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Magazin Mitbestimmung

: Die lernende Fabrik

Ausgabe 05/2008

STAHL Sparen, kürzen, optimieren - was nach dem Einsatz externer Berater klingt, haben bei der Dillinger Hütte Management und Belegschaft selbst geschafft. Mit einer Personalstrategie, die alle einbezieht.

Von HENDRIK ANKENBRAND, Journalist in Hamburg

Wie ein Fanal ragt die drei mal vier Meter große blaue Tafel vor dem Walzwerk in den Himmel. "Arbeitssicherheit" steht in weißen Lettern neben dem Firmenemblem. Darunter zeigen neonrote Digitalzahlen die "maximale unfallfreie Zeit: 29 Tage". Der Benchmark heißt: null Unfälle. "Arbeitssicherheit ist eines der wichtigsten Ziele hier", sagt Klaus-Peter Otto. Der Direktor für Bildung und interne Kommunikation der Dillinger Hütte deutet auf die Tafel. "Die besten Ideen dazu kamen von den Mitarbeitern."

In den vergangenen vier Jahren hat das Dillinger Hüttenwerk unter dem Namen "DH-TOP 2007" ein umfangreiches Ergebnisverbesserungsprogramm absolviert, bei dem es durchaus auch um harte Kennzahlen ging: Einsparungen bei den Sachkosten, Einsparungen bei den Personalkosten, Verbesserung der Arbeitssicherheit und der Arbeitsqualität. Das Kürzel TOP steht für die Worte "transparent", "offensiv" und "partnerschaftlich".

"Uns geht es um die Nachhaltigkeit des Erfolgs", erklärt Paul Belche, der Vorstandsvorsitzende der AG der Dillinger Hüttenwerke. "Das bedeutet, dass sich das Unternehmen, unabhängig von dem bereits erreichten Niveau, ständig verbessern muss." Schnell wurde klar, dass man dafür das intensive Gespräch mit den Mitarbeitern suchen würde. Das ursprüngliche finanzielle Ziel: ein Einsparvolumen von 80 Millionen

Euro jährlich. Eine nicht unerhebliche Summe bei einem Umsatz von gut 2,6 Milliarden Euro, den die Dillinger Hütte im Jahr 2007 erzielt hat. Ein Zielwert, der in manch anderem Unternehmen den Betriebsrat auf die Barrikaden bringen würde. Doch der Hütten-Betriebsratschef Roman Selgrath zeigt sich versöhnlich. "Das Projekt hat geholfen, Ängste und Vorurteile zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft abzubauen. Man hat sich schätzen gelernt." Was ist da passiert im Saarland?

EINE BRUMMENDE BRANCHE_ Eigentlich geht es der Dillinger Hütte gut. So wie der ganzen Stahlbranche. Der Aufschwung der vergangenen Jahre hat die Phase eines tief greifenden Strukturwandels der europäischen Stahlindustrie beendet, die ein Vierteljahrhundert andauerte. In Deutschland hieß das bis in die 90er Jahre hinein vor allem Massenentlassungen und Standortschließungen. 1970 arbeiteten in der Branche hierzulande noch 374?000 Beschäftigte.

Heute ist die Zahl auf ein Viertel geschrumpft. Nicht so bei der Dillinger Hütte. Die Mitarbeiteranzahl sank nur geringfügig, gleichzeitig stieg die Produktivität der Roheisen-, Stahl- und Grobblechproduktion. Der Heißhunger der asiatischen Boomländer auf Stahl hat den Unternehmen auch in Deutschland in den letzten Jahren wieder hohe Wachstumsraten beschert. Die Stahlerzeugung brummt, und die Dillinger Hütte mischt mit ihrem technischen Vorsprung in der Grobblechproduktion zumindest auf dem europäischen Markt ganz vorne mit.

Ihr Stahl findet sich in dem französischen Viaduc de Millau, der höchsten Schrägseil-Brücke der Welt, ebenso wie im höchsten Wolkenkratzer Shanghais. Seit 2004 wurde der Umsatz um die Hälfte gesteigert. Es könnte schlechter laufen, in der Tat. Doch jeder Boom hat auch einmal ein Ende - und schon ziehen erste dunkle Wolken am Horizont auf: Energie wird immer teuerer, Rohstoffe knapper, auch von Kundenseite wie der Automobilindustrie geht ein hoher Druck auf die Preise aus.

Die Konkurrenz innerhalb der Stahlbranche wächst. Und was, wenn sich zu alledem auch noch die Konjunktur abkühlt? Nicht erst seitdem der amerikanische Notenbankchef Ben Bernanke im April das böse "R-Wort" von einer möglichen Rezession in der einstigen Wirtschaftslokomotive USA in den Mund genommen hat, wissen auch die Stahlunternehmen: Bald, vielleicht bereits in drei, vier Jahren könnte es vorbei sein mit der guten Zeit.

WETTBEWERBSFÄHIGKEIT ALS DAUERAUFGABE_ Diese Angst um ihre Wettbewerbsfähigkeit ist es, die die Unternehmen derzeit allerorten Programme wie "DH-TOP 2007" in der Dillinger Hütte aufstellen lässt. Die Ziele sind überall gleich: Es gilt, noch unentdeckte Sparpotenziale zu finden, innovativere Produkte zu entwickeln, die Arbeitsabläufe zu verbessern, damit die Produktivität steigt. Dabei gehe es nicht nur um konkrete Verbesserungen, sagt der Dillinger Direktor Otto. "Ziel ist der Wandel der Unternehmenskultur hin zu einer stetigen Suche nach Verbesserungen durch mehr Mitarbeiterbeteiligung."

Es geht darum, dass Wissen nicht nur informell weitergegeben, sondern systematisch gesammelt wird - sogar an Filmaufnahmen ist gedacht, die bestimmte Arbeitsabläufe im Bild festhalten sollen. Damit bei diesem Prozess die Mitbestimmung und die Interessen der Mitarbeiter nicht aus den Augen geraten, hat sich Otto mit Kollegen aus anderen deutschen Stahlwerken über die von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützte "Arbeitsgemeinschaft Engere Mitarbeiter der Arbeitsdirektoren Stahl" über die verschiedenen Programmpunkte austauschen können.

Zentraler personalpolitischer Ansatzpunkt: das Leistungspotenzial aller Beschäftigten für die Verbesserungsprozesse mobilisieren - und das am Besten ohne externe Unternehmensberater, die schnell ihr betriebswirtschaftliches Standardinstrumentarium auspacken, das da heißt: Personal kürzen. "Mit Beratern haben wir im Werk nicht so gute Erfahrungen gemacht", sagt Otto. Diese hätten bei ihrem Einsatz die Abläufe nicht verstanden, und nach ihrer Abreise musste einiges wieder revidiert werden.

Deshalb galt hat nach Entscheidung des Vorstandes für das Ergebnisverbesserungsprogramm die Devise: "Wir machen das selbst." Wir, damit meinte man in Dillingen: alle Beteiligten, auf allen Hierarchiestufen. Zum einen analysierten die Führungskräfte Verbesserungs- und Einsparpotenziale, was den konventionellen Weg darstellt. Neu hingegen war, dass das Werk auch den umgekehrten Weg ging: Auf 400 moderierten Workshops wurden Mitarbeiterideen zur Steigerung der Produktivität und Arbeitssicherheit gesammelt.

Bis zum Abschluss der Analysephase Ende 2006 reichten die Mitarbeiter über 22?000 Verbesserungsvorschläge ein, davon 16 Prozent zum Thema Arbeitssicherheit, was einem Durchschnittswert von 4,4 Ideen pro Beschäftigtem entsprach. Bis Ende 2006 wurden mehr als die Hälfte der Ideen umgesetzt. Bis Ende 2008 muss alles andere entschieden sein. Darunter sind kleine Vorschläge wie der, die Glühlampen an den Werkstoren durch Bündel-LEDs zu ersetzen, was die Wartungs- und Instandsetzungskosten senkt.

Größeren Kalibers ist da schon das "Projekt Trockenzelt" in der Gießerei: Dort wird auf Stahlformen zum Schutz vor Abrieb eine wasserlösliche Schicht aufgespritzt. Die offene Gasflamme, mit der das Ganze bislang anschließend getrocknet wurde, ersetzten die Mitarbeiter durch ein Zelt, unter dem die warme Luft die Aufgabe des Feuers übernimmt. Die Vorteile der neuen Arbeitsweise: kein Umgang mit offener Flamme, die Trocknung ist homogener und sie spart Energie.

Die Entscheidung des Vorstandes, beim Projekt auf externe Unterstützung zu verzichten und die Entscheidungen in einem vorgegebenen Zeitraum umzusetzen, hat sich bewährt. Ökonomische Erfolge des Ergebnisverbesserungsprogramms sind schon eingetreten, wie Vorstands-Chef Belche erklärt: "Wir haben nachhaltige Einsparungen von jährlich mehr als 100 Millionen Euro herausgearbeitet. All dies konnte durch enge Zusammenarbeit der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite unter Beteiligung aller Mitarbeiter aus eigener Kraft realisiert werden."

EIN SELBSTBEWUSSTER BETRIEBSRAT_ Positiv ist, dass es eine offene, transparente Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und dem Betriebsrat gegeben hat. Anders wäre es in Dillingen wohl auch kaum gelaufen. Der Betriebsratschef Roman Selgrath und der für das Projekt zuständige Betriebsrat Roland Seinsoth sitzen in ihrem neuen Büro, an der Wand ein Ölgemälde des Hochhofens 4 bei Nacht.

Sie tragen maßgeblich dazu bei, dass es im Werk nicht nur um die Verbesserung des Ergebnisses geht, sondern auch um Arbeitsbedingungen, um die Sicherheit der Arbeitsplätze und um faire Chancen. Gerade sind sie auf dem Werksgelände umgezogen in ein eigenes, zweistöckiges, neu gestrichenes Häuschen, Selgrath hat jetzt 25 Quadratmeter statt vorher elf zur Verfügung. Aus dem Fenster sieht man die Produktionsanlagen, zum Walzwerk ist es ein Katzensprung.

Wie bei vielen der anderen Beschäftigten tragen die weißen Helme der Betriebsräte IG-Metall-Embleme. Mitbestimmung wird in Betrieben der Montanindustrie groß-geschrieben, und in der Dillinger Hütte beträgt der Organisationsgrad 85 Prozent. "Sozial-partnerschaft gab es bei uns immer schon", sagt Selgrath. "Aber früher herrschte zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat mehr Distanz."

Wenn Selgrath über das Projekt "DH-TOP 2007" spricht, dann erzählt er stolz von der Beteiligungsquote von 95 Prozent unter den Mitarbeitern. "Die Leute hatten das Bedürfnis, ihre Ideen vorzubringen", sagt er, "aber früher sind die versandet". Bei dieser Mitarbeiterbeteiligung galt die Regel, dass es auf jede Idee eine Antwort geben musste. Bei den Mitarbeiterworkshops waren die Vorgesetzten oft nicht dabei, so konnte jeder frei über das reden, was ihm auf der Seele lag.

Auch in den Lenkungsausschüssen, die das Projekt kontrollierten und letztendlich darüber entschieden, wo Personal gespart werden und welche Ideen umgesetzt werden sollten, waren die Betriebsräte vertreten. Als das Projekt 2004 vorgestellt wurde, waren die Arbeitnehmervertreter allerdings noch nicht so optimistisch. "Endlich hat der Vorstand die Hosen runtergelassen", hieß es damals im "Heißen Eisen", einem Infoblatt der IG Metall.

"Wir werden nicht alles abnicken" - das war Selgraths erste Reaktion. Heute erinnert er sich, dass vor allem der enorme Zeitaufwand für die Workshops, die Schulungen und die Beteiligung der Betriebsräte in den Lenkungsausschüssen Sorge ausgelöst hätten: "Das mussten wir alles mit dem gleichen Personalaufwand wie vorher stemmen." Dennoch machte der Betriebsrat mit - und brachte eigene Forderungen in die Personalpolitik mit ein: dass es keine betriebsbedingten Kündigungen geben dürfe, dass Eigenbeschäftigung Vorrang vor Fremdbeschäftigung haben und dass beim Projekt die Arbeitssicherheit im Vordergrund stehen solle.

"Auch wenn wir nicht so naiv waren zu glauben, dass es am Ende gar keine Köpfe kosten werde", sagt Selgrath. Um zehn Prozent sollte die Belegschaft schließlich dennoch schrumpfen. Diese Zahl sollte jedoch über Maßnahmen wie Altersteilzeit abgefangen werden. "Mit dem Projekt hatten wir die Chance, den Abbau selbst zu gestalten", so der Betriebsrat, "ein enormer Vorteil."

VOM ARBEITER ZUM TECHNIKER_ Mittlerweile würde man sogar wieder neue Mitarbeiter einstellen, ergänzt Klaus-Peter Otto, die hervorragende Auslastung des Werks lasse gar nichts anderes zu. Das ohrenbetäubende Zäumen und Zischen im Walzwerk scheint diese Aussage unterstreichen zu wollen. 20, 30 Meter spritzt die Wasserdampffontäne in die Höhe und ergießt sich über die Fertigungsstraße, auf der die im 1200 Grad heißen Ofen erhitzten Bleche der Walze entgegenrollen.

1,3 Kilometer zieht sie sich durch das Innere des Walzwerks, immer im Blick der Überwachungskameras, deren Bilder Benedikt Becker auf seinen sechs Flatscreen-Monitoren ständig vor Augen hat. Der 20-Jährige hält links und rechts je einen Steuerknüppel in der Hand. Damit kann er die Schnelligkeit des Rollganges kontrollieren, mit dem die Anlage beschickt wird. Erst seit einem Monat arbeitet er in einem der Überwachungsräume des Walzwerks, gelernt hat er KFZ-Mechatroniker. Nun wird er zum Steuermann ausgebildet.

Becker hat eine jener neuen Stellen erhalten, von denen Otto gesprochen hat. Er verkörpert mit seiner Qualifikation als Mechatroniker exakt die Richtung, in die sich das Werk personalpolitisch entwickeln will. Seit acht Jahren stelle man nur noch Leute mit technischer Ausbildung ein, "mit enormem Fachwissen", wie Betriebsratschef Selgrath sagt, Menschen, die bereits gut ausgebildet und zudem noch lernfähig seien.

Rund 15 Stunden wendet die Dillinger Hütte pro Jahr und Mitarbeiter für die Weiterbildung auf - etwa das Doppelte des Bundesdurchschnitts. Ziel ist, dass die Mitarbeiter die Anlagen selbst warten und kleinere Arbeiten selbst erledigen, statt jedes Mal den Instandhalter zu rufen.  "Wir müssen die Potenziale der Kolleginnen und Kollegen besser nutzen", sagt Selgrath. Bislang seien die Lernprozesse allerdings noch eher langsam. "Mit dem lebenslangen Lernen tun wir uns noch schwer."

SELBSTSTÄNDIGES LERNEN ALS ZIEL_ Mehr Eigenverantwortung heißt die Devise der Personalpolitik, deren Ziele mit dem "DH-TOP 2007"-Programm schon formuliert wurden: Es gibt mehr Gruppenarbeit in Workshops. Das systematische Lernen am Arbeitsplatz soll forciert werden. Die Flexibilität der Fähigkeiten soll steigen. Und das Unternehmen will das selbstständige Lernen von Mitarbeitern fördern - etwa wenn sich diese bei der örtlichen Industrie- und Handelskammer eigenständig die Meisterausbildung finanzieren.

"Was wir wollen, ist, dass der 20-jährige Steuermann künftig versteht, was auch in den Öfen passiert", sagt auch Betriebsrat Roland Seinsoth. Breitere Qualifizierung heißt das Stichwort: So sollen Produktion und Instandhaltung künftig enger verzahnt werden - wenn irgendwo etwas kaputt geht, soll der Mitarbeiter in der Lage sein, den Schaden zunächst selbst zu beheben - was dann wiederum die Produktivität steigert.

Mehr Selbstverantwortung, mehr eigenständige Ideen: Im Walzwerk hat die neue Politik bereits Früchte getragen - sie schlägt sich in Verbesserungsvorschlägen wieder. Auf den Vorschlag eines Mitarbeiters wurde eine Spezialschleifmaschine angeschafft, die das manuelle Bearbeiten von Proben ersetzen soll. Nun findet der eigentliche Schleifvorgang in einem komplett abgetrennten Maschinenraum statt - und Funkenflug und Schleifstaub stellen für die Arbeiter keine Gefahr mehr dar.

Auch das manuelle Drehen der Proben entfällt, da zwei Schleifbänder im Einsatz sind. Die Ober- und Unterseite der Proben werden damit gleichzeitig bearbeitet. Wenn man nicht wüsste, wie zäh die Prozesse im Hintergrund sind - man würde fast glauben, die Dillinger Hütte lernte von selbst.

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