eher als Zünfte, die Betriebe abschotten, sodass von außen niemand mehr hereinkommt. Das ist ein ganz anderes Verständnis als in Deutschland. Der Transfer amerikanischer Ideen erfordert viel Übersetzungsarbeit. 

Welche deutschen Autoren sind wichtig für Ihre Argumentation?
Der Wirtschaftsethiker Josef Wieland und die Managementprofessorin Margit Osterloh, um nur zwei zu nennen. Wieland beschreibt, dass die Atmosphäre im Unternehmen, der respektvolle Umgang miteinander, entscheidend für die Leistung der Organisation ist. Und Osterloh hat nachgewiesen, dass dort, wo Vertrauen herrscht, die Leistung steigt. Wo kein Vertrauen herrscht, erfüllen die Leute gerade noch den Arbeitsvertrag – sie arbeiten extrem minimalistisch.  

Was macht Sie so sicher, dass Ihr Menschenbild, das auf Kooperation setzt, richtiger ist als das Bild vom Homo oeconomicus?
Ich bin kein Empiriker. Aber das bisherige Menschenbild war zumindest einseitig. Soweit ich das beurteilen kann, liefert mittlerweile auch die empirische Verhaltensforschung sehr starke Argumente dafür, dass Menschen kooperieren und profitieren, wenn sie in ihrer Kompetenz anerkannt und fair behandelt werden. Die Zukunft gehört dem Homo reciprocans – dem Menschen, der sich auf den anderen bezieht. Dieser Begriff stammt von dem Ökonomen Armin Falk. 

Warum haben die Gewerkschaften die ökonomischen Argumente, die Sie zusammengetragen haben, nicht längst für sich entdeckt?
So pauschal stimmt das nicht. Aber sie argumentieren oft ausschließlich politisch. Sie sehen in der Mitbestimmung ein Instrument, Machtverhältnisse zu regeln. Ökonomische Kategorien geraten dann ins Hintertreffen. 

Mancher Kritiker könnte Ihnen vorwerfen, dass Sie damit die Institution der Mitbestimmung entpolitisieren.
Ich bestreite nicht, dass es unterschiedliche Interessenlagen gibt. Aber die Frage ist doch: Will ich meine Interessen in einer kurzfristigen Maximierungsstrategie realisieren oder eher kooperativ und nachhaltig?  

Warum ist Kooperation nachhaltiger als Konkurrenz?
Durch die Investitionen und Anstrengungen aller entsteht das, was ich Organisationskapital nenne. Es ist die Fähigkeit, ein Unternehmen so zu organisieren, dass alle darin gut arbeiten können. Das ist etwas, was das Management allein nicht machen kann. Das Organisationskapital ist ein immaterielles Vermögen. Es taucht nicht in der Bilanz auf, und es kann beim Verkauf der Firma nicht mitverkauft werden. Es entzieht sich der Quantifizierbarkeit, und doch ist es hocheffizient.  

Warum stammen so viele der Autoren, auf die Sie sich in Ihrer Studie berufen, aus den angelsächsischen Ländern?
Diese Länder sind sehr leistungsorientiert. Wenn irgendwo im Team die Leistung abfällt, hat ein Amerikaner ein ernsthaftes Interesse an den Ursachen. Was sie kritisch sehen, ist die Rolle des Staates. Die meisten Amerikaner sehen in staatlicher Regulierung einen Eingriff in die Vertragsfreiheit. 

Wie sehen Sie selbst die Rolle des Staates?
Die Erfahrung zeigt, dass freiwillige Vereinbarungen nicht stabil sind. Mal entstehen sie, mal nicht. Die Organisationskosten für die Arbeitnehmer sind ungemein hoch, wenn man in jedem Unternehmen wieder bei null anfangen muss. Es ist Aufgabe des Staates, hier einen Ordnungsrahmen zu schaffen. Das hat sich in Europa bewährt.  

Die deutsche Sozialpartnerschaft beschreiben Sie als einen Teil der Moderne. Für viele andere Länder bleibt sie eine spezifisch deutsche Erfindung.
Die deutsche Mitbestimmung ist als Teil der Sozialpartnerschaft natürlich nur eine spezifische Variante fairer Kooperation. In einigen europäischen Nachbarländern finden Sie dafür Verständnis. In China, in den USA und selbst in Frankreich sieht das schon ganz anders aus. Übrigens interessiert man sich jetzt auch in den USA für die Mitbestimmung, weil Deutschland nach der Krise vergleichsweise gut dasteht. 

Deutschland ist wegen der Betriebsräte und der mitbestimmten Aufsichtsräte so erfolgreich?
Nachhaltigkeit braucht organisatorische Kompetenz und Qualität. Aber wir stehen vor einem methodischen Problem: Wir beobachten ein leistungsfähiges, nachhaltig arbeitendes Unternehmen – aber wie will man die Mitbestimmung als einzelnen Faktor isolieren? Das ist nicht einfach. Es gibt nur handfeste Indizien. 

Was ist das Besondere am deutschen Entwicklungspfad?
In Deutschland ist eine besondere Form der Industriekultur entstanden, die – flankiert durch die Gesetzgebung – die Qualität der Arbeit und der Arbeitsorganisation als besonders wichtigen Faktor für die Qualität der Leistung oder des Produktes ansieht. In vielen Unternehmen wird eine systematische Zusammenarbeit zwischen den Beschäftigten, den Gewerkschaften und dem Management praktiziert. Die Betriebsräte verteidigen das Organisationskapital.  

In Ihrem Buch unterscheiden Sie vier Typen des Umgangs mit der Unternehmensmitbestimmung.
Richtig! Der erste Typus, „Sphärentrennung und Konflikt“, ist sozusagen die Fortsetzung des Klassenkampfes. Daneben gibt es die „patriarchalische Integration“, ein Modell, das wir meist in Familienunternehmen mit Drittelbeteiligung finden. Und die Typen „geregelter Konflikt“ und „Kooperation“. 

Den „geregelten Konflikt“ ordnen Sie der IG Metall zu, die „Kooperation“ der IG BCE. Wo finden wir den Klassenkampf?
Reste davon findet man am ehesten bei ver.di und bei Teilen der IG Metall. 

Die kooperative Mitbestimmungspraxis der IG BCE beschreiben Sie als besonders vorbildlich. Halten Sie hier genug Distanz zu Ihren Auftraggebern, der IG BCE und dem Arbeitgeberverband Chemie?
Ich hätte den Auftrag nicht angenommen, wenn es keine gemeinsame Basis gegeben hätte. Ich will erklären, was bei der IG BCE anders läuft. Für ihren strikt sozialpartnerschaftlichen Kurs wird sie ja mitunter diskreditiert, gar beschimpft. Zugleich aber scheint sie sehr erfolgreich zu sein. Das hat mich als Wissenschaftler neugierig gemacht. 

Ihr Buch enthält auch Kritik am kooperativen Modell. Sie schreiben, dass in den BCE-Aufsichtsräten sehr kleine Zirkel entscheiden. Zudem ist das Modell sehr strukturkonservativ. Externe Kandidaten und Frauen haben kaum eine Chance.
Mir gefällt der strategische Ansatz der Kooperation. Doch der betrifft zunächst nur die oberste Führungsebene. Entscheidend ist, dass sich diese Kultur der Kooperation jetzt nach unten fortsetzt. 

Die Strukturen in den Aufsichtsräten sind doch straff hierarchisch. Eine Person auf jeder Seite hat das Sagen. Die Musik spielt in den Vorbesprechungen und Ausschüssen. Sie schreiben, die Aufsichtsratssitzung habe nur eine notarielle Funktion.
Die Dinge werden im Vorfeld geklärt. Was auf interne Spannungen hinweist, wird weggebügelt. Beide Seiten haben ein Interesse an Vertraulichkeit. Sie demonstrieren Einigkeit nach außen, weil sie Schaden befürchten – bis hin zu negativen Folgen für den Aktienkurs. Sämtliche Aufsichtsräte stehen unter der Beobachtung des Kapitalmarktes. 

Dennoch gibt es auch Besonderheiten in denjenigen Branchen, die die IG BCE organisiert.
Es gibt Gründe dafür, dass sich bei der IG BCE eine besonders enge Sozialpartnerschaft entwickelt hat. Dazu gehören die sehr hohen Investitionskosten in der Branche. Sie führen dazu, dass alle ein Interesse haben, Konflikte und Produktionsausfälle zu vermeiden. 

Wie stabil ist die industriell geprägte Kultur, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?
Es gibt sie noch, aber sie ist wirtschaftlich weniger wichtig als früher. Im wachsenden Dienstleistungssektor gibt es keine ausgeprägte Kultur der Kooperation, und auch die Industrie stellt Manager ein, die keinen Bezug zur klassischen Industriekultur haben. Wenn das Zusammenspiel aus qualifizierten Facharbeitern, Management und Gewerkschaften erodiert, kann das dazu führen, dass Firmen Deutschland verlassen, weil das wertvolle Organisationskapital zerfällt, das hier entstanden ist. Die Einzigen, die das ändern können, sind die Gewerkschaften – zusammen mit klugen Managern.

Zur Person

BIRGER P. PRIDDAT, geboren 1950 in Leuna (Sachsen-Anhalt), ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für politische Ökonomie in der Wirtschaftsfakultät der privaten Universität Witten/Herdecke. Die „Evolution der Gesellschaft“ sei sein eigentlicher Forschungsgegenstand, erklärt Priddat – er erforscht, wie sich Veränderungen von Institutionen und Spielregeln auf das Zusammenspiel von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auswirken. Mitbestimmung beschreibt er als „Kollision zweier gesellschaftlicher Referenzen“ – von Politik und Ökonomie. Zuletzt erschien im Metropolis-Verlag Marburg seine Studie „Leistungsfähigkeit der Sozialpartnerschaft in der Sozialen Marktwirtschaft. Mitbestimmung und Kooperation“, die er im Auftrag der Chemie-Stiftung Sozialpartner-Akademie (CSSA), eines Thinktanks des BAVC und der IG BCE, verfasst hat.

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