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Magazin Mitbestimmung

Von CARMEN MOLITOR: Deutscher Stahl: Die Krise ist wieder da

Ausgabe 02/2017

Thema Billigstahl aus China, Absatz- und Gewinneinbrüche, explodierende Rohstoffkosten: Die heimische Stahlindustrie hat harte Jahre hinter sich. Noch wurden die meisten Jobs gesichert. Doch was geschieht, wenn nun die CO²-Zertifikate teurer werden?

Von CARMEN MOLITOR

Wenn Klaus Wittig beschreiben soll, welche Stimmung unter den Kollegen bei ThyssenKrupp Steel Europe (TKSE) herrscht, muss er nicht lange nachdenken: „Wir hatten ja schon manche Probleme. Aber was jetzt hier läuft, habe ich so noch nie erlebt“, hat ihm ein Kollege gesagt, der seit 40 Jahren im Stahlwerk in Duisburg arbeitet. Klaus Wittig, der Vertrauenskörperleiter der IG Metall,  findet das symptomatisch: In der Belegschaft geht die ernste Sorge um Tausende Arbeitsplätze um.

Drohende Fusion

Grund sind die Verhandlungen zwischen ThyssenKrupp und dem indischen Stahlriesen Tata Steel über eine Fusion, die im Frühjahr 2016 bekannt wurden. Vor allem der schwedische Großaktionär Cevian Capital AB mache Druck und wolle die Abspaltung der Stahlsparte schnell durchsetzen, um die Gewinne einzustreichen, sagt Klaus Wittig. Ob es zu der Stahlhochzeit kommen und wie sie TKSE verändern wird, erfuhren Betriebsräte und Beschäftige bis Ende Januar nicht. Die Unruhe wächst.

Schon länger laufen die Geschäfte bei TKSE bescheiden. 2015 und 2016 verschärfte sich die Krise: Billigstahl aus China und zeitweise exorbitant hohe Preise für Rohstoffe sorgten für weniger Aufträge und geringere Margen. Sparpläne und Restrukturierungen begannen, Investitionen wurden verschoben. Auch Arbeitsplätze standen zur Disposition. Schon 2013 wollte der Konzern 1200 Jobs einsparen. Doch Arbeitgeber und Arbeitnehmer einigten sich in einem Beschäftigungssicherungsvertrag auf eine vorübergehende kollektive Arbeitszeitverkürzung, um die Jobs zu retten.

„Seit Januar 2015 arbeiten wir 31 Wochenstunden und bekommen 32 Stunden bezahlt“, erklärt Vertrauenskörperleiter Wittig. Bis Ende 2020 wird die Arbeitszeit schrittweise auf 35 Stunden steigen. So lange gilt der ausgehandelte Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen. Klaus Wittig hofft, dass die Vereinbarung auch im Falle einer Fusion hält. Ganz sicher ist er sich nicht: „Wenn sie das aufkündigen, würde unsere Montanmitbestimmung mit einer starken IG Metall für heftige Gegenwehr sorgen.“

Insgesamt hat TKSE rund 18 000 Beschäftigte, davon 13 000 am größten Standort in Duisburg und 5000 in sechs kleineren Standorten. Kommt es zur Fusion und damit zu Produktionszusammenlegung, wären zunächst die kleinen Standorte von der Schließung bedroht, vermutet Wittig. In der Folge sei eine Drosselung der Produktion auch am Hauptstandort Duisburg wahrscheinlich. Das werde man nicht kampflos akzeptieren, so Wittig. Die Betriebsräte und die Gewerkschafter sehen durch die Partnerschaft mit Tata Steel viele Arbeitsplätze in Gefahr.

So dramatisch wie bei Thyssenkrupp endete das Jahr 2016 für die anderen deutschen Stahlkonzerne zwar nicht. An Fusionen denkt öffentlich keiner der Mitbewerber. Aber alle erlebten eine Achterbahnfahrt, die zunächst so steil bergab führte, dass gar das Ende der europäischen Stahlindustrie prognostiziert wurde. Durch Dumpingstahl aus China sank der Stahlpreis allein zwischen Januar und November 2015 um fast 40 Prozent. Kaum hatte die EU diese Talfahrt durch Anti-Dumping-Maßnahmen halbwegs gestoppt, explodierte der Weltmarktpreis für Kokskohle, weil China die Produktion stark drosselte.

Wie ein Damoklesschwert hängt über der Branche außerdem eine Reform des Emissionshandels, die für die Stahlbranche ab 2021 erhebliche Zusatzkosten mit sich bringen würde. Überall greifen Restrukturierungspläne. Die Beschäftigten tragen mit verringerten Wochenarbeitszeiten oder eingedampften Jahressonderzahlungen zu Einsparungen bei. All das mobilisierte 2016 die Stahlwerker: An einem Protesttag der IG Metall nahmen bundesweit 45 000 Personen teil – und damit gut die Hälfte der insgesamt 85 000 Beschäftigten im deutschen Stahlsektor. Zu einer Demonstration in Brüssel kamen 15 000.

Konfliktreicher Umbau

Auch bei der Salzgitter AG haben die schwierigen Marktbedingungen Spuren hinterlassen. „In der Grobblechsparte ging die Auslastung zurück und wir mussten über eine solidarische Arbeitszeitverkürzung schwierige Phasen überbrücken“, sagt Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG Metall und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Salzgitter AG. In der Flachstahlsparte war das Problem zunächst der Preisverfall infolge von Billigexporten aus anderen Ländern und später die exorbitanten Preiserhöhungen bei den Vorprodukten wie Kokskohle und Erzen. Die Gewinnmargen schmolzen.

Die Salzgitter AG reagierte unter anderem damit, ihre Produktpaletten zu überprüfen. Sie plant, durch eine Veränderung im Produktportfolio in lukrativere Marktsegmente vorzudringen. Dafür muss der Konzern trotz Krise neue Investitionen bewilligen. „Wir befürworten diese Strategie“, sagt Hans-Jürgen Urban. „An ihr hat die Arbeitnehmervertretung in Betriebsrat und Aufsichtsrat intensiv mitgearbeitet.“Kritisch sehen Betriebsräte und Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat dagegen die Restrukturierung, die der Konzern vor drei Jahren unter dem Schlagwort „Salzgitter 2015“ begann.

„Der Betriebsrat hat sich einer Diskussion um sinnvolle Restrukturierungen und über eine Verbesserung der Effizienz durch eine veränderte Arbeitsorganisation nicht verweigert“, sagt Urban. „Er bestand aber darauf, dass erst geprüft wird, was sinnvoll und möglich ist und man dann schaut, welche Arbeitsplatzeffekte das haben könnte.“ Der Vorstand habe den umgekehrten Ansatz: Für ihn standen offensichtlich Kostenreduzierungen im Vordergrund, nicht zuletzt mit Blick auf die Arbeitskosten. Und er suchte nach Maßnahmen, um diese zu realisieren. Das sorgte immer wieder für Konflikte.

Es gebe einen gewissen Arbeitsplatzabbau, der durch nicht neu besetzte Stellen geschehe, so Aufsichtsrat Urban. Auch solidarische Instrumente der Krisenbewältigung, wie die kollektive Arbeitszeitverkürzung, griffen bei der Salzgitter AG gut. „Wir hoffen, dass wir auch über die schwierigen Phasen die Beschäftigung weitgehend halten, also einen größeren Abbau von Beschäftigung verhindern können“, so Urban. Inzwischen erwarte man wieder bessere Geschäfte. Der Aufsichtsrat sieht deshalb „mit einem nicht überschwänglichen, aber doch vorhandenen Optimismus“ ins neue Jahr.

Kündigungen verhindert

Verhalten  optimistisch gibt sich Roland Schmidt. Der Betriebsratsvorsitzende der Deutschen Edelstahlwerke (DEW) am Standort Siegen glaubt, dass die Weichen für das Unternehmen nach zwei harten Krisenjahren jetzt richtig gestellt wurden. Dabei ist die Lage ernst. Noch Anfang 2016 galt der Fortbestand der DEW, Tochter der schweizerischen Schmolz und Bickenbach AG, als „akut gefährdet“. Das Geschäftsjahr 2015 endete in tiefroten Zahlen.

Neben Billigstahl hatten der DEW unterschiedlichste Probleme zu schaffen gemacht: Sinkende Ölpreise führten zu einem Zusammenbruch der Produktion von speziellen Stählen für die Öl- und Gasindustrie, geplante Geschäfte mit Offshore-Anlagen in Nord- und Ostsee kamen zum Erliegen, dann stoppte auch noch der Großkunde Airbus aus internen Gründen übergangsweise seine Bestellungen. „Da reden wir über schmerzhafte Verluste in einer Größenordnung von 300 bis 400 Millionen Euro Umsatz im Jahr“, sagt Roland Schmidt.

Es sei an der Zeit gewesen, „ein paar Vorsichtsmaßnahmen einzubauen“, damit die DEW nicht irgendwann einmal in die Insolvenz rutsche, so der Betriebsratsvorsitzende. Mittel der Wahl: ein Spar- und Investitionsprogramm mit über 600 Einzelmaßnahmen und ein Restrukturierungstarifvertrag, der bis Ende 2017 betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Den 3600 Beschäftigten geht es im Gegenzug ans Portemonnaie: Insgesamt 30 Millionen Euro bringen sie dadurch ein, dass sie 2016 und 2017 auf 75 Prozent ihrer Jahressonderzahlung verzichten. „Ich glaube an diese Maßnahmen“, betont Roland Schmidt.

Schwieriger Job für Betriebsräte

Wenn ein Stahlproduzent nötige Investitionen in den Hochofen eines Standorts verschiebt, läuten bei erfahrenen Betriebsräten die Alarmglocken. Bei Klaus Hering, Betriebsratsvorsitzender am ArcelorMittal-Standort in Bremen, war es Anfang 2016 soweit: „Da wurde bei uns aufgrund der schlechten Ergebnislage die Investition in den Großhochofen kurzfristig gekippt“, sagt er. Spätestens da war allen klar, dass die Zeiten härter werden.

„Wir haben unter anderem eine vierprozentige Arbeitszeitkürzung vereinbart“, berichtet Hering. „Die Kollegen haben dadurch zehn zusätzliche freie Tage gehabt, aber auch vier Prozent weniger im Portemonnaie.“ Eine außertarifliche Prämie wurde ebenfalls auf Eis gelegt, am Ende des Jahres aber doch ausgezahlt. „All das machte es möglich, dass die Hochofeninvestition im Mai doch noch genehmigt wurde“, sagt Hering. Er sieht das als guten Deal, aber weitere Zugeständnisse lehne er ab, sagt Hering. „Was sich im Markt in diesen Extremen abspielt, kann man nicht durch einzelne personalpolitische Maßnahmen kompensieren.“

Zwar hat sich die Situation auch bei ArcelorMittal wieder etwas beruhigt. Aber nun steht mit der geplanten Neuregelung der CO²-Zertifikate eine noch dunklere Wolke über der Stahlbranche – wenn deutlich weniger Zertifikate kostenlos abgegeben werden und die Preise am Markt, die derzeit um die 6 bis 8 Euro pro Tonne liegen, stark anziehen.

Mitbestimmungsakteure in allen Unternehmen treibt das Thema um. Wenn Europa ab 2021 die CO²-Zertifikate verteuert, könnten die europäischen Stahlunternehmen diese Kosten nicht kompensieren und hätten einen uneinholbaren Wettbewerbsnachteil.

„Wir brauchen in Bremen ungefähr fünf Millionen Zertifikate im Jahr“, erklärt der ArcelorMittal-Betriebsratsvorsitzende Hering. „Wenn die demnächst vielleicht 30 Euro pro Tonne kosten sollen, fehlt uns sehr viel Geld für Investitionen.“ Sollte es soweit kommen, sei das existenzgefährdend: „Dann ist das Thema Stahl in Europa erledigt.“ Bisher muss ArcelorMittal freilich noch überhaupt keine Zertifikate hinzukaufen.

Wenn es bei den kommenden Verhandlungen schlecht läuft für die Stahlproduzenten, könnten für ein Unternehmen von der Größe ArcelorMittals aber wohl 30 bis 40 Millionen Euro Zusatzkosten drohen.

Angesichts solcher Szenarios sieht sich Betriebsrat Klaus Hering in einer ungewohnten Rolle: als Lobbyarbeiter. „Auch wir Arbeitnehmer müssen alle politischen Kräfte darüber orientieren, was für uns auf dem Spiel steht“, ist er überzeugt. Die Beschäftigten dabei mitzunehmen, fordere ihn heraus: „Einer Belegschaft diese Drohsituation transparent zu machen und sie darüber aufzuklären, wie eng es ist, ohne sie zu verunsichern – das ist eine schwierige Aufgabe.“

Kein Wunder, dass Heiko Reese vom Stahlbüro der IG Metall in Düsseldorf ein kämpferisches Jahr prognostiziert. „Die beiden großen Themen sind jetzt die verstärkten Handelsschutzinstrumente in der EU und die Entscheidung zum Emissionsrechtehandel. Wir sind mittendrin im politischen Prozess und haben schon viele Verbesserungen erreicht“, sagt der Gewerkschafter. „Wenn sich das Europäische Parlament im Februar mit der Frage Emissionsrechtehandel beschäftigt, werden wir sichtbar und hörbar werden.“

Fotos: Karsten Schöne

 

SO FUNKTIONIERT DER HANDEL MIT CO2-ZERTIFIKATEN

Am europäischen Emissionsrechtehandelssystem (ETS) nehmen in Deutschland Betreiber von rund 1800 Anlagen teil. Es funktioniert nach dem Prinzip „Beschränken und Handeln“ (Cap and Trade): Die Höhe der zulässigen Treibhausgasemissionen wird beschränkt, andererseits können die Emissionsberechtigungen frei gehandelt werden.

Jede Anlage erhält für eine Handelsperiode eine bestimmte Menge Emissionsberechtigungen. Pro Berechtigung darf eine Tonne Kohlendioxid (CO²) oder eine vergleichbare Menge Treibhausgase ausgestoßen werden.

Die Berechtigungen wurden zunächst kostenlos zugeteilt. Verbraucht ein Unternehmen wegen Emissionsdrosselung in einem Jahr weniger Zertifikate als zugeteilt, kann es überzählige Zertifikate am Markt verkaufen; verbraucht es mehr, muss es eine Strafe zahlen (mehr als 100 Euro pro Tonne nicht eingespartes CO²) und die fehlenden Zertifikate hinzukaufen.

Seit 2013 gibt es eine stärkere europäische Harmonisierung des Emissionshandels, um gleiche Wettbewerbsbedingungen innerhalb der EU zu gewährleisten. Der überwiegende Teil der Zertifikate wird nicht mehr kostenlos vergeben, sondern versteigert. Nur noch übergangsweise gibt es eine kostenlose Zuteilung für Sektoren wie die Stahlindustrie, die einem starken globalen Wettbewerb ausgesetzt sind.

Diese kostenlose Zuteilung erfolgt auf Basis von Benchmarks, die sich nach dem Durchschnitt der EU-weit 10 Prozent besten Technologien des jeweiligen Industriesektors richten.

Für die nächste, vierte Handelsperiode ab 2021 will die EU die Bedingungen des ETS neu justieren und unter anderem die Menge der Gesamtzertifikate weiter absenken. So will man den Zielen des Übereinkommens von Paris für den globalen Klimaschutz von 2015 näher kommen.

Stahlexperten monieren, die neuen EU-Benchmarks seien für die Stahlbranche zu hoch angesetzt und technisch nicht erreichbar. So befürchtet man in einem neu geregelten System erhebliche zusätzliche Kosten, weil die Stahlunternehmen dauerhaft mehr Zertifikate hinzukaufen müssten. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl geht dabei von einer Milliarde Euro pro Jahr aus.

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