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Magazin Mitbestimmung

: Eine Reform wird reformiert

Ausgabe 01+02/2010

GRUNDSICHERUNG Nie standen dem Hartz-IV-System so viele Änderungen bevor wie 2010 - nicht krisenbedingt, sondern weil Bundesregierung und Verfassungsgericht das so wollen. Die Gewerkschaften sind skeptisch. Von Joachim F. Tornau

JOACHIM F. TORNAU ist Journalist in Kassel

Es war ein Jubiläum, zu dem keine Sektkorken knallten. Am Neujahrstag sind die umstrittenen Arbeitsmarktreformen, die alle Welt nur noch Hartz IV nennt, fünf Jahre alt geworden. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II gehörte zur rot-grünen Agenda 2010. Jetzt steht das Jahr 2010 auf dem Kalender, und - Ironie des politischen Geschäfts - just zu diesem symbolischen Datum könnten sich die Hartz-IV-Regelungen so stark verändern wie noch nie. Manches will die schwarz-gelbe Bundesregierung freiwillig tun, zu anderem könnte sie vom Bundesverfassungsgericht gezwungen werden.

Noch ist die Wirtschafts- und Finanzkrise an dem offiziell "Grundsicherung für Arbeitsuchende" genannten System weitgehend vorbeigegangen - doch wird sie wohl noch ihre Spuren hinterlassen. Zwar gibt es keine exakten Prognosen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesarbeitsagentur erwartet jedoch, dass "absolut und relativ mehr Menschen als zuvor" in den Hartz-IV-Bezug abrutschen und langzeitarbeitslos werden könnten. Im Krisenjahr 2009 war die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsempfänger dagegen noch gesunken: Mit 4,9 Millionen Menschen - rund 100 000 weniger als im Vorjahresschnitt - wurde sogar ein neuer Tiefststand erreicht. Dennoch hat der Bund bereits in den beiden Nachtragshaushalten 2009 die Ausgaben für Hartz IV schrittweise um 4,3 Milliarden Euro angehoben. Und für das laufende Jahr ist mit Gesamtkosten von nun 38,7 Milliarden Euro noch einmal ein leichtes Plus von 900 Millionen Euro vorgesehen. Das hat allerdings weniger mit befürchteten Krisenfolgen als mit den Reformplänen von Union und FDP zu tun.

Der Berliner Koalitionsvertrag sieht vor, dass Arbeitslose künftig mehr Geld für die private Altersvorsorge zurückgelegt haben dürfen. Bislang liegt die Messlatte bei 250 Euro pro Lebensjahr, zusätzlich zu einer eventuellen Riester-Rente. Dieser Betrag gilt als Schonvermögen und wird bei der Bedürftigkeitsprüfung im Rahmen eines Hartz-IV-Antrags nicht angerechnet. Wenn die Lebensversicherung dagegen mehr wert ist, muss sie aufgelöst und für den aktuellen Lebensunterhalt verwendet werden - im Alter droht dann eben die Sozialhilfe. Noch im Juli 2009 hatte der Bundestag einen Antrag der Linksfraktion, dass der Freibetrag verdreifacht werden möge, mit den Stimmen von Union und SPD abgelehnt; FDP und Grüne enthielten sich. Später jedoch machte sich Schwarz-Gelb eben diese Forderung zu eigen: 750 Euro pro Lebensjahr sollen in Zukunft geschützt sein, wenn sie verbindlich fürs Alter angelegt sind.

SYMBOLPOLITIK BEIM SCHONVERMÖGEN_ "Die Förderung der privaten Altersvorsorge ist eine wichtige Maßnahme zur Verhinderung einer zukünftigen Altersarmut von breiten Bevölkerungsschichten", heißt es im Koalitionsvertrag. Die Begeisterung über die Pläne hält sich außerhalb der Koalition freilich in Grenzen. Von "Symbolpolitik" sprechen Kritiker in Opposition und Sozialverbänden, von einem bloßen "Tropfen auf den heißen Stein". Auch Wilhelm Adamy, Leiter des Bereichs Arbeitsmarktpolitik beim DGB, zeigt sich skeptisch: Das Ziel, sagt er, sei zwar grundsätzlich richtig. "Aber allzu große Auswirkungen wird diese Erhöhung des Schonvermögens nicht haben." Profitieren würden davon nur einige wenige, während die große Masse der Arbeitslosen leer ausgehe. Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit scheinen das zu bestätigen: Im vergangenen Jahr wurden von Januar bis September - neuere Statistiken liegen noch nicht vor - gerade einmal 11 000 Anträge auf Arbeitslosengeld II wegen zu hohen Vermögens abgelehnt. Das waren 0,2 Prozent der insgesamt gestellten 5,5 Millionen Anträge. Und wenn die Kalkulation der Bundesregierung aufgeht, wird der erhöhte Freibetrag im Bundeshaushalt lediglich mit 300 Millionen Euro im Jahr zu Buche schlagen - weniger als ein Prozent der aktuellen Hartz-IV-Ausgaben.

Peter Udsching, Richter am Bundessozialgericht in Kassel, warnt zudem vor einem "zunehmenden Gerechtigkeitsproblem". Schon heute würden es viele Arbeitslose als ungerecht empfinden, dass sie außerordentliche Einkünfte aus Erbschaften oder Abfindungen nicht für ihre Altersvorsorge nutzen dürften, erklärt der Vorsitzende des für Hartz-IV-Verfahren zuständigen 14. Senats. "Dieses Problem wird wachsen, wenn die neue Regierung ihre Ankündigung wahr macht und die Freibeträge erhöht." Denn nur was schon vor einem Antrag auf Arbeitslosengeld II auf der hohen Kante liegt, kann geschütztes Vermögen sein. Jeder Cent, der danach eingeht, ist Einkommen und muss für den Lebensunterhalt ausgegeben werden.

Während also eine Minderheit in Zukunft mehr Erspartes behalten darf, hat die große Mehrheit nach wie vor keine Chance, überhaupt jemals etwas fürs Alter zurückzulegen. Ein nachvollziehbarer Grund für Unmut. Und wie groß gar der Frust von Langzeitarbeitslosen ausfallen muss, die nach der bisherigen Regelung noch als zu "reich" galten und deshalb bereits Versicherung oder Haus geopfert haben, dürfte kaum zu ermessen sein. Von "schreiender Ungerechtigkeit" spricht der Sozialverband VdK und erwartet eine neue Klagewelle. Dabei ist die alte noch lange nicht abgeebbt: Im Jahr 2009 gingen bei den Sozialgerichten so viele neue Hartz-IV-Verfahren ein wie noch nie.

HARTZ iv ALS VEHIKEL FÜR DEN KOMBILOHN_ Kaum besser fallen die Kritiken für das andere große Vorhaben aus, das sich im schwarz-gelben Koalitionsvertrag unter der Überschrift "Grundsicherung" findet. "Wenn man arbeitet, muss man mehr haben, als wenn man nicht arbeitet", finden CDU/CSU und FDP und wollen Arbeitslosengeld-II-Empfängern deshalb erlauben, mehr Geld als bisher dazuzuverdienen. Bislang bleiben nur die ersten 100 Euro anrechnungsfrei. Von den nächsten 700 Euro dürfen die Arbeitslosen ganze 20 Prozent behalten und von allem, was darüber liegt, sogar bloß zehn Prozent. Wie viel das künftig sein soll, ist noch offen. Man wolle die Zuverdienstregelungen "deutlich verbessern", heißt es nur. "Das klingt zunächst vielleicht gut", meint DGB-Arbeitsmarktexperte Adamy, "aber es wird dazu führen, dass der Kombilohn um sich greift und immer mehr Menschen in Hartz IV hineinrutschen." Bereits heute gibt es mehr als 1,3 Millionen sogenannte Aufstocker: Menschen, die von ihrem Job nicht leben können und deshalb ergänzend Arbeitslosengeld II beziehen. Ihre Zahl dürfte deutlich ansteigen, wenn die Zuverdienstgrenzen angehoben werden - und es Unternehmen damit noch leichter fällt, Personal für schlecht bezahlte Arbeit zu finden. "Das Hartz-IV-System fördert die Ausdehnung des Niedriglohnsektors", sagt Adamy. Sozialleistungen würden dann Subventionen für Arbeitgeber, die Dumpinglöhne zahlen.

Wohl mit gutem Grund wurde, was von Schwarz-Gelb als Wohltat für Erwerbslose verkauft wurde, von Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt ausdrücklich gelobt: "Ich begrüße, dass sich die Koalitionspartner darauf verständigt haben, das Kombi-Einkommen beim Arbeitslosengeld II weiterzuentwickeln." Für den DGB dagegen müsste, wenn wirklich die Situation von Arbeitslosen erleichtert werden soll, an den Ursachen angesetzt werden. "Wir treten dafür ein, die vorgelagerten Systeme zu verbessern", sagt Adamy.
Sprich: Am besten soll der Absturz in Hartz IV ganz vermieden werden. Doch auch für die Hartz-IV-Bezieher selbst verlangt der DGB Verbesserungen. So sollten Arbeitslose ein Jobangebot ohne Risiko von Sanktionen ablehnen können, wenn nicht ein Stundenlohn von mindestens 7,50 Euro gezahlt werde. Und: Die Regelleistungen zum Lebensunterhalt - zurzeit 359 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen - seien anzuheben. "Wir halten die Regelsätze im Moment nicht für existenzsichernd", sagt Adamy.

OHRFEIGE AUS KARLSRUHE_ Solange es Hartz IV gibt, wurde über die Höhe und Berechnung der Leistungen gestritten. Doch was fünf Jahre lang ohne Wirkung verhallte, ist ausgerechnet jetzt, im Agenda-Jahr 2010 auf den Prüfstand gekommen - und durchgefallen. Am 9. Februar haben die Verfassungsrichter in Karlsruhe die Berechnungsverfahren für Kinder und Erwachsene für unzureichend erklärt. Die bisherige Praxis verstößt gegen das Grundgesetz, und der Gesetzgeber muss bis zum 31. Dezember eine Neuregelung schaffen. Auch Regelungen für den individuellen Sonderbedarf mahnen die Richter an. Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier sprach davon, dass "Schätzungen ins Blaue hinein" den Anforderungen an ein transparentes, sachgerechtes und realitätsnahes Verfahren nicht genügen könnten. Statt den spezifischen Bedarf von Kindern und Jugendlichen zu ermitteln, wurden bislang einfach die Regelsätze für Erwachsene genommen und je nach Alter pauschal um 20 bis 40 Prozent reduziert. Eine Begründung, warum genau diese Sätze den Bedarf decken sollten, gab es nicht. Zwar hatte die schwarz-rote Bundesregierung im vergangenen Jahr noch nachgebessert und die Leistungen für Sieben- bis 14-Jährige von 60 auf 70 Prozent des Erwachsenenbetrags erhöht.

Doch die Verfassungsrichter hatten bereits in der mündlichen Verhandlung durchblicken lassen, dass sie eine Neuberechnung des "Sozialgeld" genannten Kinder-Hartz-IV fordern würden und möglicherweise eine "Öffnungsklausel", damit jenseits der Pauschalen auch ein zusätzlicher Bedarf individuell geltend gemacht werden könne. Bereits während der Verhandlungen hatte der Gerichtspräsident das "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" so deutlich erwähnt, dass damit zu rechnen war, dass bloße Schätzungen ohne solide empirische Grundlage keine Gnade finden würden. Ob das neue Urteil nun auch mehr Geld für Hartz-IV-Empfänger bedeutet, ist damit nicht präjudiziert. Denn die Richter haben auch erkennen lassen, dass sie die bisher gezahlten Transfersummen nicht für evident zu niedrig halten.

Das aktuelle Urteil ist nicht die erste Karlsruher Ohrfeige, die der Gesetzgeber in Sachen Hartz IV einstecken muss. Schon vor gut zwei Jahren erklärten die Verfassungsrichter die örtlichen Arbeitsgemeinschaften (ARGE), die als Gemeinschaftseinrichtungen von Arbeitsagentur und Kommunen für die Bewilligung von Grundsicherung zuständig sind, für grundgesetzwidrig. Auf eine Verfassungsänderung oder eine grundgesetzkonforme Neuregelung konnten sich Bund und Länder jedoch bisher nicht verständigen. Nun werden sie nicht nur auf das Karlsruher Urteil reagieren, sondern auch diese älteren Hausaufgaben nachholen müssen. Aktuell zeichnet sich ab, dass sich die Volksparteien nun doch noch auf eine Änderung des Grundgesetzes verständigen.

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