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Magazin Mitbestimmung

Von MICHAELA NAMUTH: Europäische Praktiker: 20 Jahre EBR-Richtlinie

Ausgabe 01/2017

Betriebsrat Arbeitnehmervertreter in multinationalen Konzernen müssen grenzüberschreitend zusammenarbeiten, um nicht gegeneinander ausgespielt zu werden. Vor 20 Jahren hat der EU-Gesetzgeber dafür den rechtlichen Rahmen geschaffen.

Von MICHAELA NAMUTH

Romuald Jagodzinski denkt europäisch. „Das war schon in der Schule so“, behauptet er. Er spricht perfekt Deutsch – aber auch Englisch, Französisch und natürlich Polnisch, seine Muttersprache. Aus dem Fenster seines Büros blickt er auf ein Stück grauen Brüsseler Himmel. Sein Zimmer im dritten Stock des Internationalen Gewerkschaftshauses ist klein und eng, die Wände tapeziert mit Tabellen – eine echte Forscherhöhle. Hier hütet er einen besonderen Schatz: die größte Datenbank über Europäische Betriebsräte.

Jagodzinski, 36, ist Senior Researcher am ETUI – dem Forschungsinstitut des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Seit zehn Jahren trägt er dazu bei, dass die EBR-Datenbank, die seit Ende der 90er-Jahre existiert, weiter wächst. Heute umfasst sie über 1900 Vereinbarungen mit Originaltexten und Novellierungen. Dazu bietet sie Erklärungen zur Gesetzeslage auf europäischer und nationaler Ebene sowie Formulare für neue Vereinbarungen.

Herr über die EBR-Daten

Mit den Daten, Infos und Formularen sollen die Europa-Praktiker in Betriebsräten und Gewerkschaften ein wirksames Arbeitsinstrument in die Hand bekommen. Denn für Jagodzinski sind die Zahlen und Analysen keine trockene Statistik, sondern eine politische Strategie. „Der Europäische Betriebsrat war das erste und ist bis heute das wichtigste Instrument der Arbeitnehmer, um auf Europäisierung und Globalisierung zu reagieren“, sagt er.

Er legt eine hellblaue Broschüre auf den Tisch. Es ist die Studie „Facts & Figures“, in der er und sein Kollege Stan De Spiegelaere zusammenfassen, was sie in der Datenbank über Eurobetriebsräte zusammengetragen, bearbeitet und analysiert haben. „Wir wollten mal ganz genau hinsehen, was in 20 Jahren – seit dem Inkrafttreten der ersten EBR-Richtlinie – erreicht wurde und was nicht“, erklärt er.

Die Studie zieht Bilanz seit 1996, als multinationale Konzerne erstmals von der 1994 verabschiedeten EU-Richtlinie 94/45/EG verpflichtet wurden, Arbeitnehmervertreter aus den verschiedenen Ländern, in denen sie operieren, über Managerentscheidungen zu informieren und sich darüber mit ihnen zu beraten. Seitdem wurden rund 1000 Eurobetriebsräte gegründet, in denen rund 20 000 Delegierte aktiv sind, die mehr als 17 Millionen Beschäftigte vertreten.

Allerdings fördern die Statistiken nicht nur Positives zutage. In vielen Firmen, die dazu berechtigt wären, gibt es keinen EBR – Schätzungen aus anderen Quellen sprechen von 1500 Unternehmen. 39 Prozent der EBR gründen auf freiwilligen Vereinbarungen, sogenannten Artikel-13-Vereinbarungen, die vor Inkrafttreten der Richtlinie verhandelt wurden und Bestandsschutz genießen.

Nur drei Prozent haben in ihrer Vereinbarung festgelegt, dass das Gremium mit dem Management über transnationale Entscheidungen verhandeln kann. Dabei ist die Verhandlungskompetenz unter Einbeziehung der Gewerkschaften eine der zentralen Fragen, um die es seit Gründung der ersten EBR geht.

Pionier der europäischen Interessenvertretung

Zu diesen ersten Aktivisten einer europaweiten Interessenvertretung gehörten die Betriebsräte von Ford Deutschland. „Wir hatten schon in den 70ern bilaterale Kontakte zu den Kollegen aus Frankreich, Belgien und Großbritannien“, erzählt Wilfried Kuckelkorn. Doch während internationale Vernetzung für die Arbeitnehmervertreter von heute Internet, Skype-Konferenzen und schnelle Flüge ins Ausland bedeutet, sah die Welt zu Zeiten der Europa-Pioniere noch anders aus.

„Wir telefonierten und nahmen den Zug, wenn wir uns treffen wollten”, sagt Kuckelkorn, der damals Geschäftsführer des Betriebsrats von Ford Deutschland und Vertrauenskörperleiter der IG Metall war. Später wurde er Gesamtbetriebsratsvorsitzender, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender und Vorsitzender des Europäischen Betriebsrates von Ford Europa.

Als er 1994 als SPD-Abgeordneter ins Europa-Parlament einzog, galt sein erster Bericht dem Thema Eurobetriebsrat. Sein eifrigster Mitstreiter sei der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm gewesen, der letztendlich auch Bundeskanzler Helmut Kohl davon überzeugt hätte, sich für dieses neuzuschaffende Gremium einzusetzen.

„Ohne den Druck von deutscher Seite gäbe es die Richtlinie von 1996 gar nicht“, so seine Überzeugung. Sie gilt seitdem für Unternehmen, die mindestens 1000 Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten und jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer in mindestens zwei Mitgliedstaaten beschäftigen. Sie gilt auch für die in EU-Ländern befindlichen Niederlassungen internationaler Konzerne, die ihren Hauptsitz außerhalb der EU haben.

Im Ford-Konzern hatten Kuckelkorn und seine Kollegen 1996 einen europäischen Betriebsrat durch eine freiwillige Vereinbarung durchgesetzt. „Der Widerstand der amerikanischen Manager war anfangs gewaltig“, erzählt er. Aber am Ende erstritten sich die Arbeitnehmervertreter von Ford ihren EBR. Dieser erreichte wegweisende Vereinbarungen bei Restrukturierungen, wie bei der Abspaltung des Unternehmens Visteon, wo 2000 zum ersten Mal ein EBR als Verhandlungspartner anerkannt wurde.

Akteure mit langem Atem

Doch in Zeiten der Krise der Autoindustrie sind solche Vereinbarungen schwieriger geworden. „Verhandeln wäre eine tolle Sache, aber wir sind derzeit damit beschäftigt, den dauernden Versuchen des Managements entgegenzusteuern, alle Themen auf ein nationales Problem herunterzubrechen, um den EBR auszuschalten“, erklärt Georg Leutert, der seit 1999 als Sekretär die Arbeit im Ford-EBR koordiniert. Auch der Kölner ist überzeugter Europäer, spricht mehrere Sprachen.

2012 mussten er und seine Kollegen eine schwere Niederlage einstecken. Der Konzern kündigte die Schließung mehrerer Niederlassungen in Europa an, darunter ein Werk im belgischen Gent, das eigentlich durch eine nationale Investitionssicherungsvereinbarung geschützt war.

„Wir konnten die Schließung nicht verhindern und hatten ein totales Ohnmachtsgefühl“, sagt Leutert heute. Damals haben die Arbeitnehmervertreter im EBR begonnen, eine eigene Datenbank über alle Ford-Niederlassungen in Europa anzulegen. Sie erstellen Tabellen über Löhne, Arbeitszeiten, Schichten und Überstunden. „Die Fakten sind Argumente gegen den Konzern, der versucht, uns gegenseitig durch den Standortwettbewerb auszuspielen“, erklärt Leutert.

Damit verfolgt er in Köln dieselbe Strategie wie Jagodzinski in Brüssel mit seiner europäischen Datenbank. „Der Erfolg eines EBR steht und fällt mit dem Engagement Einzelner. Aber sie brauchen Fakten und Infos, mit denen sie verhandeln können“, sagt der Forscher.

Oft wird Jagodzinski auf Gewerkschaftskonferenzen und Betriebsrätetreffen eingeladen, um den Praktikern die Zahlen zu erklären. Dadurch vernetzt er die Akteure. „Wir sind auf diese Unterstützung angewiesen“, erklärt Lucia Peveri. Sie und ihr Kollege Francesco Colasuonno sitzen gerade nicht weit vom Internationalen Gewerkschaftshaus im Kaffeesaal eines Brüsseler Hotels. Um sie herum schwelt gedämpftes Sprachengewirr. Am Nebentisch diskutiert eine Gruppe auf Spanisch.

Einziger Zugang zur Konzernspitze

Peveri und Colasuonno vertreten den EBR des Bankenkolosses Unicredit und sind aus Mailand zum Europa-Kongress der UNI Global Union angereist, dem Zusammenschluss von weltweit 900 Gewerkschaften aus multinationalen Konzernen der rasant wachsenden Servicebranche. Gekommen sind Arbeitnehmervertreterinnen und Eurobetriebsräte aus 119 Multis, unter anderem Supermarktketten, Banken, Versicherungen und Telekommunikationskonzerne.

„Jeder hat andere Probleme, aber wir haben begonnen, uns auszutauschen“, erklärt Lucia Peveri. Der Austausch mit anderen Europa-Praktikern ist für sie existenziell. Deshalb fordern sie und die anderen Kongressteilnehmer, dass für ihre Branche endlich europäische Rahmenvereinbarungen ausgehandelt werden.

Wie viele EBR-Aktivisten ist auch sie überzeugte Europäerin. Sie spricht – neben italienisch – englisch und französisch und begann ihre Karriere im Personalbüro der Bank of America in Italien. Dann wechselte sie in die internationale Abteilung der italienischen Gewerkschaft UILCA und engagiert sich seitdem für ein Europa der Arbeitnehmer. Seit 1996 vertritt sie die italienischen Beschäftigten im EBR der Deutschen Bank und seit 2007 ist sie Gewerkschaftsdelegierte der Branchenorganisation Uni Finance im EBR der Unicredit, zu der auch die deutsche HypoVereinsbank gehört.

Seit der Gründung des EBR bei Unicredit vor zehn Jahren hat sich im Konzern viel geändert. Damals waren Italien, Deutschland und Österreich noch die wichtigsten Märkte, heute wird das große Geschäft in Osteuropa gemacht. Der neue Konzernchef Jean Pierre Mustier hat im vergangenen Dezember einen neuen Strategieplan verkündet. Insgesamt sollen 14 000 Stellen von derzeit 101 000 gestrichen und fast 1000 Filialen geschlossen werden, davon die meisten in Italien.

„Die Branche ist von einer aggressiven Restrukturierung betroffen“, erklärt Francesco Colasuonno. Der gelernte Programmierer ist seit fünf Jahren Mitglied des EBR bei Unicredit und wird als Arbeitnehmervertreter der Gewerkschaft FABI auch ihr künftiger Präsident sein. Angesichts der rasanten Globalisierung der Finanzbranche ist der EBR für ihn ein existenzielles Instrument. „Es ist die einzige Möglichkeit, uns mit der Konzernspitze auf internationaler Ebene auszutauschen und sie mit unseren Forderungen zu konfrontieren“, sagt er.

In den vergangenen Jahren konnten er und seine EBR-Kollegen wichtige Forderungen durchsetzen. 2009 wurde in Wien die Unicredit-Gewerkschaftsallianz gegründet, bei der auch ver.di eine der treibenden Kräfte ist. Man hat gemeinsam erreicht, dass der Konzern mit dem EBR eine Erklärung über ein verantwortungsvolles Kreditgebaren unterzeichnete – zum Schutz der Kunden, aber auch der Beschäftigten. Für ihn persönlich war das eine wichtige Erfahrung. “Man versteht plötzlich, dass man gemeinsam Durchsetzungskraft hat und etwas verändern kann”, sagt er.

Er und Lucia Peveri wollen jetzt eine stärkere Vernetzung auf internationaler Ebene erreichen. Deshalb sind sie zum Kongress nach Brüssel gekommen. Dort haben Kolleginnen und Kollegen aus anderen Unternehmen berichtet, dass einige Arbeitgeber versuchen, den EBR als Verhandlungsgremium unter Ausschluss der Gewerkschaften zu benutzen. Über diesen Trend ist Lucia Peveri besorgt. “Der Eurobetriebsrat ist immer noch eine zarte Pflanze. Er braucht die Gewerkschaften, sonst stirbt er”, sagt sie.

Warten auf die Kommission

Das sieht Europaforscher Romuald Jagodzinski genauso. Er findet allerdings, dass die Gewerkschaften schon viel getan haben und fordert vor allem eine rechtliche Stärkung des EBR. Die Rechtslage der Eurobetriebsräte ist auch nach der erneuerten Richtlinie von 2009 immer noch unsicher. „Das schwächt sie bei Konflikten“, kritisiert er. Seine Studie bemängelt, dass die Richtlinie in einzelnen Ländern nur oberflächlich umgesetzt wurde und oft nicht funktioniert.

Während es in Deutschland, dem Land der Mitbestimmungskultur, klare und starke Rahmengesetze gebe, sei die Durchsetzung der EBR-Rechte beispielsweise in englischen und irischen Firmen äußerst schwierig. „Es gibt überall Probleme, die nach Willen der Richtlinie von nationalen Gerichten gelöst werden sollen, aber sie gibt den Eurobetriebsräten nicht die nötigen gesetzlichen Instrumente und finanziellen Ressourcen an die Hand, um eine Klage durchzustehen,“ so sein Fazit.

Zu diesem Problem hätte sich die EU-Kommission eigentlich im vergangenen Jahr äußern wollen. Sie hat eine Bewertung der aktuellen Richtlinie und ihrer jeweiligen nationalen Umsetzung angekündigt, auf die bislang noch gewartet wird. Jagodzinski und seine Kollegen vom ETUI waren mit ihren Studien schneller. Das war auch beabsichtigt. Denn angesichts der mehrheitlich neoliberal orientierten EU-Kommission und des aktuellen politischen Klimas erwarten sie kaum eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte. Doch mit den Fakten ihrer Forschungen, fühlen sie sich für die anstehende Auseinandersetzung bestens gewappnet. „Wir haben uns vorbereitet“, sagt er. Jetzt sind die Kommissäre am Zug.

Fotos: ETUC, Horst Wagner, Jürgen Seidel, Jürgen Seidel, Horst Wagner

 

WEITERE INFORMATIONEN

Romuald Jagodzinski: Europäische Betriebsräte feiern Jubiläum, November 2016, im Mitbestimmungsportal (inklusive Grafiken)

Romuald Jagodzinski, Stan De Spiegelaere: European Works Councils and SE Works Councils in 2015. Facts and figures, ETUI Books, 2015, 47 Seiten

Zur EBR-Datenbank:

www.ewcdb.eu

www.worker-participation.eu

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