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„Es ist wichtig, dass man bei Gewerkschaftsarbeit geerdet bleibt“, betont Willi Segerath. Magazin Mitbestimmung

Von Von JOACHIM F. TORNAU: Der normale Werdegang

Ausgabe 12/2018

Portrait Kantig, bodenständig und beharrlich: Wilhelm Segerath war der wahrscheinlich bekannteste Arbeitnehmervertreter bei thyssenkrupp. Nach 46 Jahren im Unternehmen ist „Stahl-Willi“ in Rente gegangen. Er kann viel darüber erzählen, was Mitbestimmung bewirkt.

Von JOACHIM F. TORNAU

Wenn es fürs Stahlkochen nicht eine Mark mehr pro Stunde gegeben hätte als fürs Autoschrauben, wer weiß, die Geschichte wäre wohl anders verlaufen. So aber verdingte sich Wilhelm Segerath, gerade 19 Jahre alt und gelernter Karosserie- und Fahrzeugbauer, im Jahr 1972 bei der August-Thyssen-Hütte in Duisburg-Hamborn. Einer seiner drei älteren Brüder, Bergmann wie der Vater, hatte ihm dazu geraten. Und er hatte ihm auch noch einen weiteren Tipp gegeben: Bevor du zum Personalbüro gehst, sagte er, geh beim Betriebsrat vorbei und tritt in die IG Metall ein. „Daran habe ich mich gehalten“, erzählt Segerath. „Ich war früher in der Gewerkschaft als überhaupt eingestellt.“

Doch nicht nur der Gewerkschaft, auch dem Unternehmen sollte er danach zeit seines Arbeitslebens die Treue halten. Am 30. September 2018 hatte Wilhelm Segerath (65) seinen letzten Arbeitstag bei thyssenkrupp, nach ununterbrochenen 46 Jahren im Konzern. Es war ein historisches Datum, nicht nur für ihn selbst. An diesem Tag stimmte der Aufsichtsrat für die Aufspaltung des krisengeschüttelten Traditionskonzerns in die zwei börsennotierten Gesellschaften thyssenkrupp Materials (für das Werkstoffgeschäft) und thyssenkrupp Industrials (für die Industriegüterproduktion).

Auch Aufsichtsratsmitglied Segerath hob dafür zum letzten Mal die Hand. Eine gute Lösung sei das, findet er. „Wir haben damit als Arbeitnehmervertreter etwas geschaffen, was unseren Kolleginnen und Kollegen eine Zukunftsperspektive gibt.“ Und dafür zu sorgen habe er immer als den Kern seiner Aufgabe verstanden, in den Anfängen als gewerkschaftlicher Vertrauensmann in der Hamborner Hütte genauso wie zuletzt, seit 2012, als Vorsitzender des Konzernbetriebsrats und Mitglied des Konzernaufsichtsrats.

„Es gibt ja den politischen Streit, ob wir als Gewerkschaften nicht der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus sind“, sagt er. „Das sehe ich ganz anders. Wir haben die Aufgabe, dass die Beschäftigten in Lohn und Brot bleiben und unter vernünftigen Arbeitsbedingungen ihr Auskommen haben.“ Ein Satz, so nüchtern und bodenständig wie der Mann, der ihn ausspricht. Wilhelm Segerath pflegt kein großes Gewese zu machen, vor allem nicht um seine Person. Seinen kontinuierlichen Aufstieg vom ersten Betriebsratsmandat vor 35 Jahren zum obersten Vertreter der rund 60.000 Thyssenkrupp-Beschäftigten in Deutschland fasst er knapp zusammen: „Das war der normale Werdegang.“

Lieber spricht er über kollektive Kämpfe – über den Stahlstreik 1978/79 („das war die Initialzündung für mich“), bei dem damals sensationelle 30 Tage Urlaub erkämpft wurden, über die Auseinandersetzungen um das Stahlwerk in Duisburg-Rheinhausen, über die geplante feindliche Übernahme von Thyssen durch Krupp, aus der durch den Protest der Beschäftigten eine freundliche Fusion wurde. Und noch lieber redet er, der seit 2001 ehrenamtliches Mitglied im Vorstand der IG Metall war, über die Gegenwart, über Aufgaben und Herausforderungen für die Gewerkschaften, vom Strukturwandel in der Industrie über den Einsatz für ein soziales Europa bis zum Kampf gegen Rechts. Nur weil er jetzt in Rente geht, hört er ja nicht auf, sich Gedanken zu machen.

„Willi ist ein Vollblutgewerkschafter“, sagt Markus Grolms, IG-Metall-Sekretär und stellvertretender Vorsitzender des Thyssenkrupp-Aufsichtsrats. „Er ist immer solidarisch und hat immer Hilfe angeboten, nicht nur wenn es um seinen eigenen Laden ging – das war für ihn Ehrensache.“ Dabei war auch im eigenen Laden immer reichlich etwas los. Korruptionsskandale, Missmanagement und der wachsende Einfluss von Finanzinvestoren führten thyssenkrupp zuletzt sogar an den Rand der Zerschlagung. Wilhelm Segerath aber, da sind sich alle seine Weggefährten einig, ließ sich selbst unter größtem Druck nie aus der Ruhe bringen. „Es war bewundernswert, mit welcher Ruhe und Beharrlichkeit er manche festgefahrene Situation gelöst hat“, sagt Dirk Sievers, sein Nachfolger als Vorsitzender des Konzernbetriebsrats. „Wenn alle gedacht haben, es gibt keine Lösung mehr, ist ihm immer noch etwas eingefallen.“

Als „kantig, verlässlich und geradlinig“ beschreibt ihn Norbert Kluge, Direktor des I.M.U. der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied im thyssenkrupp-Aufsichtsrat. Als streitbar, aber guten Argumenten immer aufgeschlossen. „Er ist eine wirklich herausragende Persönlichkeit, einer, der die Werte der Mitbestimmung verkörpert.“ Wahre Mitbestimmung bedeutet für Segerath dabei: Montanmitbestimmung, mit echter Parität von Anteilseigner- und Arbeitnehmerbank. Sie ist für ihn kein vom Aussterben bedrohtes Relikt, wie manche meinen. Sondern ein Zukunftsmodell.

In der jüngsten Krise bei thyssenkrupp habe sich erneut bewiesen, wie verantwortungsvoll die Arbeitnehmerseite mit ihrer Macht umgehe. „Nachdem erst der Vorstandsvorsitzende und dann der Aufsichtsratsvorsitzende die Brocken hingeschmissen haben, waren Gewerkschaft und Betriebsräte die einzige Konstante im Unternehmen“, sagt er. „Da wird deutlich, wie wichtig unsere Arbeit am Ende war.“ Doch Macht ist für Segerath ohnehin kein Selbstzweck, sondern wertlos ohne die Unterstützung der Belegschaft. „Es ist wichtig, dass man bei der Mitbestimmungsarbeit geerdet bleibt“, erklärt er. Dass man in die Pausenräume geht, mit den Beschäftigten diskutiert, den Kontakt zur Basis hält. „Das habe ich mir nie nehmen lassen.“

Wenn er aus seinem Büro in der neuen Verwaltungszentrale des Konzerns in Essen aus dem Fenster sah, vermisste er den Hochofen. Obwohl Wilhelm Segerath, wie er es ausdrückt, „fast 40 Jahre Funktionärswissenschaft studiert“ hat, ist er im Herzen immer Arbeiter geblieben.Jetzt ist er Rentner. Will mehr Zeit mit seiner Frau Carmen, mit Kindern und Enkeln verbringen. Will „altersgerecht Rad fahren“, auf seinem E-Bike. Will vielleicht Gasthörer werden an der Uni. Was er auf keinen Fall will: sich seinen Nachfolgern als ungebetener Ratgeber aufdrängen. „Aber wenn ich gebraucht werde“, sagt er, „bin ich da.“ Wie immer.

Aufmacherfoto: Dirk Hoppe

 

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