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Magazin Mitbestimmung

: Die freien Schulen im Osten

Ausgabe 10/2010

OSTDEUTSCHLAND Den privaten Schulgründern im Osten geht es nicht um Eliteschulen, sie wollen ortsnahe Angebote erhalten und eine bessere Pädagogik. Von Susanne Kailitz

Susanne Kailitz ist Journalistin in Dresden./Foto: Freie Schule Woltersdorf

In Brandenburg hat Ende August die Schule angefangen - und für die Eltern der rund 20 000 Schulanfänger stellt sich seither die Frage, ob sie ihr Kind in der richtigen Schule angemeldet haben. Rund 6,5 Prozent von ihnen bevorzugen freie Schulen. Das liegt auch daran, dass es nach 17 Schulreformen in zehn Jahren in Brandenburg vielen Eltern schwerfällt, sich den Glauben an die Funktionsfähigkeit der staatlichen Schulen zu bewahren.

Denn vom gemeinsamen Lernen mit weniger Druck und mehr pädagogischen Alternativkonzepten sind viele staatliche Schulen noch immer weit entfernt. Zu dem Schluss, dass eine gute Schule ganz anders gestaltet werden muss, kam auch Christian Grune. Der Woltersdorfer Diplompädagoge und Vater schloss sich 2006 mit anderen Eltern zu einem Verein zusammen, um eine freie Grundschule zu gründen. "Die Eltern waren mit dem Angebot vor Ort unzufrieden, und im Umkreis gab es keine Alternative. Unsere Kinder sollten ja keinen stundenlangen Schulweg haben."

Unglücklich waren die Eltern vor allem mit den starren Lehrplänen der staatlichen Grundschule. "Individuelle Förderung kann so nicht funktionieren. Das ist eine Pädagogik, die sich in den letzten 20 Jahren nicht verändert hat", argumentiert Schulgründer Grune. Obwohl das Brandenburger Schulgesetz freie Schulen vorsieht, machte das Land es den Schulgründern nicht leicht. Das Genehmigungsverfahren zog sich hin. Und erst nach drei Jahren hat die freie Grundschule Woltersdorf Anspruch auf staatliche Zuschüsse; das Schulgeld von rund 90 Euro und der Hortbetrag, den die Eltern monatlich zahlen, decken nur ein Drittel der Gesamtkosten. Finanziell konnte das Projekt deshalb nur über Bürgschaften der Eltern, Spenden und Kredite der GLS-Bank gestemmt werden.

Trotzdem bereut Grune keine Sekunde lang, sich in das Abenteuer freie Schule gestürzt zu haben. An "seiner" Schule gibt es keinen festen Stundenplan und keine Noten; die rund 60 Schüler lernen in altersgemischten Gruppen in Arbeitsphasen wie "Freie Arbeit", "Projektarbeit" und "Spiel". Wie gut das Konzept funktioniere, sieht Grune täglich beim eigenen Nachwuchs.

Auf dem gleichen Gelände steht auch die freie Gesamtschule Woltersdorf. Seit 2009 können 82 Schüler hier sämtliche Abschlüsse der Sekundarstufen I und II ablegen. "Wir kämpfen hier nicht mit so vielen formalen Dingen und starren Rahmenplänen", lobt Schulleiterin Petra Köhn die Spielräume ihrer Arbeit. "Bei uns ist der Verdienst zwar schlechter als bei beamteten Lehrern, aber der Enthusiasmus ist größer - weil Initiative und Engagement wertgeschätzt werden." Bei der freien Gesamtschule Woltersdorf ist auch die Gemeinde als Träger mit im Boot. Gemeindesprecher Michael Pieper erinnert sich: "Das haben die Eltern mit den Füßen entschieden. Für die Oberschule gab es kaum noch Anmeldungen."

DEMOGRAFISCHE URSACHEN_ Im Osten Deutschlands hat man Erfahrungen mit Schulschließungen aufgrund geringer Kinderzahlen. Im sächsischen Technitz-Döbeln war deshalb schon Anfang der 90er Jahre die staatliche Grundschule geschlossen worden - zum Leidwesen der ansässigen Eltern. Im Mai 1999 gründete sich im Ort der Christliche Schulverein, ein Jahr darauf öffnete die reformpädagogische evangelische Grundschule für zunächst zwölf Kinder. Nicht mehr als 57 Euro Schulgeld monatlich zahlen die Eltern für die Ganztagsbetreuung der mittlerweile 90 Kinder; die Zahl der Anmeldungen übersteigt regelmäßig die Kapazitäten. Schulleiterin Ruth Weiß wundert das nicht. Sie ist überzeugt davon, dass der kindgerechte Unterrichtsrhythmus in Blöcken mit langen Pausen an ihrer Schule und die enge Zusammenarbeit von Lehrern und Hortbetreuern es den Kindern erlaubt, sich ohne Druck zu entfalten.

Die meisten freien Schulen in der Region orientieren sich an den staatlichen Lehrplänen, um den Kindern einen späteren Schulwechsel nicht zu verkomplizieren. Gerade in Ostdeutschland geht es den Eltern nicht darum, ihre Kinder in elitären Einrichtungen für eine internationale Karriere "fit zu machen" , sondern darum, die starren Strukturen der öffentlichen Schulen zu vermeiden. Mit den moderaten Gebühren, die die meisten der Neugründungen erheben, wären die klassischen Gutverdiener-Privatschulen auch gar nicht zu finanzieren - ganz zu schweigen davon, dass die meisten Eltern sie auch nicht bezahlen könnten.

"Natürlich haben die Eltern das Recht, über Privatinitiativen Schulen zu gründen, um ein wohnortnahes Angebot aufrechtzuerhalten, wenn öffentliche Schulen geschlossen werden", sagt Günther Fuchs, der GEW-Landesvorsitzende von Brandenburg. "Aber jede Schule in freier Trägerschaft gefährdet letztlich die staatlichen Angebote - und die sind, auch wenn es oft anders behauptet wird, durchaus attraktiv." Man müsse die staatlichen Schulen, die für Chancengleichheit stünden, materiell und personell deutlich besser ausstatten als bisher - und ihre guten Leistungen deutlicher hervorheben. "Privat bedeutet nicht automatisch besser."

CHEMNITZER SCHULMODELL_ Dass auch staatlich besser sein kann, beweist das Chemnitzer Schulmodell. 1990 von engagierten Lehrern und Eltern gegründet, die weg wollten von der Pädagogik der bisherigen DDR-Schule, hat sich die Schule in den 20 Jahren zum Vorzeigemodell entwickelt - beim Deutschen Schulpreis schaffte sie es auf einen der ersten Plätze. In 90-minütigen Blöcken und Zensuren erst ab der achten Klasse will die Schule "Eigenschaften wie Selbstbewusstsein und Leistungsbereitschaft, Teamgeist und Toleranz, Kreativität und ökologisches Bewusstsein" fördern, sagt die stellvertretende Schulleiterin Marlis Ludewig. "Wir wollen unseren Schülern beim Erwachsenwerden helfen und ihnen dabei den größtmöglichen Freiraum gewähren."

Das funktioniert: 60 bis 70 Prozent der Schüler wechseln nach der zehnten Klasse aufs Gymnasium und legen das Abitur ab. Englisch lernen im Chemnitzer Schulmodell schon die Schulanfänger. Marlis Ludewig würde das gern mehr Familien ermöglichen - aber die Schule hat ihre Kapazitätsgrenzen erreicht: Die Turnhalle ist seit Jahren wegen Baufälligkeit gesperrt, und 100 der 370 Schüler werden in Containern unterrichtet. Das dringend benötigte neue Schulgebäude hat bereits die Architekturwettbewerbe hinter sich - und nun kann es die Stadt Chemnitz nicht finanzieren. Viel Frust für Kinder, Eltern und Lehrer, denn die Schulleitung muss auch dieses Jahr wieder deutlich mehr Kinder abweisen, als sie aufnehmen kann.

 

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