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Magazin Mitbestimmung

: Die trügerische Ruhe

Ausgabe 09/2009

ARBEITSMARKT Noch verhindert Kurzarbeit Schlimmeres. Doch die Verunsicherung wächst - im brandenburgischen Eberswalde ebenso wie im schwäbischen Esslingen.

Von GUNTRAM DOELFS, Journalist in Berlin/Fotos: Stephan Pramme (l.), Martin Storz

Eigentlich scheint an diesem Vormittag fast alles so wie immer. Gerade ist Frank Brunner in ein unübersichtliches Wirrwarr von Stahlwalzen, Bändern und Schaltern abgetaucht, um die neue Rohrschweißanlage zu justieren. Der rund zehn Millionen Euro teure und mehr als 30 Meter lange Koloss schweißt Präzisionsstahlrohre zusammen. Innenberäumung heißt Brunners Tätigkeit im Fachjargon, hier sind Fachkräfte gefragt. Bei der Walzwerk Finow GmbH im brandenburgischen Eberswalde überwacht der 43-jährige Oberschweißer nicht nur die laufende Produktion, sondern rüstet die Maschinen in den Hallen um. Vor einem Jahr schuftete Brunner in drei Schichten. Heute dagegen werden er und die wenigen Kollegen in der Halle ihr Tagwerk bald beenden. Dann ist es 14 Uhr, und in die riesigen Hallen nahe Berlin wird gespenstische Stille einkehren.

Bis zum Sommer 2008 brummte hier die Produktion. Die Eberswalder versorgen die Automobilzulieferindustrie mit Stahlrohren und Profilen, auch in der Bau- und Solarbranche gibt es Kunden. Nach langen Jahren der Krise schien es seit 2006 am Traditionsstandort mit einer mehr als 100-jährigen Firmengeschichte wieder aufwärtszugehen, schrieb das Unternehmen schwarze Zahlen. Dann kam der September 2008.

AUFTRÄGE BRECHEN WEG_ Binnen weniger Wochen wurde der Betrieb mit rund 250 Beschäftigten von der Krise überrollt. Die Aufträge brachen um mehr als 40 Prozent ein, der monatliche Umsatz des Walzwerkes kollabierte nach Angaben des Geschäftsführers Patrick von Hertzberg zeitweise "von 7,5 Millionen auf 1,5 Millionen Euro". Der Absturz blieb nicht ohne Konsequenzen. Im November 2008 ging das Unternehmen in Kurzarbeit, dann traten die Banken auf die Kreditbremse. Ende Juni stellte das Walzwerk Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens.

Für Frank Brunner ist die Schicht zu Ende. Ein letztes Zischen und Pfeifen, dann ebbt der Lärm der Maschinen langsam ab. Es gab keine Probleme. Und wenn, weiß Brunner sie zu lösen. Wie er damit umgehen soll, dass er Weihnachten vielleicht als Arbeitsloser erleben wird, weiß er allerdings nicht so recht. "Ich verdränge die Situation und versuche, nicht darüber nachzudenken", sagt er. Was soll er auch sagen angesichts einer Arbeitslosenquote von 13,6 Prozent in Eberswalde?

So wie Frank Brunner geht es vielen Beschäftigten, auch wenn die Krise sich in den offiziellen Zahlen bislang kaum niederschlägt. Rund 3,5 Millionen Arbeitslose verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit im Juli. Der Anstieg war im Vergleich zum Juni gering. Aber es ist eine äußerst trügerische Ruhe, wie im Auge eines Hurrikans. Im Herbst wird es damit vorbei sein, eine Entlassungswelle wird voraussichtlich über das Land rollen. Nur wie stark sie sein wird, da sind sich die Experten uneins. Für 2009 sagen die Wirtschaftsinstitute zwischen 3,7 und vier Millionen Arbeitslose voraus. Im kommenden Jahr können es laut Norbert Walter, Chef-Volkswirt der Deutschen Bank, bis zu fünf Millionen werden.

"DIE ANGST IM NACKEN"_ 750 Kilometer südwestlich von Eberswalde kämpft Benjamin Blasius mit einer für ihn ungewohnten Situation. Er hat Freizeit, viel mehr als ihm lieb ist. Der 47-jährige gelernte Feinmechaniker ist beim Esslinger Maschinenbauhersteller Index in Kurzarbeit. Durchschnittlich nur noch elf Tage pro Monat arbeiten Blasius und ein Großteil seiner rund 2200 Kollegen, manche sogar nur zwei bis drei Tage. Seitdem sitzt dem Industriemechaniker und seinen Kollegen "die Angst im Nacken". Er wirkt verunsichert, denn Arbeitslosigkeit war bislang ein Fremdwort für ihn, "die habe ich noch nicht erlebt". Ohne Job, das waren immer die anderen. Vor allem die Kollegen aus Ostdeutschland, die in Scharen an den Neckar zogen, um der heimischen Tristesse zu entkommen. Sie haben sie alle aufgenommen im schwäbischen Kraftzentrum der Republik. "Und wo sollen wir hingehen?", fragt Giovanni Conforti, der Betriebsratsvorsitzende von Index.

Benjamin Blasius versucht, sich zu beschäftigen und darauf aufzupassen, dass die Angst vor der Zukunft "nicht meinen Tagesablauf bestimmt". Ganz Schwabe, hat er sich "am Krägele geschnappt" und einen Nebenjob aufgenommen. Ein "bisschen Akquise" betreibe er, mehr mag er dazu nicht sagen. Als religiöser Mensch engagiert er sich ehrenamtlich in Kirchenarbeit. "Ich bin nicht der Typ, der einfach nur herumsitzt." Durch die Kurzarbeit gerät sein soziales Gefüge aus den Fugen. Bis vor wenigen Monaten bestimmte die gemeinsame Arbeit mit den Kollegen seinen Tagesablauf; heute sieht er viele Kollegen nur noch sporadisch. Das belastet alle, weil jeder ein wenig allein bleibt mit seiner Angst.

Noch im vergangenen Juli verzeichnete die Region um Esslingen eine Arbeitslosenquote von nur 3,5 Prozent. Ein Unternehmen nach dem anderen reiht sich am Neckar auf, immer in Sichtweite von Daimler, dem Platzhirsch in der Region. Neben der Automobil- und Automobilzulieferindustrie siedeln hier viele mittelständische Unternehmen des Maschinenbaus und der Elektroindustrie, darunter die Index-Gruppe, einer der weltweit führenden Hersteller von Drehmaschinen. Bislang war diese Branchenkonzentration ein Standortvorteil. Die Region strotzte vor Selbstbewusstsein, die Löhne waren hoch. Nun ist die Verunsicherung überall zu spüren - und die "Fallhöhe auf Hartz IV sehr hoch", sagt Sieghard Bender, Bevollmächtigter der IG Metall in Esslingen.

KURZARBEIT VERHINDERT SCHLIMMERES_ Längst zählt der Göppinger Bezirk der Agentur für Arbeit, zu dem Esslingen gehört, im bundesweiten Vergleich zu jenen mit den meisten Kurzarbeitern. Bis März arbeiteten in 795 Betrieben 18 856 Beschäftigte kurz, für das zweite Quartal rechnet die Agentur mit einem "deutlichen" Anstieg. Obwohl die Arbeitslosenquote auf fünf Prozent geklettert ist, hat die starke Kurzarbeit "bislang Schlimmeres verhindert", so Agenturchef Scheel. Wie stark dieser Effekt ist, zeigen Berechnungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Im ersten Quartal waren bundesweit rund 1,3 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit. Bei einem durchschnittlichen Arbeitsausfall von 34,6 Prozent entspricht das 435 000 Vollzeitjobs.

Noch versuchen die Unternehmen, ihre Facharbeiter zu halten. Qualifizierte Kräfte sind rar, wie die Firmen vor der Krise schmerzlich erfahren haben. Vor Jobverlust schützt das dennoch nicht mehr. "Inzwischen handelt es sich bei rund 60 Prozent der Arbeitslosen um Facharbeiter", beobachtet Agenturchef Scheel. Dramatisch ist die Situation bei den jüngeren Beschäftigten. Binnen eines Jahres ist die Arbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen im Bezirk um 78,6 Prozent gestiegen.

Benjamin Blasius ist seit April in Kurzarbeit. Er klagt nicht über die Ausfälle durch das Kurzarbeitergeld, noch kommt er zurecht. In den guten Jahren hat er als typischer Schwabe einige Rücklagen gebildet, was sich jetzt auszahlt. Größere Ausgaben sind vorerst tabu, "auf den Urlaub im Ausland verzichten wir. Wir sind nur eine Woche hier in Süddeutschland unterwegs." Er weiß, dass es Kollegen weit härter trifft. Jene, die über Schichtzulagen ihr Gehalt üppig aufgebessert haben und nun Einbußen bis zu 600 Euro netto im Monat hinnehmen müssen. Dennoch nagt es an seinem Stolz, wenn seine 13-jährige Tochter ihm anbietet, beim Shoppen nun mehr zu sparen.

VORLÄUFIGER VERZICHT AUF ENTLASSUNGEN_ Index leidet wie viele Maschinenbauer unter einem beispiellosen Auftragsrückgang. "Um bis zu 80 Prozent sind die Aufträge seit dem Herbst eingebrochen", schildert Giovanni Conforti die dramatische Situation. Schon zu Jahresbeginn habe es deshalb Überlegungen gegeben, rund 500 Kollegen zu kündigen. Betriebsrat und IG Metall konnten mit einem Ergänzungstarifvertrag Entlassungen bis Ende Januar 2010 vorerst verhindern. Was danach kommt, ist unklar. Die Geschäftsführung von Index wollte sich auf Anfrage dazu nicht äußern. Die allgemeine Beklemmung presst Conforti in ein düsteres Bild: "Wir fahren auf Sicht, aber überall um uns herum ist Nebel."

Für den vorläufigen Verzicht auf Entlassungen machte die Belegschaft finanzielle Zugeständnisse. Alle bekommen in der Kurzarbeit 93 Prozent des Nettoeinkommens, zudem verzichtet die gesamte Belegschaft auf 50 Prozent des Urlaubs- sowie des Weihnachtsgeldes. Die eingesparte Gesamtsumme wird halbiert und durch die Zahl der Beschäftigten geteilt, "damit jeder den gleichen Betrag bekommt", so IG-Metall-Chef Bender.

Er betreut schätzungsweise 100 größere Betriebe, 80 bis 90 davon gelten als angeschlagen. Kommt es zu einer Pleitewelle, hätte das verheerende Konsequenzen - für die Beschäftigten wie für Esslingen. Schon jetzt reißt die Schlagseite der Unternehmen gewaltige Etatlöcher. Statt der erwarteten 60 Millionen Euro an Gewerbesteuern rechnet die Kommune 2009 mit nur noch 17 Millionen Euro.

600 EURO WENIGER IM MONAT_ An Krisen ist Frank Brunner aus Eberswalde längst gewöhnt. Seit 1982 arbeitet er im Walzwerk, damals zählte der Betrieb noch mehr als 2000 Beschäftigte. Die Privatisierung nach der Wende kostete viele seiner Kollegen den Job, die Geschäftsführer wechselten zeitweise im Jahrestakt. Der industrielle Niedergang hinterließ deutliche Spuren, die Kommune hat mehr als ein Viertel ihrer ehemals 60 000 Einwohner verloren.

Größere Rücklagen hat Frank Brunner angesichts dieser Vorgeschichte nie bilden können. Durch die Kurzarbeit und den Verlust der Schichtzulagen hat er "500 bis 600 Euro netto weniger im Monat", sagt er, bei einem regulären Durchschnittslohn ohne Zulagen von 1700 Euro brutto im Betrieb. Brunners Glück ist, dass seine Frau als Krankenschwester arbeitet. Sein 20-jähriger Sohn, der ebenfalls im Werk arbeitet, ist dagegen längst in der Bredouille. "Als er für eine Autoreparatur 600 Euro zahlen sollte, hätte er ohne familiäre Hilfe die weiße Fahne hissen müssen", schildert der Schweißer. Christian Ramm, Chef der Agentur für Arbeit in Eberswalde, kann daher über die Diagnose, der Osten sei weniger stark von der Krise betroffen, nur schmunzeln. "Bei uns ist der Aufschwung gar nicht erst angekommen, da kann auch der Abschwung nicht so stark sein." 20 Jahre nach der Wende zählt Ramms Agentur für Arbeit mit 630 Beschäftigten zu den größten Arbeitgebern.

Trotz Kurzarbeit gab es bereits Entlassungen im Walzwerk. Als Erste traf es die fünf Leiharbeiter, im April folgten 36 Festangestellte. Dennoch hofft Brunner, dass das Walzwerk das Anfang September eröffnete Insolvenzverfahren überlebt. "Wichtig ist, dass die Banken endlich wieder Kohle geben", sagt der Schweißer. Er kennt die Aussagen der Geschäftsführung, wonach sich angeblich die Auftragslage gerade erholt.

Das hindert die Firmenleitung nicht, weitere Einbußen von der Belegschaft zu fordern, obwohl diese nach der langen Kurzarbeit finanziell mit dem Rücken an der Wand steht. Eine schwierige Situation für Betriebsratschef Jörg Wiedemann. Er weiß, wie die Furcht vor dem Jobverlust viele Kollegen erpressbar macht. "Wir sagen ihnen: Lasst euch nicht Angst machen." Frank Brunner jedenfalls will weitere Kürzungen nicht mehr hinnehmen. Dann könne er gleich "zum Amt gehen, da gibt es mehr. Ich arbeite hier nicht umsonst." Seit 2005 macht die Belegschaft immer wieder Zugeständnisse, verzichtet auf Urlaubsgeld und Tariferhöhungen. "Die Kollegen haben inzwischen rund 2,5 Millionen Euro an Eigenleistung erbracht. Jetzt ist Schluss", schnaubt Peter Ernsdorf, IG-Metall-Bevollmächtigter in Ostbrandenburg.

REGIONALFONDS GEGEN DIE KRISE_ In Esslingen kann IG-Metall-Chef Bender durch Feuerwehreinsätze in einzelnen Betrieben noch einen massiven Jobabbau verhindern. Um aber ein Desaster im Herbst abzuwenden, fordert er grundlegendere Schritte. "Das Problem ist nur politisch zu lösen, sonst wird ein Drittel der Betriebe hier verschwinden oder an die Chinesen gehen", prophezeit er. Bender sucht nach einer praktikablen und schnellen Lösung, "denn viel Zeit haben wir nicht mehr."

So entwickelte die IG Metall ein eigenes Konzept in Form eines 500-Millionen-Euro-schweren Regionalfonds für den Landkreis Esslingen. Das Geld soll der Bund zunächst vorschießen, und es soll nach zwei Kriterien verteilt werden: an Firmen, die ohne eigenes Verschulden in die Krise gerutscht sind - und die eine bedeutende Rolle in der regionalen Wirtschaft spielen. Mit der Ausarbeitung der Details betraut Bender die Wirtschaftsberater von PriceWaterhouseCoopers. "Das müssen absolute Profis machen, die auch von Banken, Politik und Geschäftsführungen akzeptiert werden." Doch genau diese Akteure sträuben sich noch heftig. So schilderte jüngst der CDU-Bundestagsabgeordnete Markus Grübel in der Esslinger Zeitung, dass sich die Bundeskanzlerin und die Sprecher der Wirtschafts- und Finanzausschüsse das Werben Grübels für den Regionalfonds zwar artig anhörten. Dabei blieb es aber auch.

Bender lässt sich davon nicht beeindrucken: "Ich brauche Alternativen zur Logik der Banken, in der Krise sofort die Leute rauszuschmeißen." Es müsse der Grundsatz gelten, dass jeder den gleichen Betrag zur Refinanzierung des Fonds zahlt. Nicht nur die Arbeitnehmer dürften die Zeche zahlen, auch die Eigentümer, die Politik und die Banken müssten sich einbringen. "Notfalls besuchen wir halt die Banken - wortwörtlich", droht der kantige Mitfünfziger.

Und Benjamin Blasius? Als er geht, wirkt er alles andere als kämpferisch, eher ein wenig verstört. "Mein Gefühl sagt mir, dass es hier noch richtig knallt."

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