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Elektroniker Felix Dorst bei der Arbeit im Räderwerk der  Deutschen Bahn Magazin Mitbestimmung

Ausbildung: Die Mär vom faulen Azubi

Ausgabe 04/2025

Berufseinsteiger sind nicht weniger engagiert als frühere Jahrgänge. Doch während die Anforderungen an sie steigen, zeigen sich im Bildungssystem zunehmend Lücken. Von Jeannette Goddar

Es gibt viele Urteile über die Generation Z. „Generation arbeitsunfähig“ lautet der Titel eines Bestsellers über die zwischen 1995 und 2010 Geborenen, „Verzogen, verweichlicht, verletzt“ ein anderer. Als ein öffentlich-rechtlicher Sender kürzlich einen Auszubildenden im öffentlichen Dienst porträtierte, kommentierte ein Zuschauer im Internet: „Kaum einer will mehr ins Handwerk oder in die Pflege.“

Johanna Schramm, 22, gehört zur Generation Z und passt in keine dieser Schubladen. Sie hat gerade ihre Pflegeausbildung abgeschlossen und ist in einer baden-württembergischen Uniklinik direkt in eine Vollzeitstelle gewechselt. „Ich war 14, als ich nach einem Schülerpraktikum nach Hause kam und sagte: 'Ich will in die Pflege'“, erzählt sie. Weder ein Einser-Abi noch ein Freiwilliges Soziales Jahr im Krankenhaus konnten sie davon abbringen: „Ich bin genau am richtigen Ort“. Dabei erlebte sie die Arbeitsbedingungen während der Ausbildung als „extrem ernüchternd“. Eine Ursache sieht sie in der 2020 eingeführten generalistischen Pflegeausbildung. Auszubildende arbeiten dabei mit Menschen aller Altersstufen in Pflegeeinrichtungen und ambulant. „Vor allem bei Außeneinsätzen kommt die Praxisanleitung viel zu kurz und Azubis müssen Fachkräfte ersetzen, anstatt zu lernen“, erzählt sie.

Deshalb schloss Johanna Schramm sich schon im ersten Ausbildungsjahr der Gewerkschaft Verdi an, protestierte gegen die Ausbildungsbedingungen und arbeitet heute in der Jugendtarifkommission sowie in der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV). Sprüche wie die Jugend wolle „einfach nicht arbeiten“, ärgern sie. „Ich kämpfe nicht für mich, sondern für die Generation, die sich nie um die Zukunft dieses krass unsolidarischen und unterfinanzierten Gesundheitssystems gekümmert hat und nun vor mir alt und öfter krank wird.“

 

Pflegerin Johanna  Schramm bei einer Demonstration mit Mikro in der Hand
Pflegerin Johanna Schramm setzt sich für eine bessere Ausbildung ein. Zu oft müssten Azubis Fachkräfte ersetzen, sagt sie.

Wenn junge Auszubildende etwas von älteren Jahrgängen unterscheidet, dann ist es das Leben während der Coronapandemie, in der Schulen monatelang geschlossen blieben. Die Auswirkungen sieht etwa Tim Wagner von der JAV bei Audi in Ingolstadt: „Sowohl in den Leistungen wie auch in den sozialen Kompetenzen unserer Bewerberinnen und Bewerber hat sich das lange Homeschooling bemerkbar gemacht.“ Auch Bildungsstudien kommen zu dem Ergebnis, dass sich Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen in den vergangenen Jahren verschlechtert haben.

Ronald Rahmig, Leiter des berufsschulischen Oberstufenzentrums für Kfz-Technik in Berlin erzählt: „Wenn wir die Abschlussarbeiten der zehnten Klasse noch einmal schreiben lassen, um den Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler zu ermitteln, stellen wir oft fest, dass sie leistungsmäßig noch in Klasse acht oder neun sind.“ Die Debatte über die angeblich fehlende Ausbildungsfähigkeit von Jugendlichen sieht Rahmig dennoch kritisch. Es werde gern unterschlagen, wie stark die Anforderungen an junge Menschen gestiegen sind. „Wer selbstständig arbeitende Beschäftigte mit fortgeschrittener IT-Kompetenz erwartet, muss sie auf dem Weg dorthin begleiten“, findet Rahmig. Kleineren Unternehmen fehlen dafür oft die Ressourcen. Große, mitbestimmte Firmen haben es leichter. Audi-Jugendvertreter Tim Wagner berichtet: „Gemeinsam mit der Ausbildungsleitung unterstützen wir die Azubis dabei, Wissenslücken aufzufüllen.“

Auch das Oberstufenzentrum würde seinen fast 2000 Schülerinnen und Schülern gern häufiger Nachhilfe anbieten. Doch das gelingt nur teilweise: „Statt 100 Prozent Personalausstattung haben wir 84 – Tendenz sinkend“, sagt Rahmig, der auch in der Vereinigung Berliner Schulleiterinnen und Schulleiter in der GEW aktiv ist. Noch mehr treibt ihn um, wie schlecht viele junge Menschen vor allem in jenen Schulen auf eine Ausbildung vorbereitet werden, die zum Abitur führen. „Viele, die zu uns kommen, haben keine Vorstellung davon, was sie erwartet – oder was sie überhaupt wollen“, sagt er. „Schule soll jungen Menschen helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Dazu gehört, dass die Berufsausbildung nicht als zweite Wahl behandelt wird.“ Im Unterricht spiele es keine Rolle, ob jemand handwerklich geschickt, empathisch oder sozial engagiert ist. „Was Jugendliche können, interessiert oft keinen“, findet Rahmig.

Grafik zu Erwartungen an den Beruf

Felix Dorst, Elektroniker für Betriebstechnik im ersten Lehrjahr, kennt das Problem: „Am Gymnasium wurde ich überhaupt nicht auf eine Ausbildung vorbereitet. Es gab nur einen kurzen Jobtest durch eine Berufsberaterin. Ich wusste nicht einmal, was eine Werkbank ist, dafür konnte ich eine Menge Architekturstile auseinanderhalten.“ Also begann er nach dem Abitur ein Studium der Mechatronik – mitten in der Pandemie. Doch das Lernen zu Hause lag ihm nicht. Also schickte er Bewerbungen an verschiedene Unternehmen, unter anderem an die Deutsche Bahn. Die reagierte so, wie man es sich wünscht angesichts des anhaltenden Fachkräftemangels. „Ich wurde direkt angerufen, bekam Hilfe und Infos von meiner späteren Chefin. Das war einfach nett, und so habe ich mich gern für die Bahn entschieden.“

Der 25-Jährige ist Stipendiat im Programm „Talente in der beruflichen Bildung“ (TiBB), mit dem die Hans-Böckler-Stiftung seit 2024 engagierte Auszubildende unterstützt. Das Angebot wertet die Ausbildung auf und stellt sie in der Begabtenförderung mit einem Studium gleich. Neben der finanziellen Hilfe, den Workshops und Bildungsangeboten begeistern ihn die anderen Auszubildenden, auf die er in dem Programm trifft: „Das sind alles tolle Leute, die dem typischen Azubi-Klischee – faul, frech, kann nichts – komplett widersprechen.“

Auch Dorst engagiert sich in der JAV. Fallen Defizite auf, unterstützt auch die Deutsche Bahn: „Wer Schwierigkeiten hat, beantragt zuerst kostenlose Nachhilfe über die Agentur für Arbeit. Wenn das nicht reicht, sorgt die Bahn für Unterstützung – durch finanzierte Nachhilfe oder durch Kollegen, die ihr Wissen teilen.“ Viele Azubis haben zum Beispiel Probleme mit berufsspezifischen Fachbegriffen, vor allem dann, wenn sie zu Hause nicht Deutsch sprechen. Von den 40 Prozent der Schulpflichtigen in Deutschland mit Migrationshintergrund ist das jeder Zweite. „Sprachlich nicht mithalten zu können, ist eins der häufigsten Probleme“, beobachtet Rahmig, an dessen Schule der Anteil Jugendlicher nichtdeutscher Herkunft bei über 50 Prozent liegt. In der Berufsvorbereitung nach der Schulpflicht beträgt er mehr als 90 Prozent.

Rasuol Naziri an seinem Ausbildungsplatz  zum Tischler.
Rasuol Naziri bekam auf seine Bewerbungen nur Absagen. Den Durchbruch brachte eine Beratung. Jetzt macht er eine Ausbildung zum Tischler.

Als Rasuol Naziri mit 21 Jahren nach Deutschland kam, musste er nicht nur die Sprache lernen, sondern auch verstehen, warum junge Menschen drei Jahre lang eine Ausbildung absolvieren. Als der junge Afghane selbst eine Ausbildung machen wollte, erhielt er aber keine Antwort auf seine Bewerbungen. Zwei Jahre jobbte er als Polsterer. Erst als er auf die Kausa-Landesstelle Brandenburg stieß, ging es für ihn voran. Die Kausa wird von Arbeit und Leben Berlin-Brandenburg, einer Bildungsorganisation des DGB und der Volkshochschulen, sowie der bbw Akademie für Weiterbildung getragen. Mit der Projektleiterin Andrea Behrends überlegte er, welcher Beruf zu ihm passen könnte. „So kamen wir auf Tischler, weil es Ähnlichkeiten zum Polstern gibt“, sagt Behrends. Nun steht er kurz davor, sein erstes Lehrjahr in einer Tischlerei zu beenden – auch wenn das 700-seitige Lehrbuch „Fachkunde Holztechnik“, nach wie vor eine Herausforderung ist.

Außer Jugendlichen mit Migrationsgeschichte berät die Kausa-Landesstelle auch Arbeitgeber. „Damit es klappt, müssen beide Seiten mehr voneinander erfahren und aufeinander zugehen“, sagt Behrends. Die DGB-Jugend nimmt die Arbeitgeber in die Pflicht. „Einerseits jammern sie immer wieder darüber, dass sie ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen können“, sagt Bundesjugendsekretär Kristof Becker. „Andererseits setzen viele so hohe Zugangsvoraussetzungen, dass zum Beispiel Bewerbungen von Menschen mit Hauptschulabschluss oft direkt in der Tonne landen.“ Dabei sieht das Gesetz nicht einmal Zugangsvoraussetzungen für eine duale Berufsausbildung vor. Becker verlangt mehr Mut: „Die Arbeitgeber müssen ihrer Verantwortung nachkommen und mehr jungen Menschen eine Chance geben.“ Es ist nicht die einzige Forderung der DGB-Jugend. Die Liste ist lang. Ihr oberstes Ziel ist das Recht auf eine qualitativ hochwertige Ausbildung für alle.

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