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Porträt (sw) von Oscar Negt Magazin Mitbestimmung

Nachruf: Freund und Kritiker

Ausgabe 01/2024

Der Philosoph Oskar Negt war der Brückenbauer zwischen der Revolte von 1968 und der Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaften verlieren mit ihm einen großen Ideengeber. Von Kay Meiners

Wer das Glück und die Ehre hatte, bei Oskar Negt zu Gast zu sein, wurde sogleich Teil einer gutbürgerlichen
Wohngemeinschaft: In der Hannoveraner Altbauwohnung, in der er mit seiner Frau Christine Morgenroth lebte, gab es Wände aus Büchern. Sofort wurden Kaffee und Kuchen gereicht. Negt konnte Vertrautheit herstellen. Als ich ihn im Jahr 2005 zusammen mit meiner Kollegin Margarete Hasel zum Interview traf, hatten wir gleich das Gefühl, willkommen zu sein. Dabei war das Thema des Interviews für Negt unangenehm, denn es ging um die Entstehung einer neuen Partei. Kurz zuvor war die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) gegründet worden, von enttäuschten Mitgliedern der SPD-Linken und Gewerkschaftsmitgliedern, die die Ablehnung der Hartz-Gesetze einte. Diese Partei trat nun zu den Bundestagswahlen an.

Negt, der 1954 in die SPD eingetreten war und sich zeitlebens dieser Partei verbunden fühlte, obwohl er 1961 wegen seiner Mitgliedschaft im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ausgeschlossen worden war, fühlte sich seitdem als „konstitutioneller Sozialdemokrat“. Mit den Positionen der WASG sympathisierte Negt, doch sie war für ihn eine populistische Abspaltung, die wenig bewirken würde. Den Namen „Linkspartei“, der damals aufkam, fand er anmaßend. Zudem fürchtete  er eine Schwächung der Linken insgesamt. Mehr versprach er sich von einer „außerparlamentarischen Opposition“ (APO),  vergleichbar jener APO der 1960er Jahre, deren Wortführer er als junger Mann gewesen war.

Vom Studenten zur politischen Figur

Um zu verstehen, wofür dieser Mensch stritt, der sich zu einem der großen Sozialphilosophen der Bundesrepublik entwickelte, muss man Negts Lebensweg anschauen. Zur Welt kam er 1934 in der ostpreußischen Provinz, wo er als jüngstes von sieben Kindern in eine Familie von Kleinbauern und Arbeitern geboren wurde. Er erlebte das Trauma der Vertreibung durch die Sowjetarmee, sah das untergehende Königsberg als „Totenstadt“, lebte in dänischen Internierungslagern, bevor er schließlich nach Niedersachsen umsiedelte. Erst zehn Jahre nach der Flucht fühlte er sich angekommen in einem neuen Leben.

In den 1960er Jahren wurde aus dem Studenten und Wissenschaftler eine politische Figur. Früh war er um eine enge Zusammenarbeit der marxistischen Linken mit den Gewerkschaften bemüht und bald eine wichtige Stimme in der APO und dem in Offenbach ansässigen Sozialistischen Büro. Bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den führenden Vertretern der Frankfurter Schule, hatte er Soziologie und Philosophie studiert und bei Adorno über den Gegensatz von Positivismus und Dialektik bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Auguste Comte promoviert. Von 1962 bis 1970 war Negt Assistent von Jürgen Habermas an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt. Dann wurde er auf den Lehrstuhl für Soziologie der Technischen Universität Hannover, der heutigen Gottfried Wilhelm Leibniz Universität, berufen, an der er bis zu seiner Emeritierung 2002 lehrte. Seine Nähe zur gewerkschaftlichen Bildung erlaubte ihm einen nachhaltigen Einfluss auf führende Gewerkschaftsmitglieder. Als Student hatte Negt die Bildungsarbeit der IG Metall kennengelernt und war später stellvertretender Leiter der DGB-Bundesschule in Oberursel.

In den 1980er Jahren unterstützte Negt die Gewerkschaften im Kampf für die 35-Stunden-Woche. Dazu kam ein Kultur- und Bildungsengagement, etwa in der Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Alexander Kluge, in der unter anderem Konzepte bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit erprobt wurden, oder die Gründung der Glockseeschule 1972 in Hannover, die reformpädagogische Konzepte und das Lernen durch Selbstregulation erprobte. Bis heute gibt es hier keinen 45-Minuten-Takt, keine Schulglocke und kein Sitzenbleiben. Negt engagierte sich auch in der Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung. Von 1971 bis 1997 war er ihr Vertrauensdozent. Die Hans-Böckler-Stiftung und ihre Vertrauensdozentinnen und -dozenten trauern um einen wichtigen Ideengeber. Er hat auch in dieser Funktion zahllose Debatten um die Zukunft der Gesellschaft bereichert. In seinem Buch „Wozu noch Gewerkschaften?“ aus dem Jahr 2004 richtete Negt an die Gewerkschaften kritisch die Frage nach deren neuen Herausforderungen.

Wer sein Denken kennenlernen will, kann auf eine Werkausgabe zurückgreifen, die der Steidl Verlag Göttingen mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung veröffentlicht. Erst der zeitliche Abstand, die künftige Auseinandersetzung mit Negt wird zeigen, was von seinen Schriften und Ideen originär war, was zeitabhängig. Eines aber ist sicher: So, wie Oskar Negt einen Platz in der Zeitgeschichte hat, so wird er als Ideengeber für die Gewerkschaften schwer zu ersetzen sein. Seine Idee, durch exemplarisches Lernen die Formbarkeit der sozialen Umstände zu erkennen, vor allem aber sein durch und durch demokratisches Menschenbild, das auch Eigensinn, Widerständigkeit und Mündigkeit am Arbeitsplatz umfasste und dem Hierarchie fremd war.

Berthold Vogel, der Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen, nannte Oskar Negt einmal einen Menschen, der uns Mut macht, „nicht immer und immer wieder bei uns selbst stehen zu bleiben, sondern in das Weite  und das Offene zu treten“. Der Mensch, der, auch wenn er missbraucht und ausgebeutet wird, die „Kraft zur Zukunftsbezogenheit und Emanzipation“ hat – das war sein Lebensthema. Es war seine biografische Erfahrung und  Philosophie zugleich. Oskar Negt starb am 2. Februar im Alter von 89 Jahren nach langer, schwerer Krankheit.

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