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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Manches hätte ich gerne nach außen posaunt'

Ausgabe 09/2010

Als Mitglied in verschiedenen Aufsichtsräten hat der Bremer Finanzwissenschaftler Rudolf Hickel 30 Jahre Erfahrungen als Unternehmenskontrolleur.

Das Gespräch führte MARGARETE HASEL./Foto: Alasdair Jardine

Professor Hickel, wie muss man sich die Arbeitnehmerbank vorstellen, auf der Sie in mehreren Aufsichtsgremien Platz genommen haben?
Ganz unterschiedlich. Bei der Allianz war die Sitzordnung strikt alphabetisch. Deshalb saß Frau Köcher vom Allensbach-Institut neben mir. Bei Salzgitter saßen Anteilseigner- und Arbeitnehmerseite getrennt, und bei der Wohnungsbaugesellschaft Gewoba durfte man sich den Platz selbst aussuchen. Um sich besser absprechen zu können, setzten sich die Kollegen immer zusammen. Das Bild von der Bank ist also zu streng.

Beschreibt das Bild denn die Frontverläufe bei Debatten und Abstimmungen zutreffend?
Vertreter der Arbeitnehmerseite diskutieren vor der Sitzung ihre Position aus - und treten in der Sitzung geschlossen auf. Das ist kein autoritärer Kollektivismus, sondern Ausdruck der vorangegangenen ernsthaften Entscheidungsfindung. Ich habe es während meiner langen Aufsichtsratstätigkeit nie erlebt, dass in Fundamentalfragen unterschiedliche Positionen bezogen worden sind. Das ist unsere Stärke.

Die Kapitalseite kann sich dank der Doppelstimme des Vorsitzenden immer durchsetzen. Wie oft kommt das vor?
Ich habe in all den Jahren nur eine einzige Situation erlebt, in der der Vorsitzende von seinem Doppelstimmrecht Gebrauch machte. Das war beim Verkauf von Werftteilen der Kieler HDW an Abu Dhabi Mar.

Die Arbeitnehmervertreter wollten den Verkauf verhindern?
Gemeinsam mit der IG Metall wollten wir die Arbeitsplatzsicherung vertraglich fixieren. Wochenlang haben wir an dieser Position gefeilt. Doch wir konnten uns nicht durchsetzen. In der Sitzung hat der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende unsere Position erklärt. Da brauchte es keine Debatte mehr.

Es wird im Aufsichtsrat nicht diskutiert?
Mich wies mal eine Vertreterin der Finanzaufsichtsbehörde darauf hin, bei der Allianz würde in der Aufsichtsratssitzung auch bei wichtigen Entscheidungen auffällig wenig diskutiert. Sie hatte das Recht ihrer Behörde in Anspruch genommen, ohne vorherige Ankündigung an der Sitzung teilzunehmen. Ich musste ihr erklären, dass es wenig sinnvoll wäre, erst in der Sitzung die Entscheidungen auszudiskutieren. Die Aufsichtsratssitzung steht am Ende langer Diskussionsprozesse. Und die betrieblichen Vertreter gehen bestens vorbereitet in die Sitzung. Im Vorfeld führen wir zahllose Gespräche mit dem Vorstand, bis die Tragfähigkeit von Kompromisslinien ausgelotet ist.

Man gibt vor allem Erklärungen ab?
Bei wichtigen Strukturentscheidungen ist das so. Da gibt es meistens eine Hackordnung: Nach dem Vorsitzenden ergreift sein Stellvertreter von der Arbeitnehmerseite das Wort und gibt eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten ab. Hinzu kommen zuvor abgestimmte Beiträge.

Wo findet die Meinungsbildung der Arbeitnehmer untereinander statt?
Zuerst durch langen Informationsaustausch und dann auf den gut vorbereiteten Vorbesprechungen, die meistens am Vortag einer Sitzung stattfinden.

Da geht es auch richtig zur Sache?
Vor jeder Bilanzsitzung gab es bei Salzgitter beispielsweise eine Vorbesprechung mit dem für Controlling zuständigen Vorstandsmitglied. Auf der Basis der Bilanzanalysen aus der IG Metall sowie der Beratung durch die Hans-Böckler-Stiftung waren wir stets bestens vorbereitet. Hart, straff und klar strukturiert - so habe ich die Vorbereitung von Aufsichtsratssitzungen durch die IG Metall erfahren. Auf der Sitzung selbst konnte uns nichts mehr überraschen.

Ist diese Arbeitsteilung angemessen?
Sie sorgt dafür, dass die Aufsichtsratssitzung sehr effizient verläuft. Eine gute Vorbereitung verkürzt jede Sitzung. Länger dauert es nur, wenn es am Ende zu strittigen Entscheidungen kommt. Gelegentlich gibt es dann auch Sitzungsunterbrechungen - für Vier-Augen-Gespräche zwischen dem Sprecher der Arbeitnehmer und dem Vorsitzenden oder dem Aufsichtsratsvorsitzenden und dem Vorstand.

Bei Salzgitter mussten die Weichen für den Erhalt des Standorts immer wieder neu gestellt werden.
Ich erinnere mich noch gut, wie wir Ende der 90er Jahre vor einer Aufsichtsratssitzung mit dem Vorstand von Salzgitter zusammensaßen. Wir alle fürchteten eine feindliche Übernahme - Salzgitter hatte damals eine Milliarde Liquidität im Portfolio. Im Zuge der Angriffe ist der Wille zur Zusammenarbeit enorm gestiegen. Das hat uns sehr zusammengeschweißt. Dank des Engagements von Gerhard Schröder und dem Land Niedersachsen konnte ein Verkauf an den österreichischen Konkurrenten Voest-Alpine dann verhindert werden. Die Eigenständigkeit ist übrigens bis heute für Salzgitter ein Riesenerfolg.

Sie saßen auch im Aufsichtsrat der Allianz AG, als dieses DAX-Unternehmen in eine Europäische Aktiengesellschaft umgewandelt wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass darüber nicht heftig diskutiert wurde.
Selbstverständlich. Die Allianz wollte diese Umwandlung unbedingt - vor allem wegen der Steuervorteile. Wir haben uns früh eingemischt - und wurden dabei von der Hans-Böckler-Stiftung hervorragend beraten. So konnten wir eine Verwässerung der deutschen Mitbestimmung verhindern. Das war unsere Bedingung. Jetzt haben die Allianz-Kollegen in Lettland plötzlich ein Betriebsratsbüro. Die Verkleinerung des Aufsichtsrats konnten wir allerdings nicht verhindern.

Was ist entscheidend für die Mitbestimmungskltur im Aufsichtsrat: das Gesetz, die Branche, die persönliche Chemie?
Alles spielt eine Rolle. Wegen der Montanmitbestimmung ist die Arbeit in der Stahlbranche am intensivsten. Und deshalb war Salzgitter für mich auch aus wissenschaftlicher Sicht ein wichtiges Mandat. Da habe ich gelernt - und als linker Ökonom musste ich das tatsächlich lernen -, dass man früh in die Gespräche mit Vorstand und Management gehen muss, wenn man beispielsweise Standorte und Arbeitsplätze erhalten will. Man muss alles ausschöpfen und jede Gelegenheit nutzen, gerade wenn man eine vernünftige Alternativstrategie entwickeln und durchsetzen kann.

Hat das in der Stahlindustrie in den vielen Krisen geklappt?
Die regelmäßig wiederkehrenden Stahlkrisen haben auch mich oft zermürbt. Wir konnten den Arbeitsplatzabbau sowie die Demontage von Standorten nicht verhindern. Wir haben aber dafür gesorgt, dass die Unternehmen effektiv fortgeführt werden konnten. Ohne die starke Montanmitbestimmung hätten wir den Strukturwandel in der Stahlbranche und ihre internationale Konkurrenzfähigkeit nie geschafft.

Der mitbestimmte Unterbau macht den Unterschied?
Tradition und Geschichte einer selbstbewussten Interessenvertretung sind ausschlaggebend. Wichtig ist auch der Organisationsgrad. Deshalb verdient die Arbeit von ver.di bei der Allianz ein riesiges Kompliment. Dort ist der Organisationsgrad sehr niedrig, was auch den Vorstandsmanagern nicht verborgen geblieben ist. Trotzdem haben sie uns als Interessenvertreter ernst genommen, vor allem als die Allianz vor großen Strukturentscheidungen stand. Sie wussten: Ohne uns geht es nicht.

Sie meinen den umstrittenen Kauf der Dresdner Bank?
Wir haben zwar im Aufsichtsrat für eine intensive Diskussion gesorgt, weil uns das Geschäftsmodell zunächst nicht einleuchtete, aber wir haben letztlich zugestimmt. Wir haben die unterschiedlichen Kulturen von Versicherungsspezialisten und Bankern, die sich im Habitus der Vorstände niederschlagen, völlig unterschätzt. Aus heutiger Sicht war das ein schwerer Fehler. Heute wissen wir, dass ein Versicherungsgigant für die Distribution seiner Produkte keine eigene Bank braucht.

Musste der linke Ökonom auch manche seiner ökonomischen Überzeugungen revidieren?
Ja, oder besser: Der linke Ökonom hat sehr viel dazugelernt. In gesamtwirtschaftlichen Theorien sind die Unternehmen eine Blackbox. Sie agieren nicht auf vollkommenen Märkten, ihre Strategiebildung ist bedeutsam. Mich faszinierte, wie ein Global Player wie die Allianz das Gesamtsystem zu optimieren versucht. Aber auch manches kritische Urteil ist bestätigt worden: Unternehmen versuchen zu ihren Gunsten Einfluss auf die Politik zu nehmen.

Zum Beispiel?
Bei der rot-grünen Steuerreform 1998/99 sollten die üppigen Rückstellungsmöglichkeiten für Schadensfälle deutlich eingeschränkt werden. Dafür habe ich mich damals politisch engagiert. Denn es handelte sich um schlichte Steuergeschenke, die ökonomisch nicht zu begründen waren. Dabei kannte ich auch die Zahlen zu den Steuervorteilen von der Allianz AG. Zugleich habe ich mitgekriegt, wie die Allianz gemeinsam mit anderen Unternehmen beim Bundeskanzler vorstellig geworden ist. Später gab es mit der Steuerbefreiung für Veräußerungsgewinne eine Art Wiedergutmachung für den Abbau dieses Steuerprivilegs. Manches hätte ich gerne nach außen posaunt, aber da ist der Aufsichtsrat zu absoluter Vertraulichkeit verpflichtet.

Wie gingen Sie mit solchen Loyalitätskonflikten um?
Es war oft bitter: Man wusste, dass Arbeitsplätze abgebaut werden sollen, aber man durfte den Kollegen nichts sagen. Es gibt aber auch Grenzfälle, bei denen man sich über die Schweigepflicht hinwegsetzen muss. Ich habe das einmal getan. Als Bremens Bürgermeister Henning Scherf 2000 bei Gewoba eine Sperrminorität an einen umstrittenen Investor verkaufen wollte, habe ich diese Information gestreut. Scherf war außer sich. Denn der Käufer hatte viel Geld für eine Stiftung versprochen. Der Verkauf kam nicht zustande.

Die Regelverletzung ist in Ausnahmefällen politisch zu rechtfertigen?
Ich bin überzeugt, dass ich bei Gewoba richtig gehandelt habe. Allerdings muss eine solche Entscheidung intensiv besprochen werden. Heute sind alle froh.

Ihr Verhältnis zur Anteilseignerseite war eher distanziert. Hat sich daran in den Jahren etwas geändert?
Von einigen Vertretern war ich richtig enttäuscht. Große Wirtschaftsbosse ließen oftmals wenig Kompetenz erkennen. Doch insgesamt ist auch mein Verhältnis zur Kapitalseite differenzierter geworden. Ich ließ mir sogar ein Vorurteil abtrainieren: dass die andere Seite prinzipiell immer hinterhältig und kooperationsunwillig ist.

Plaudern Sie doch mal aus dem Nähkästchen!
Namen lassen wir weg. Wichtiger ist, dass ich auch einige Persönlichkeiten getroffen habe, die mich gelehrt haben, dass das linke Vorurteil über die "Charaktermasken des Systems", um Marx zu zitieren, großer Quatsch ist. Ich nenne jetzt doch einen Namen: Mit Martin Winterkorn, dem jetzigen VW-Vorstandsvorsitzenden habe ich in all den Jahren im Aufsichtsrat bei der Salzgitter AG unglaublich gut zusammengearbeitet. Zu ihm hat sich, bei aller Distanz, eine intellektuelle Gemeinsamkeit entwickelt. Wir konnten vieles besprechen.

Vom Gesetzgeber ist gewollt, dass das Know-how der betrieblichen Vertreter durch externen Sachverstand erweitert wird. Was konnten Sie beisteuern?
Ich wurde immer als der Ökonom, der Wirtschaftswissenschaftler wahrgenommen. In dieser Eigenschaft sind mir auch viele Aufgaben zugeschanzt worden. Meistens habe ich auf Sitzungen spontan Fragen gestellt, oft Bewertungsfragen oder Fragen zum Risikomanagement. Das war beispielsweise bei der Allianz eine ganz komplizierte Materie. Da habe ich von dem Wissen profitiert, das ich mir als Gewerkschaftsvertreter im Prüfausschuss aneignen konnte. Da kriegt man fast alles mit, auch die Auseinandersetzungen zwischen Wirtschaftsberater und Finanzchef.

In seinem Aufsatz für die Festschrift zu Ihrem 60. Geburtstag schreibt der ehemalige Salzgitter-Arbeitsdirektor Günter Geisler, dass 30 Ihrer 70 protokollierten Plenarbeiträge von strategischen Fragen handelten. Die Unternehmensstrategie war also ein Thema im Aufsichtsrat?
Die Unternehmenssituation hat dies gefordert. Wie wir uns in Ostdeutschland engagieren, war zum Beispiel nach dem Fall der Mauer eine wichtige Frage. Wir haben die schwierige Entscheidung getroffen, einen Teil der Produktion und Arbeitsplätze in Salzgitter abzubauen zugunsten des Walzwerks Ilsenburg in Sachsen-Anhalt. In den Vorbesprechungen sind die Fetzen geflogen. Aber dann hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass auch die Arbeitnehmer einen Beitrag leisten müssen. Horst Schmitthenner, dem damaligen stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden, ist es gelungen, die teils divergierenden Interessen in einer Perspektive zu bündeln. Darüber waren alle froh.

Corporate Governance ist immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen. Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren vor allem die bilanzrechtlichen Instrumente für die Unternehmenskontrolle geschärft. Stärkt das auch die Mitbestimmung?
Die Kontrolle ist anspruchsvoller geworden. Von hauptberuflichen Aufsichtsräten halte ich gleichwohl nichts. Wir brauchen Leute, die in der Lage sind, Interessen zu vertreten. Die Interessen müssen deutlich gemacht werden, gerade auch die Interessengegensätze. Und dazu bedarf es der Legitimation durch die Beschäftigten. Wir können gegenüber den Anteilseignern immer darauf hinweisen, dass wir demokratisch gewählt sind. Selbstverständlich gehört dazu auch eine wachsende Professionalisierung. Damit wir sie herstellen und gewährleisten können, führen wir ja unsere Tantiemen an die Hans-Böckler-Stiftung ab.


Zur Person

RUDOLF HICKEL, 68, ist Finanzwissenschaftler. Seine Lehrtätigkeit an der Universität Bremen beendete er 2007 nach 36 Jahren. Im Herbst 2009 trat er auch als Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft (IAW) zurück, das er seit 2001 leitete. Als Externer vertrat er Arbeitnehmerinteressen in verschiedenen Aufsichtsräten: beim Stahlhersteller Salzgitter von 1984 bis 2008, sowie von 1998 bis 2006 bei der Allianz AG. Derzeit ist er Mitglied im Aufsichtsgremium der Gewoba, einer Bremer Wohnungsbaugesellschaft. Für die IG Metall sitzt Hickel seit 2009 im Aufsichtsrat von Atlas Electronic, einem Joint Venture zwischen EADS und ThyssenKrupp. Auch nimmt er das Mandat des Externen bei der Kieler HDW, einer Tochter der ThyssenKrupp Marine Systems, wahr.

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