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Magazin Mitbestimmung

Dienstleistungssektor: Dann eben Häuserkampf

Ausgabe 10/2013

In der Tourismusbranche herrscht Eiszeit zwischen den Sozialpartnern. Der Einzelhandel sucht sich willfährige Partner für seine Niedriglohnstrategie. Und in der Callcenter-Branche gibt es bis heute keinen Arbeitgeberverband: ver.di denkt über eine strategische Neuaufstellung nach. Von Guntram Doelfs

Manchmal schreiben sich beide Seiten noch einen Brief. Pro forma sozusagen, um grundsätzliche Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. In der Sache bewegt sich jedoch seit drei Jahren zwischen ver.di und der Tarifgemeinschaft des Deutschen Reiseverbandes (DRV-T) so gut wie nichts mehr; die Fronten sind verhärtet. Seit der Arbeitgeberverband im Herbst 2010 den Entgelttarifvertrag der Tourismusbranche kündigte, ist das Klima zwischen den Sozialpartnern eisig. Volker Faßbender, Geschäftsführer der Tarifgemeinschaft, muss inzwischen angestrengt nachdenken, welche Verträge er gekündigt hat. „Ach, das ist schon so lange her“, sagt der Verhandlungsführer der Arbeitgeberseite.

So wie in der Tourismusbranche kämpfen Gewerkschaften in einigen Dienstleistungsbereichen mit erheblichen Schwierigkeiten. Der rasante technologische und strukturelle Wandel sowie die Genese ganz neuer Branchen verändern die Beziehungen zum Sozialpartner. Mal redet man, wie in der Tourismusbranche, gar nicht mehr miteinander, weil man die Gewerkschaften am liebsten ganz aus den Unternehmen verdrängen würde. Mal umgeht man, wie im Einzelhandel, teilweise die DGB-Gewerkschaften und sucht mit christlichen Gewerkschaften einen willfährigen Partner für eigene Niedriglohnstrategien. Oder es fehlt, wie in der neu entstandenen Callcenter-Branche, überhaupt an einem Arbeitgeberverband, mit dem man einen Tarifvertrag abschließen könnte. Tarifpolitik im Dienstleistungssektor ist kein Zuckerschlecken.

DISSENS ZWISCHEN DEN GROSSEN DREI IM TOURISMUS

In den Hochglanzprospekten der Tourismusbranche ist die Welt traumhaft. Herrliche Strände und grüne Paradiese für die zahlende Kundschaft – und hoch motivierte Mitarbeiter, die dem Kunden alle Wünsche von den Lippen ablesen. Die deutsche Reisebranche zählte 2012 mit einem Umsatz von 24,4 Milliarden Euro zu den größten Branchen der deutschen Wirtschaft überhaupt. Nur bei den knapp 65 000 Beschäftigten in den Reisebüros und bei den Reiseveranstaltern sieht die Welt längst nicht mehr so rosig aus.

Viele Beschäftigte kämpfen dort mit Lohneinbußen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen. „Die Unternehmen betreiben aktive Tarifflucht. Sie organisieren durch Umstrukturierung und Neugründung von Gesellschaften die Beschäftigten aus der Tarifbindung heraus“, sagt Ute Kittel, Bundesfachgruppenleiterin Tourismus bei ver.di. Auch viele Unternehmen der Tarifgemeinschaft, die rund 100 Mitglieder zählt, würden dazu gehören. Bei Kündigung des Entgelttarifvertrages 2010 waren laut Kittel nur noch 15 000 Beschäftigte tarifgebunden, mit fallender Tendenz. Der Zusicherung der Arbeitgeberseite, man sei weiterhin an einem Flächentarifvertrag interessiert, traut die Gewerkschaftsseite daher nicht. „Unsere Gegenseite löst sich langsam auf“, urteilt Gabriele Landen, Betriebsratsvorsitzende bei DER Touristik.

Trotz der hohen Zahl an Mitgliedsunternehmen im Arbeitgeberverband bestimmen de facto die drei Branchenriesen TUI, Thomas Cook und die zur Rewe-Gruppe gehörende DER Touristik mit einem Marktanteil von zusammen 44,5 Prozent die Linie der Tarifgemeinschaft. Nach Einschätzung von ver.di sind sie aber untereinander zerstritten. Die großen Drei könnten sich aus Konkurrenzgründen nicht mehr einigen. Bei den Verhandlungen um einen Entgelttarifvertrag müssten die Unternehmen Details über ihre Produkte und Arbeitsabläufe offenlegen. „Das wollen sie nicht, weil die Mitbewerber mit am Tariftisch sitzen“, so Ute Kittel.

UNGEWISSE ZUKUNFT DES FLÄCHENTARIFS

In einem Punkt herrscht Einigkeit auf der Arbeitgeberseite. „Wir wollen eine andere Entgeltstruktur“, so Faßbender. Meint: das Grundgehalt absenken und gleichzeitig einen höheren Anteil einer Leistungs- oder Provisionskomponente am Einkommen der Beschäftigten im Vertrieb einführen. Die Arbeitgeber begründen die Lohnkürzungen beim Grundgehalt mit dem schwierigeren wirtschaftlichen Umfeld und dem wachsenden Preisdruck durch das Internet. Die Branche boome doch, wie man den Erfolgsmeldungen des DRV entnehmen könne, widerspricht ver.di. Laut DRV buchen immer noch 92 Prozent der Deutschen im Reisebüro. Der eigentliche Grund ist für Ute Kittel der ruinöse Preiswettbewerb, „den Mitarbeiter mit ihren Löhnen subventionieren. Die Arbeitgeber fordern 17 Prozent des Gehaltes als Leistungsvergütung. Da der Leistungsanteil aber abhängig vom reinen Ertrag ist, kann der betroffene Mitarbeiter das gar nicht direkt beeinflussen. So etwas können wir nicht zulassen.“ Schon deshalb nicht, weil die Mitarbeiter in den Jahren zuvor viele Zugeständnisse gemacht hätten. Weitere Verschlechterungen kämen nicht infrage.

Als warnendes Beispiel gilt Thomas Cook. Dort wird mit Provisionsanteilen gearbeitet, weil der Konzern bereits sechs seiner acht Unternehmen in tariffreie Zonen überführt hat. Von 600 Mitarbeitern im Vertrieb unterliegen nur noch 70 einem Tarif, erzählt Jürgen Knickel, Vize-Betriebsratschef der Thomas Cook AG. Er beobachtet massive Einbußen beim Grundgehalt von Mitarbeitern. „Das Modell Thomas Cook führt dazu, dass die Mitarbeiter 1400 bis 1600 Euro Grundgehalt bekommen. Das ist fast 1000 Euro unter dem Tarif. Dafür müssen sie wie die Kannibalen gegenseitig über sich herfallen und sich Kunden klauen, um wieder auf ihr altes Gehalt zu kommen“, ergänzt Ute Kittel.

Beim Konkurrenten DER Touristik wird neben der forcierten Ausgliederung von Unternehmensbereichen derzeit massiv der Druck auf die Betriebsräte erhöht. So kündigte der Konzern sogenannte Paragraf-3-Tarifverträge, die für die Mitbestimmung von Betriebsräten in den Regionen wichtig sind. Ziel ist es, für alle 450 Reisebüros bundesweit nur einen gemeinsamen Betriebsrat in Frankfurt/Main einzurichten und die etablierten „Betriebsratsstrukturen zu zerschlagen“, kritisiert die ver.di-Expertin. Anders ist die Situation beim Branchenprimus TUI, auch wenn dort gerade durch Umstrukturierung Stellen abgebaut werden würden. Dort will man Gesellschaften wieder zusammenführen. „TUI sagt aber deutlich, dass sie in allen Gesellschaften eine Tarifbindung anstreben und die Betriebsratsstrukturen sichern wollen“, sagt Ute Kittel.

Angesichts der Situation ist eine Rettung des Flächentarifvertrags fraglich. Was bleibt, ist der Häuserkampf in einzelnen Unternehmen. „Als Gewerkschaft geben wir das Tarifgeschäft nicht auf, nur weil der Arbeitgeberverband nicht bereit ist, die Fläche ohne Verschlechterung weiterzuentwickeln“, sagt Ute Kittel.

KEIN ARBEITGEBERVERBAND IN SICHT

Von einem Tarifvertrag können viele Beschäftigte in der Callcenter-Branche nur träumen. „Krankenkassen, Telekommunikationsunternehmen, Banken und Versicherungen – alle geben Aufträge an die Callcenter-Dienstleister und damit in eine tariffreie Zone“, schildert Ulrich Beiderwieden, der bei ver.di als Bundesfachgruppenleiter für die Branche zuständig ist. Tarifpolitisch gibt es jedoch einige Unterschiede. Viele Unternehmen betreiben eigene Callcenter, ohne diese an externe Dienstleister auszulagern. Diese sogenannten Inhouse-Callcenter haben häufig eine tarifliche Bindung in der Branche, in der das Unternehmen überwiegend agiert. In diesen firmeneigenen Callcentern sind derzeit rund 415 000 Menschen beschäftigt.

Probleme bereiten die reinen Callcenter-Dienstleister, die im Auftrag anderer Firmen arbeiten und gemäß Einordnung der Bundesagentur für Arbeit als Callcenter-Branche bezeichnet werden. In diesem Bereich arbeiten laut Bundesregierung derzeit rund 105 000 Menschen, überwiegend ohne jede Tarifbindung. Einzige Ausnahme war bislang die Walter Services GmbH, wo es ver.di 2009 erstmals gelang, einen Tarifvertrag abzuschließen. Leider rutschte ausgerechnet Walter dieses Jahr in die Insolvenz.

Bislang gibt es noch nicht mal einen Arbeitgeberverband, sondern mit dem Callcenter Verband (CCV) und dem Deutschen Dialogmarketing Verband (DDV) nur zwei Interessenverbände. „Wir reden mit beiden seit Jahren auch über die Gründung eines Arbeitgeberverbandes, aber passiert ist bislang nichts“, sagt Beiderwieden. Ein Grund dafür liegt in den unterschiedlichen Positionen der beiden Verbände sowie in Differenzen zwischen Unternehmen innerhalb der Verbände. Während der DDV einen Mindestlohn ablehnt, plädieren viele Unternehmen im CCV dafür. Eine Umfrage des CCV ergab, dass 77 Prozent der Mitglieder sich für einen gesetzlichen Mindestlohn aussprechen, dessen Höhe im Mittel bei 8,60 Euro liegen sollte. „Wir hätten gern einen gesetzlichen Mindestlohn. Nicht aus Sozialromantik, sondern weil wir endlich die Abwärtsspirale bei den Preisen in der Branche stoppen müssen“, sagt CCV-Sprecher Jens Fuderholz.

Im November 2011 beschloss die Mitgliedervereinigung des CCV, einen „Prozess zur Gründung eines Arbeitgeberverbandes zu moderieren“, sagt Fuderholz. Seitdem sind zwei Jahre vergangen – und ein Arbeitgeberverband immer noch nicht in Sicht. „Der Prozess läuft noch, weil es rechtlich knifflige Dinge zu regeln gilt“, beschwichtigt der CCV. Bei ver.di ist die Geduld mit der Arbeitgeberseite bald am Ende. „Wir hätten gern einen Branchentarifvertrag, sehen aber keinen Fortschritt auf Arbeitgeberseite. Deshalb müssen wir wohl auf einzelne Dienstleister zugehen und um Haustarifverträge kämpfen“, sagt Ulrich Beiderwieden. Eine Umfrage von ver.di zu Beginn des Jahres deutet an, dass die Bereitschaft bei den Beschäftigten dafür steigt, weil viele die unhaltbaren Zustände nicht länger akzeptieren wollen. Immerhin 6676 Mitarbeiter in 52 Callcenter-Standorten sprachen sich offen für einen tariflichen Mindestlohn aus.

MINDESTLOHN FÜR WARENRÄUMER?

Auf den ersten Blick wirkte die Schlagzeile absurd: Da fordert ein Arbeitgeberverband einen Mindestlohn – und ver.di lehnt ab. So zu lesen in der „FAZ“ im Juli 2013. Die Zeitung hatte die Kritik des Arbeitgeberverbandes „Instore und Logistik Service“ (ILS) an ver.di aufgegriffen, weil die Gewerkschaft mit dem ILS keinen Mindestlohn für sogenannte Warenräumer abschließen will. Diese Mitarbeiter füllen die Regale in den Supermärkten mit Waren. Nach Auffassung des ILS sind Warenräumer Teil einer neuen Branche. „Seit mehr als 25 Jahren hat sich die Branche der Instore-Logistik als eigenständige Dienstleistung entwickelt und umfasst heute rund 100 000 Arbeitsplätze“, sagt ILS-Verbandsvorsitzender Michael Jeurgens. In einem Papier „Hintergründe und Fakten“ beschreibt der ILS die Tätigkeit als Bestandteil einer „optimierten, hoch effizienten Ablauforganisation“ und erweckt den Eindruck, die Dienstleistung sei Bestandteil einer komplexen Logistikkette. Andererseits rechtfertigt der Verband die niedrigen Löhne mit dem einfachen Charakter der Tätigkeit.

„Das sind klassische Jobs im Einzelhandel. Unser Ansprechpartner als Arbeitgeberverband ist deshalb der Handelsverband Deutschland (HDE), nicht der ILS“, sagt dagegen Ulrich Dalibor, Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel bei ver.di. Er verweist auf den Charakter vieler Arbeitsverträge der Warenräumer. In den Supermärkten werden immer mehr dieser Beschäftigten mit Werkverträgen beschäftigt, sind also formal selbstständig. Bei vielen dieser Verträge handelt es sich nach Auffassung von ver.di jedoch häufig nur um Schein-Werkverträge, weil die Werkvertragsarbeiter nur für ein Unternehmen arbeiten und wie reguläre Arbeiter in die Arbeitsabläufe des Betriebes eingebunden sind. Zudem werden in der Realität selbst die vom ILS mit der christlichen Gewerkschaft DHV ausgehandelten Dumping-Tarifentgelte von 6,63 Euro pro Stunde im Westen und 6,12 Euro im Osten häufig nicht erreicht, weil die Beschäftigten äußerst flexibel eingesetzt werden. Seit Monaten kursieren in den Medien Berichte, wo Journalisten im Selbstversuch für reale Stundenlöhne von drei bis vier Euro Waren einräumten.

Der Arbeitgeberverband versucht daher, aus den schlechten Schlagzeilen zu kommen, und forderte ver.di mehrfach zu Verhandlungen „ohne Vorbedingungen“ für einen Mindestlohn auf. ver.di lehnt Gespräche zwar nicht grundsätzlich ab. „Wir können gern mit dem ILS über tarifliche Bedingungen sprechen, die den jeweils geltenden Tarifkonditionen des Einzelhandels in den Ländern entsprechen“, sagt Rüdiger Wolff, Bereichsleiter Branchenpolitik bei ver.di. Man könne und werde auch nicht die eigenen Flächentarifverträge mit einem Mindestlohn für diese Tätigkeiten unterbieten. „Für Dumpinglöhne à la DHV stehen wir nicht zur Verfügung.“

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