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Magazin Mitbestimmung

EU: Die soziale Dimension Europas verschwindet

Ausgabe 01+02/2014

Brüssel nutzt die Eurokrise zu massiven Eingriffen in die Sozial- und Tarifpolitik der EU-Staaten. Sozialkommissar Andor fordert zwar einen Politikwechsel – doch er kann sich nicht gegen Berlin und London durchsetzen. Von Eric Bonse

EU-Sozialkommissar László Andor ist immer für eine Überraschung gut. Mal warnt der Ungar vor „Hysterie“ in der Zuwanderungsdebatte – Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien seien eine Bereicherung für Deutschland und keine Gefahr. Mal fordert er, die „Orthodoxie“ der Maastricht-Kriterien zu überwinden und den Sparkurs in den südeuropäischen Krisenländern zu lockern.

Andor war es auch, der die gewerkschaftliche Forderung nach einer „Jugendgarantie“ aufgegriffen und Europa auf den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit eingeschworen hat. Der Sozialkommissar unterscheidet sich damit wohltuend vom neoliberalen Mainstream. Entsprechend groß waren die Erwartungen, als er im Oktober eine Mitteilung zur „sozialen Dimension“ der Währungsunion vorlegte.

Andor werde eine gemeinsame Arbeitslosenkasse für die 18 Euroländer vorschlagen, hieß es, nachdem erste Entwürfe durchgesickert waren. Die Sozialpolitik werde nicht länger ein Stiefkind der EU-Kommission bleiben, sondern endlich ins Zentrum der Anti-Krisen-Strategie rücken. Vor allem die Gewerkschaften erwarteten viel von Andors Vorschlag, der immer wieder verschoben worden war. Doch die hochfliegenden Hoffnungen wurden enttäuscht. Erst strich Kommissionspräsident José Manuel Barroso das Projekt einer Arbeitslosenkasse – angeblich gibt es dafür keine Rechtsgrundlage im EU-Vertrag. Auch frühere EU-Pläne zur Schaffung eines eigenen Euro-Budgets, das ökonomische Schocks abfedern und soziale Krisen mildern sollte, wurden fallen gelassen. Vor allem Berlin war dagegen.

FUSSNOTE DER KRISENBEWÄLTIGUNG Dann wurde die „soziale Dimension“ zu einer Fussnote der Krisenbewältigung degradiert. Zwar will Brüssel künftig die Arbeitslosenquote, das Armutsrisiko und die Einkommensentwicklung näher unter die Lupe nehmen. Diese und andere sozialpolitische Kriterien gehen in ein neues „Scoreboard“ zur Bewertung der nationalen Budget- und Reformprogramme ein. Sie werden auch im Rahmen des neuen „Europäischen Semesters“ zur Finanzpolitik erörtert, mit dessen Hilfe die Haushalte der EU seit 2011 koordiniert und überwacht werden sollen.

Allerdings soll es keine mit Strafen bewehrten Grenzwerte wie in der Finanzpolitik geben. Ein dreiprozentiges Budgetdefizit kann milliardenschwere Sanktionen auslösen, mehr als 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit hingegen bleiben ohne Folgen. Andor schaffte es nicht einmal, sich neue Kompetenzen zu sichern. Nur die „Mobilität der Arbeitnehmer“, also die Abwanderung aus Krisenländern in prosperierende Staaten wie Deutschland, wird gefördert.

Enttäuschend fällt auch der Vorschlag zur Beteiligung der Sozialpartner aus. Die Kommission hält an den bestehenden Foren (makroökonomischer Dialog, Tripartit-Sozialgipfel) fest, obwohl sie sich in der Finanz- und Eurokrise als unzureichend erwiesen haben. Neu ist lediglich die Idee, Arbeitgeber und Gewerkschaften künftig stärker und frühzeitiger in die Koordinierung durch das „Europäische Semester“ einzubinden.

Doch selbst dieser Vorschlag ist zweischneidig. Denn die Kommission will über Löhne und Tarifpolitik sprechen – und sich so in bisher exklusive und nationale Kompetenzen der Sozialpartner einmischen. Das erklärte Ziel der Brüsseler Behörde ist es, Mindestlöhne zu senken, die Tarifbindung zu lockern und den Arbeitsmarkt gemäß dem neoliberalen Dogma „flexibler“ zu gestalten. Entsprechend harsch fiel die Reaktion aus dem Gewerkschaftslager aus. „Die Einmischung der Kommission führt zu einem Unterbietungswettbewerb bei den Löhnen und greift in die Autonomie der Sozialpartner ein“, kritisierte Ulrich Eckelmann, Generalsekretär des Dachverbands „industriAll Europe“. Genau wie der Europäische Gewerkschaftsbund sprach er sich für eine Reform der gerade eingeführten „Economic Governance“ aus.

Statt wie bisher um Defizitabbau und Wettbewerbsfähigkeit müsse es um „soziale Verantwortung und demokratische Zurechenbarkeit“ gehen. Mit dieser Forderung stehen die Gewerkschaften nicht allein. Auch das Europaparlament kritisiert die fehlende demokratische Kontrolle und die soziale Schieflage. Das Kommissionspapier sei ein „letzter verzweifelter Versuch, das eigene Scheitern in der Sozialpolitik zu kaschieren“, sagte Udo Bullmann, Chef der SPD-Gruppe. „Die Kommission stiehlt sich aus ihrer Verantwortung für ein stabileres und sozialeres Europa“, kritisierte Sven Giegold von den Grünen.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Beim EU-Gipfel Ende Dezember wurde der ohnehin schwache Vorschlag der Brüsseler Behörde weiter verwässert. Mit den neu eingeführten sozialen Indikatoren werde „einzig und allein das Ziel verfolgt, ein breiteres Verständnis sozialer Entwicklungen zu ermöglichen“, beschlossen die 28 Staats- und Regierungschefs. Eine Änderung ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik aufgrund sozialer Fehlentwicklungen schlossen sie damit ausdrücklich aus.

Zudem bekam Großbritannien die übliche Extrawurst: Es muss sich an der „sozialen Dimension“ nicht beteiligen. Zuvor hatte der britische Premier David Cameron bereits durchgesetzt, dass die EU-Kommission alle EU-Gesetze auf überflüssige Bürokratie überprüft. Erster „Erfolg“ dieser auch von Berlin unterstützten Initiative: Kommissionschef José Manuel Barroso blockierte neue europäische Arbeitsschutzregeln für Friseure – und das, obwohl sie von den Sozialpartnern beschlossen worden waren. Dies sei ein „bisher einmaliger Vorgang“, kritisierte Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand. Bisher hatte die Behörde die Sozialpartner-Vereinbarungen meist problemlos durchgewunken und an den Rat zur Verabschiedung weitergeleitet. Doch selbst dieser bisher selbstverständliche Grundpfeiler des Sozialdialogs wankt. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen Welten – und die Kluft wird immer größer, wie eine Studie des Europäischen Gewerkschaftsinstituts in Brüssel belegt.

ZWEI WELLEN DES SOZIALABBAUS Bis Anfang des neuen Jahrhunderts habe die Währungsunion noch eine „soziale Dimension“ besessen, schreiben Christophe Degryse, Maria Jepsen and Philippe Pochet in ihrem Arbeitspapier zu Eurokrise und Sozialpolitik. Sie sei zwar nicht ausgeprägt gewesen, doch hätten nationale Beschäftigungspakte und der europäische Sozialdialog bis Mitte der 2000er Jahre durchaus noch funktioniert.

Danach gab es jedoch zwei Wellen der Sozialabbaus. Die erste machen die Autoren am Sieg gemäßigt-rechter und rechter Mehrheiten in Brüssel und vielen EU-Ländern fest. Seit der Amtsübernahme von José Manuel Barroso als Kommissionspräsident 2004 habe der soziale Dialog seine Bedeutung verloren. Die zweite Welle begann mit der Finanz- und Eurokrise 2008/2009. Sie wurde zu einem breit angelegten Angriff auf Arbeitnehmerrechte genutzt.

Zwar sei es noch zu früh, ein Fazit zu ziehen, so die ETUI-Experten. Schließlich nimmt die neue „Economic Governance“ der Eurozone gerade erst Gestalt an. Klar sei aber schon jetzt, dass die laufenden Reformen ein „extrem effizientes Instrument zur Änderung des europäischen Sozialmodells“ darstellen werden. Unter dem Vorwand der Krisenbewältigung sei die Arbeits- und Sozialpolitik zur „wichtigsten Variable der Währungsunion“ gemacht worden.

Die Europäische Zentralbank hat den Rückbau des Sozialstaats sogar zum Programm erhoben. In einer Rede in Harvard im März 2013 forderte EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Coeuré eine „Neudefinition des Sozialvertrags“ auf nationaler und europäischer Ebene. Der Franzose machte kein Hehl daraus, dass er soziale Besitzstände („Renten“) abschaffen und Schutzregeln („Eintrittsbarrieren“) aushebeln will. Nur so lasse sich die Abhängigkeit von den Finanzmärkten verringern, so seine überraschende – und wenig überzeugende – Begründung.

Derweil hält László Andor in Brüssel weiter die Fahne der sozialen Gerechtigkeit hoch. Das Euroregime sei derzeit zwar „vorteilhaft für Kapitalbesitzer in den Überschussländern“, schrieb er in einem viel beachteten Artikel im Wirtschaftsdienst Vox. Auf Dauer lasse sich die soziale Schieflage aber nicht durchhalten, die Währungsunion brauche dringend ein neues Paradigma. Der Sozialkommissar bleibt also bei seiner unorthodoxen Linie. Doch seit seiner weichgespülten Vorlage zur „sozialen Dimension“ glaubt in Brüssel kaum noch jemand, dass er sich durchsetzen kann. 

MEHR INFORMATIONEN

Website des EU-Sozialkommissars Andor
http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/andor/headlines/news/2013/10/20131002_en.htm

ETUI Working Paper 2013.05: „The Euro crisis and its impact on national and European social policies“

Can we move beyond the Maastricht orthodoxy? László Andor, 16 December 2013
www.voxeu.org/article/can-we-move-beyond-maastricht-orthodoxy

 

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