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Magazin Mitbestimmung

: Die Intelligenz der Vielen

Ausgabe 11/2008

WISSENSMANAGEMENT Beim Flughafenbetreiber Fraport können die Beschäftigten nachlesen, woran ihre Kollegen arbeiten, wenn sie bei Sky-Wiki nachschauen, der neuen Wissensaustauschbörse.

Von Mario Müller, Journalist in Frankfurt/Main/Foto: Jochen Günther

Wer etwas über Fraport erfahren will, kann sich im Internet bei Wikipedia über das börsennotierte Unternehmen informieren. Dort steht, dass Fraport die Flughäfen Frankfurt am Main und Frankfurt-Hahn betreibt und an einigen in- und ausländischen Flughäfen beteiligt ist - mit derzeit 12 500 Beschäftigten. Was der Wissensdurstige in der "freien Enzyklopädie" nicht erfährt: Fraport verfügt über ein eigenes, Wikipedia nachempfundenes, internes "Wissensportal" mit dem Namen Skywiki. Wie beim großen Vorbild handelt es sich um ein elektronisches Nachschlagewerk, das freiwillig von Fraport-Beschäftigten erstellt wird und jederzeit aktualisiert werden kann. Skywiki soll die Kenntnisse der Beschäftigten sichtbar und damit für die Kollegen nutzbar machen. Die Plattform ist eines von mehreren Elementen, mit denen das Unternehmen sein Wissensmanagement vorantreiben will.

HOCHKOMPLEXES GEBILDE_ Das hat Gründe: Bei Fraport sorgt ein komplizierter Mechanismus dafür, die 54 Millionen Passagiere pro Jahr durch die Gates zu schleusen und bis zu 1500 "Flugbewegungen" täglich abzuwickeln. "Praktisch", sagt Arbeitsdirektor Herbert Mai, "besteht Fraport aus vielen Unternehmen", die Flugzeuge be- und entladen, sie im Winter enteisen, die Einzelhandels- und Gastronomiebetriebe managen und eine Feuerwehr unterhalten. In diesem komplizierten Gebilde ist, so Mai, "jeder Teil mit anderen verzahnt" und "man muss wissen, wer in anderen Bereichen Bescheid weiß". Oft weiß man es aber nicht so genau. "Nur ein kleiner Prozentsatz des Wissens in einem Unternehmen liegt in sofort verfügbarer Form vor", sagt Wieland Stützel, der das Konzept Skywiki im Sommer 2005 angestoßen hat. Denn ein Unternehmen müsse heute "die eigenen personellen Ressourcen - die Erfahrungen und Kenntnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - umfassender und systematischer nutzen", sagt Stützel.

Fraport ist aus drei Gründen gefordert. Als Dienstleister mit vielen technischen Sparten und anspruchsvollen Kunden habe das Unternehmen, das zudem auf eingeschränkter Fläche arbeitet, "enorme Herausforderungen an Effizienz und Produktivität" zu bewältigen. Zum zweiten sei Fraport seit dem Börsengang 2001 "sehr international" geworden: Die Frankfurter halten nicht nur Beteiligungen an Flughäfen wie Antalya, Lima oder Delhi, sondern betreiben über Managementverträge auch die Airports in Kairo oder demnächst in Dakar. "Wir verkaufen Know-how", unterstreicht Stützel die Notwendigkeit, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. Drittens schließlich spielt die demografische Entwicklung eine wesentliche Rolle. Einerseits fehlen Nachwuchskräfte, andererseits steigt der Altersdurchschnitt der Beschäftigten von zuletzt knapp 42 Jahren kontinuierlich an. Deren Kenntnisse und Kompetenz zu bewahren wird umso dringlicher, je mehr von ihnen sich der Rente nähern.

Bestandteil des Programms ist Skywiki, das "unternehmensweit einen Wissensmarkt" schaffen soll, auf dem die Beschäftigten ohne redaktionelle Eingriffe "von oben" im Intranet ihre Kenntnisse verbreiten und Neues hinzulernen können. "Mit Hilfe von Skywiki soll systematisch das Organisationswissen, sei es individuell oder kollektiv, als Basis für die tägliche Arbeit, aber auch als Archiv für späteres Nachschlagen gesammelt werden", sagt Stützel.

GANZ GUT ANGEKOMMEN_ Zu den aktiven Teilnehmern der Wissenstauschbörse gehört Bigan Osmani. Der 32-jährige Ingenieur beschäftigt sich bei Fraport mit Managementsystemen, also der Organisation von betrieblichen Abläufen. Für Skywiki hat er einen Artikel verfasst, der die "Prozesslandkarte" des Unternehmens darstellt. Wer ihn anklickt, erfährt beispielsweise, was unter einem "Kernprozess" zu verstehen ist. Dies sei vor allem für neue Kollegen interessant, die wissen wollen, wie Fraport funktioniert, sagt Osmani, der für seinen Beitrag eine interne Auszeichnung erhielt.

"Wer drin ist, kommt davon nicht mehr los", beschreibt Osmani die Faszination, die das Medium auf ihn ausübt. "Klasse" findet er, dass sich die Einträge jederzeit aktualisieren lassen, wovon er selbst auch schon Gebrauch gemacht hat. Die Technik für das Verfassen der Texte, die in speziellen Kursen vermittelt wird, sei relativ einfach, das Projekt insgesamt "aller Ehren wert" und in der Belegschaft "ganz gut angekommen", meint Osmani. Als Leser benutze er Skywiki "querbeet", wobei sein Interesse vor allem Artikeln über neue Projekte oder den - in der Region höchst umstrittenen - Ausbau des Flughafens gelte. Osmani weiß aber auch, dass es Kollegen gibt, die Angst vor der Informationstechnologie haben und sie als zu komplex empfinden.

Neben Osmani waren zuletzt etwa 440 Autoren registriert, die bisher rund 1700 Artikel verfasst haben. Schwerpunktthemen sind das Unternehmen selbst sowie der Luftverkehr im Allgemeinen. "Sehr rege" beteilige sich die Personalabteilung und informiert über Ausbildung, soziale Angebote, gesetzliche Änderungen oder Führungsgrundsätze, sagt Carmen Giese, die in der internen Kommunikation arbeitet. Daneben lassen sich über Skywiki allerlei Tipps und Tricks für den Umgang mit Computern abrufen. Auch politisch umstrittene Themen wie der Ausbau des Flughafens und das Nachtflugverbot kommen zur Sprache.

Als großen Vorteil empfindet Carmen Giese, dass sich über Skywiki Informationen viel schneller beschaffen lassen als über das Telefon. Die Nutzung ist allerdings ausbaufähig. Zuletzt wurden 800 bis 900 Seitenaufrufe arbeitstäglich gezählt. Zwar können alle rund 12 500 bei der Muttergesellschaft Fraport AG Beschäftigten auf das Wissensportal zugreifen. Über einen eigenen PC verfügen aber nur rund 7000 Frauen und Männer. Das in operativen Bereichen wie der Gepäckabwicklung arbeitende Personal ist auf einen der gemeinschaftlich genutzten PC angewiesen. "Es ist ein Anfang und ein Angebot", sagt Giese und wünscht sich mehr aktive Autoren. Über Fraport-Interna würden die Beschäftigten gern mehr wissen, ergab eine Mitarbeiter-Umfrage. Doch gerade Interna behalten die Experten lieber für sich.

HINTERGRUNDWISSEN GEFRAGT_ Als weiteren Wissensmanagement-Baustein führte Fraport 2007 die sogenannte Wissensstafette ein. Sie soll helfen, den Wechsel von Führungs- und Fachkräften so reibungslos wie möglich zu gestalten. Im Mittelpunkt stehen Übergabegespräche, bei denen Vorgänger und Nachfolger unter Beteiligung eines Moderators nicht nur technische oder finanzielle Fragen erörtern, sondern auch über "Hintergrund- und Beziehungswissen" reden, wie es in einer Broschüre heißt. Dabei sollen "Konflikte und Stolpersteine" nicht ausgespart werden.

Ebenfalls 2007 installiert wurden die "Goldenen Seiten". Sie sollen die im Unternehmen arbeitenden Experten kenntlich machen und die Suche nach ihnen erleichtern. Eintragen kann sich jeder, der glaubt, besondere Kenntnisse vorzuweisen, sei es über Fachgebiete, Projekte, Sprachen oder Auslandserfahrungen. Die Teilnahme ist freiwillig, niemand darf reinreden. Gesucht werden kann nur nach Expertise, nicht nach Namen. Bislang haben sich etwa 200 Beschäftigte in die "Goldenen Seiten" eingetragen, vor allem jüngere Kollegen, die das Instrument auch zur internen Selbstdarstellung nutzen und zeigen wollen, was sie können. Die "klassischen Experten" halten sich demgegenüber ebenso wie bei Skywiki zurück, bedauert Stützel.

Viertes Element ist die Datenbank "Forschungswissen". In ihr sind wissenschaftliche Arbeiten gespeichert, die sich, von Fraport unterstützt, mit Themen rund um den Flughafen und den Luftverkehr beschäftigen. Das elektronische Archiv umfasst derzeit über 80 Beiträge mit mehr als 10 000 Seiten, die im Intranet auch für Downloads zugänglich sind. Und wie sieht die Belegschaftsvertretung die Initiativen? Sicher, man habe darüber diskutiert, ob eine allzu großzügige Preisgabe von Wissen nicht mittelfristig zum Verlust von Arbeitsplätzen führen könne.

Gleichwohl hat der Betriebsrat das Programm "positiv begleitet", sagt Peter Wichtel, der Vorsitzende des Gremiums. Insgesamt sei bei diesen Projekten viel "Mund-zu-Mund-Beatmung" erforderlich. Noch keine abschließende Meinung habe sich der Betriebsrat über die Goldenen Seiten gebildet, bei denen der Verdacht bestehe, dass "Menschen nur ausgesaugt werden". Und von der Wissensstafette zwischen Älteren und Jüngeren wünscht sich Wichtel, dass sie möglichst "weit nach unten getragen wird, damit da mehr Ruhe einkehrt".

CHANCEN UND RISIKEN_ "Gelungenes Wissensmanagement" biete "enorme Chancen", schreibt ver.di-innotec, eine Tochtergesellschaft der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft: Beschäftigte würden vom Kostenfaktor zum Wertschöpfungsgeber, betriebliche Hierarchien veränderten sich, der Stellenwert von Erfahrungen steige, neue Horizonte für erweiterte Mitbestimmung ergäben sich. Wo Chancen sind, lauern allerdings auch Risiken: ver.di-innotec nennt unter anderem "gläserne" Wissensträger, Entwertung persönlicher Wissenswerte, erhöhter Erwartungs- und Lerndruck sowie Leistungskontrolle.

Wieland Stützel sieht das etwas anders. Die Entwertung des Wissens finde schließlich täglich statt, und erhöhter Lerndruck sei unvermeidlich. In Zukunft sei "extreme Kommunikationsfähigkeit" gefragt, die sich in neuen sozialen Netzwerken zu bewähren habe. Der Ansatz einer "Intelligenz der vielen" könnte allerdings mit dem vorherrschenden Konkurrenzdenken kollidieren. Dieses - welche Ironie - werde durch individuelle Zielvorgaben und entsprechende Tarifverträge nachgerade gefördert.

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