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Magazin Mitbestimmung

Betriebsräte: Das Wunder von Leipzig

Ausgabe 09/2014

Als Siemens beschloss, seinen Schaltanlagen-Standort stillzulegen, 
wollte der Betriebsrat das nicht hinnehmen. Jetzt hat der Standort wieder eine Zukunft, und Michael Hellriegel ist mit seinen Kollegen für den Deutschen Betriebsräte-Preis nominiert. Von Susanne Kailitz

Wer in den Leipziger Stadtteil Böhlitz-Ehrenberg fährt, der spürt nicht viel vom Flair der Messestadt, die viele für eine der schönsten in Deutschland halten. Hier, im Westen der Stadt, ist es trist. Die Straßen sind schlecht, Schlagloch reiht sich an Schlagloch. Verlassene Industriegebäude erinnern daran, dass das hier einmal die größte Industriegemeinde der DDR war. Und doch hat sich hier im vergangenen Jahr ein kleines Wunder ereignet. Eines, in dem ein zur Schließung vorgesehener Standort gegen seinen riesigen Konzern rebelliert – ein Leipziger David gegen einen globalen Goliath. Wie war das möglich? Derjenige, der am ehesten die Rolle des David ausfüllt, steht in diesem August in seinem Büro am höhenverstellbaren Schreibtisch und scheint immer wieder selbst erstaunt über das zu sein, was hinter ihm liegt. Michael Hellriegel, 51, ist gelernter Elektromonteur und Diplom-Ingenieur für Elektroenergieanlagen. Seit vielen Jahren arbeitet er bei Siemens in Leipzig. Von 1994 bis 2010 leitete er die Logistikabteilung des Standorts. Seither ist er freigestellter Betriebsrat – und seit einem Jahr halten viele ihn für den Retter seines Betriebes.

SCHOCK MIT VORLAUFZEIT

Hellriegel erzählt, wie schockiert er im Frühjahr 2013 war, als er und seine Betriebsrats-Kollegen von der Betriebsleitung darüber informiert wurden, dass Siemens seine Schaltanlagen künftig nicht mehr in Leipzig, sondern 2500 Kilometer entfernt in Portugal herstellen lassen wollte. „Davon wären 365 Arbeitsplätze und mehr als 500 Zulieferer betroffen gewesen. Hier sollten nur 90 Leute für Supportaufgaben bleiben.“ Die Begründung für die harte Entscheidung: Das Werk sei unrentabel und ineffizient. Wenn die Nachricht auch überraschend kam. Dass in Leipzig etwas nicht in Ordnung war, hatten Michael Hellriegel und seine Betriebsratskollegen schon länger geahnt. „Man muss das klar sagen: Der Standort war schlecht geführt“, sagt der Betriebsrat. Es gab Probleme zwischen der Führung und den Mitarbeitern. Die Organisation funktionierte nicht ordentlich; manchmal fehlte sogar Werkzeug. „Aber wir hatten nie Zahlen“, sagt Hellriegel. „Es hieß immer, das sei alles nicht darstellbar.“

In einer Betriebsversammlung im Dezember 2012, wenige Monate, bevor das Management das Aus verkündete, hatte sich der Unmut der Belegschaft Bahn gebrochen – unterstützt vom Betriebsrat. Der Betriebsleiter, so Hellriegel, habe die massive Kritik nicht verkraftet. „Der wurde dann nicht wieder gesehen“, sagt er, nach dessen weiterem Schicksal befragt. Stattdessen kam dann die Hiobsbotschaft, dass bald Schluss sein würde. Der Standort sei nun einmal nicht mehr wettbewerbsfähig, ließ eine Konzernsprecherin wissen, man schreibe hier in der Leipziger Südstraße seit Jahren rote Zahlen – „leider Gottes“. Dass vieles schief lief in ihrem Betrieb, bestritten auch die Betriebsräte nicht. Aber sich mit der Schließung abzufinden kam für sie nicht infrage. „Ich habe in den folgenden Monaten Aufgaben übernommen, von denen ich früher nicht geträumt habe“, erinnert sich Hellriegel. „Das hätte ich nicht unbedingt gebraucht. Es hat mich jede Menge Kraft gekostet.“

HILFE VON DER IG METALL

Hellriegel und seine Kollegen schlossen sich mit der IG Metall zusammen und entwarfen eine Strategie. Schnell war klar: Wenn überhaupt, dann könnte die Schließung des Werks nur abgewendet werden, wenn es eine vernünftige Alternative gäbe. Gemeinsam mit einem Beratungsunternehmen und unter Einbeziehung der Belegschaft entwarfen sie ein Alternativkonzept, wie man künftig effizienter produzieren könne. Ein Novum in einem Konzern, der bislang Entscheidungen allenfalls verkündet und dann auch immer durchgezogen hatte. Viele der Leipziger Mitarbeiter konnten sich gar nicht vorstellen, dass es überhaupt noch möglich sei, die Schließung zu verhindern. „Aber ich denke, dass wir damit auch die Philosophie von Joe Kaeser aufgegriffen haben“, sagt Michael Hellriegel. Schließlich habe der Siemens-Chef selbst einmal gesagt, man könne nicht immer nur Standorte schließen, sondern müsse auch mal etwas in Ordnung bringen. 

Das mag stimmen. Doch im Kampf um den Leipziger Siemens-Standort war letztlich der Druck, den der Betriebsrat und die Gewerkschaft aufbauten, entscheidend – nicht die Unternehmensphilosophie. Denn die Leipziger hatten ein Ass im Ärmel, das die Konzernführung nicht auf dem Zettel hatte: Einer der Partner des Werkes ist eine Behindertenwerkstatt. Nur wenige Meter von den Werkshallen, einen Steinwurf über die Straße entfernt, fertigen 24 Menschen mit Behinderungen Teile für die Schaltanlagen. Eine Schließung des Werks hätte auch für sie das Aus bedeutet – Nachrichten, die, so Hellriegel, erheblichen sozialen Druck entfaltet hätten und die den Siemens-Chefs nicht gefallen hätten. 

MIT FACEBOOK UND LOKALZEITUNG

Genauso wenig übrigens wie die massive Kampagne, die der Leipziger Betriebsrat über Facebook und lokale Medien im Frühjahr und Sommer zur Rettung des Betriebs startete. Immer wieder gab es Tipps von verschiedenen Seiten, erinnert sich Hellriegel. Er strahlt heute noch, wenn er erzählt, dass seine Betriebsratskollegen und er sich wenige Minuten vor einer Siemens-Pressekonferenz im nobelsten Hotel der Stadt mit ihrem Banner „Wir lassen uns nicht abschalten“ aufgebaut hätten.

„Das hat der Veranstaltung dann doch eine andere Richtung als geplant gegeben.“ Plötzlich habe sich auch eine unbekannte Frau mit den Demonstranten solidarisiert: Eine Kundin aus Stuttgart, die gerade zur Abnahme einer Anlage da war und ganz empört darüber war, wie man mit den Arbeitern umsprang. „Sie hat sich im strömenden Regen zu den Arbeitern gesellt und schließlich wegen uns noch ihren Zug verpasst. Das war emotional sehr intensiv.“ Mit Plakaten, einem eher altmodischen Medium, haben die Leipziger sehr gute Erfahrungen gemacht. Eins davon hängten sie an eine Mauer an der Grenze zum Betriebsgelände, von der keiner weiß, wem sie eigentlich gehört. Weil das Transparent nicht auf dem Siemens-Gelände hing, konnte keiner etwas dagegen unternehmen. „Das hat die Betriebsleitung jeden Tag an unsere Sicht der Dinge erinnert“, berichtet Hellriegel. 

Solche Chuzpe und akribische Detailarbeit waren es wohl in der Summe, die schließlich den Ausschlag brachten: Im Juli schließlich fiel der Entschluss, dass das Werk weiterarbeiten würde. Mit einer leicht abgeschmolzenen Fertigung zwar und mit dem Verzicht der Mitarbeiter auf Weihnachts- und Urlaubsgeld. „Aber da gibt es im Ergänzungstarifvertrag die Vereinbarung, dass das zurückgezahlt wird, sobald bestimmte Margen erreicht werden. Und das sieht schon in diesem Jahr gut aus“, sagt Hellriegel. Inzwischen ist das Werk „Lead Factory“ für Niederspannungsanlagen bei Siemens und stellt die Steuerung für eine ganz neue Anlage zur Energiespeicherung her. Ein wenig ist dem Betriebsrat die Erschöpfung nach dem Kampf noch anzumerken. Aber auch die Erleichterung, dass es gelungen ist.

Das viele Lob, das er und seine Betriebsratskollegen seither von allen Seiten eingeheimst haben, ist Hellriegel indes nicht ganz geheuer. „Das ist so ein Hype, der mich fast stört“, sagt der Zwei-Meter-Mann, auf einmal ganz vorsichtig. Und dass ihm im letzten Jahr gar nicht klar gewesen sei, dass sein Konzern noch niemals zuvor eine Standortentscheidung zurückgenommen habe. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte es mich vermutlich nicht stärker gemacht.“ Jetzt hat der Betriebsrat zusammen mit der Belegschaft noch ein weiteres Ziel. Der Betrieb muss beweisen, dass sich der Kampf gelohnt hat. Dass der gesamte Betriebsrat für den Deutschen Betriebsräte-Preis nominiert wurde, das nimmt er bescheiden zur Kenntnis. „Wichtig ist nicht, wer am Ende in der Sonne steht“, sagt er. „Wichtig ist nur, dass sie scheint.“ 

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