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Magazin Mitbestimmung

: Chemie macht mobil

Ausgabe 06/2011

TARIFPOLITIK Mit dem Demografie-Tarifvertrag hat sich die Chemiebranche 2008 verpflichtet, auf den Bevölkerungswandel zu reagieren. Vielerorts stellt das die Unternehmenskultur auf den Kopf: Fabrikarbeiter schwören Fast Food ab, Manager starten Meetings mit Gymnastikübungen, und Azubis machen sich Gedanken über ihre Altersvorsorge.

Von INGMAR HÖHMANN, Journalist in Köln/Foto: Frank Rumpenhorst

Die alten Stühle sind ausrangiert, jetzt geht es den Tischen an den Kragen: Der Reifenhersteller Michelin tauscht in der Formenwerkstatt seines Bad Kreuznacher Werks die Möbel aus. Die Investition erhöht weder das Arbeitstempo noch die Produktivität – es geht um die Gesundheit der Beschäftigten: Die neuen Modelle sind höhenverstellbar, damit gehört lästiges Bücken der Vergangenheit an. 12.000 Euro lässt sich das Unternehmen den Austausch kosten. Den 23 Mitarbeitern in der Abteilung, deren Durchschnittsalter jenseits der 50 liegt, soll das Rückenschmerzen ersparen und ein längeres Erwerbsleben ermöglichen.

Michelin gestaltet die Arbeitsplätze ergonomisch – und reagiert so auf die alternde Belegschaft. Die Gesundheit der Mitarbeiter liegt dem Unternehmen am Herzen: Im neuen „Balance-Raum“ stärken Beschäftigte in Gymnastikkursen ihren Rücken, die Kantine bietet ein „Balance-Menü“ zur ausgewogenen Ernährung an. Mehrmals pro Woche macht zudem eine Physiotherapeutin die Runde durch die Werkshallen – sie weist die Arbeitnehmer an den Maschinen und an den Bändern in die richtige Körperhaltung ein. Selbst Führungskräfte machen in längeren Meetings Lockerungsübungen. „Viele Kollegen waren anfangs skeptisch“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Uwe Kumpa. „Doch umso mehr mitmachen, umso mehr wird gesundheitsbewusstes Arbeiten zur Selbstverständlichkeit.“

FAKTEN STEIGERN PROBLEMBEWUSSTSEIN_ Die Chemieindustrie setzt auf rüstige Mitarbeiter: Seit vor drei Jahren der Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ unterzeichnet wurde, stehen die Unternehmen in der Pflicht, Arbeit alters- und alternsgerecht zu gestalten. Erstmals steht der Diskurs über den demografischen Wandel auf einer vertraglichen Grundlage. Aufbau des Gesundheitsmanagements, mehr soziale Absicherung, flexible Arbeitszeiten, Weiterbildungsangebote – über viele Wege gehen die Firmen nun die Herausforderungen an. „Überall sind intensive Gespräche zwischen Arbeitgebern und Betriebsräten über die demografische Situation in Gang gekommen“, sagt Peter Hausmann, Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IG BCE. „Die Tarifvertragsparteien zeigen, dass sie ihrer demografischen Verantwortung gerecht werden.“

Die Chemie-Stiftung Sozialpartner-Akademie (CSSA) wollte es genau wissen: Sie hat untersucht, wie stark die Branche bisher den Tarifvertrag umgesetzt hat. Dafür hat die Weiterbildungsinstitution Ende vergangenen Jahres 360 Personalverantwortliche und Betriebsräte in Chemiebetrieben mit insgesamt rund 200 000 Arbeitnehmern befragt. Die Antworten sind vielfältig – und zeugen von einem neuen Problembewusstsein: 86 Prozent der Betriebe etwa wollen das Angebot an Ausbildungsplätzen steigern oder beibehalten, 71 Prozent bieten Gesundheitschecks an, 61 Prozent widmen sich ergonomisch optimierten Arbeitsplätzen. 27 Prozent fördern alternsgerechte Arbeitszeitmodelle.

Grundlage dafür war eine Demografie-Analyse – eines der wesentlichen Elemente des Tarifvertrags. In den Jahren 2008 und 2009 mussten alle Betriebe ihre Personalstruktur unter die Lupe nehmen, um daraus den künftigen Altersaufbau ableiten zu können. Die Analyse soll zeigen, wo Handlungsbedarf besteht, und so eine vorausschauende Personalplanung ermöglichen. „Die Demografie-Analyse hat ein Tor geöffnet“, sagt CSSA-Geschäftsführer Klaus W. West. „Viele Unternehmen haben dadurch erst den Anstoß bekommen, sich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen.“

Den Beschäftigten bringt der Demografie-Tarifvertrag auch handfeste finanzielle Vorteile: Seit Anfang 2010 zahlen die Arbeitgeber für jeden Tarifbeschäftigten jährlich 300 Euro in einen sogenannten Demografie-Fonds ein. Der Betrag erhöht sich jährlich entsprechend den jeweiligen Tarifabschlüssen. Die Betriebsparteien entscheiden per Betriebsvereinbarung, wie sie das Geld aus dem Fonds einsetzen. Zur Auswahl stehen fünf Optionen: Langzeitkonten, Altersteilzeit, Teilrente, Berufsunfähigkeitsschutz und tarifliche Altersvorsorge. Möglich ist es auch, die Instrumente zu kombinieren.

Wie die Demografie-Analyse zielt auch der Fonds darauf ab, ein Bewusstsein für den Bevölkerungswandel und die damit verbundenen Probleme zu schaffen. Für CSSA-Geschäftsführer West hat er daher auch eine symbolische Bedeutung: „Es geht nicht mehr um die Verteilung von Tariflohnsteigerungen, sondern um die grundsätzliche Frage, wie Arbeit im Betrieb künftig gestaltet werden soll“, sagt er. „Für viele Betriebsräte und Personalverantwortliche ist das Neuland. Die Rollen der Akteure werden ganz neu definiert.“

BANGER BLICK AUF DIE RENTE MIT 67_ Tatsächlich sind die Betriebe bei der Verwendung des Demografie-Fonds zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen – das zeigt nun die Auswertung der CSSA. Am beliebtesten ist die tarifliche Altersvorsorge: Rund 62 Prozent der Unternehmen haben sich dafür entschieden. An zweiter Stelle folgen mit fast 29 Prozent Langzeitkonten: Darauf können Arbeitnehmer Guthaben ansparen, das sie etwa für Qualifizierung oder die Freistellung vor der Rente verwenden können. Rund elf Prozent der Betriebe zahlen den Demografie-Beitrag in die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung Chemie ein, um das Berufsunfähigkeitsrisiko abzusichern. Zehn Prozent fördern Altersteilzeit-Regelungen, weniger als drei Prozent haben sich für die Teilrente entschieden.

Christian Jungvogel vom Vorstandsbereich Tarifpolitik der IG BCE hofft jedoch, dass einige Unternehmen noch einmal die Verwendung ihres Demografie-Fonds überdenken. Der hohe Stellenwert der Altersvorsorge vor allem bei kleinen und mittleren Betrieben zeige, dass viele den einfachsten Weg gewählt hätten, sagt er. „So mancher Personalleiter hat nicht im Blick, dass eine Reihe von Mitarbeitern nicht bis 67 Jahre arbeiten kann. Wir müssen mehr Ausstiegs- und Teilzeitvarianten für Ältere anbieten.“

Bereits jetzt liegt das Durchschnittsalter in der Chemieindustrie bei rund 42 Jahren, Tendenz steigend. In zehn Jahren wird die Hälfte der Beschäftigten älter als 45 Jahre sein. Vor allem im Schichtbetrieb sind sie starken Belastungen ausgesetzt – und das betrifft immerhin ein Drittel der Chemie-Arbeitnehmer. Ohnehin sind Demografie-Analyse und -Fonds für die IG BCE nur ein Anfang – auch aus finanziellen Gründen: „Die 300 Euro jährlich werden nicht ausreichen, um dem demografischen Wandel angemessen zu begegnen“, sagt Vorstand Hausmann. „In künftigen Tarifvertragsverhandlungen wird es auch darum gehen, den Betrag weiter aufzustocken.“

Auch deshalb haben sich die Betriebsparteien bei Michelin dafür entschieden, den Demografie-Beitrag in eine Langzeitkonto-Variante einzuzahlen. Das sogenannte „FlexiPlusKonto“ soll den Mitarbeitern Teilzeitregelungen oder eine frühere Freistellung vor dem Renteneintritt ermöglichen. In Bad Kreuznach liegt das Durchschnittsalter der rund 1500 Beschäftigten bei über 48 Jahren – weit über dem Branchenschnitt. Gleichzeitig steigt die Betriebszugehörigkeit: Ein Michelin-Mitarbeiter ist im Schnitt seit 26 Jahren dabei.

DOPPELTE HERAUSFORDERUNG_ Der Demografie-Tarifvertrag erlaubt es dem Unternehmen nun, auf eine doppelte Herausforderung einzugehen: Wer nicht bis zur Rente arbeiten kann, erhält die Möglichkeit, früher auszusteigen. Gleichzeitig aber versucht die Firma, genau das zu vermeiden – und die Arbeitskraft der Beschäftigten so lange wie möglich zu erhalten. Um der Demografie-Entwicklung gerecht zu werden und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten, wurde vor einem Jahr ein fünfköpfiger Demografie-Ausschuss gebildet. Einmal im Monat treffen sich Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, um zu erörtern, wie sie auf die Bedürfnisse der alternden Belegschaft eingehen können.

An Ideen mangelt es nicht: Statt Maschinenteile mit purer Muskelkraft zu heben, bedienen sich die Mitarbeiter an manchen Arbeitsplätzen nun moderner Hebewerkzeuge. Vielerorts haben zudem LED-Lampen die Beleuchtung verbessert – das schont die Augen. Und bei der Entwicklung neuer Anlagen achtet das Unternehmen verstärkt auf Ergonomie: Arbeitsschritte, die monotone Bewegungen verlangen, übernimmt die Maschine. Zug um Zug verbessern sich so die Arbeitsbedingungen. „Zunehmend ersetzt geistige die körperliche Arbeit“, sagt Betriebsratschef Kumpa. „Viele Mitarbeiter haben in Zukunft nur noch eine überwachende Funktion.“

Für Kumpa ist der Demografie-Ausschuss die wichtigste Konsequenz aus dem Tarifvertrag, nicht zuletzt weil er sowohl Management als auch Betriebsrat zur kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem Thema anregt. In der Branche jedoch ist das noch wenig verbreitet: Der CSSA-Studie zufolge haben erst 27 Prozent der Unternehmen Demografie-Arbeitskreise gebildet. Statt die Instrumente des Tarifvertrags als strategisches Personalentwicklungselement zu nutzen, beschränkten sich viele Firmen auf die Einrichtung des Demografie-Fonds und die Nachwuchssicherung, sagt Experte Jungvogel. Zwar sei es zu begrüßen, dass viele Betriebe mehr Ausbildungsplätze anbieten wollten. Doch sie sollten dabei die älteren Arbeitnehmer nicht vergessen.

VERSCHENKTES POTENZIAL_ Ein Phänomen, das in der gesamten Wirtschaft zu beobachten ist: Einer Commerzbank-Studie aus dem Mai 2009 zufolge ist die Weiterbildung Jüngerer die häufigste Antwort deutscher Mittelständler auf den Bevölkerungswandel – 85 Prozent von ihnen sehen sich hier gefordert. Dagegen stehen Weiterbildungsangebote und die Entwicklung von Karrieremodellen für ältere Mitarbeiter nur bei einer Minderheit auf der Agenda: Gerade einmal 44 Prozent wollen hier tätig werden.

Für Arbeitsforscher zeigt sich hier ein grundlegendes Problem: Ältere werden unterschätzt. „Viele Personalverantwortliche glauben, dass mit dem Alter die Lernfähigkeit abnimmt. Das ist ein Missverständnis. Auch 70-Jährige können noch Klavierspielen oder eine neue Sprache lernen – da spricht erst einmal nichts dagegen“, sagt Christian Stamov-Roßnagel, Professor am Jacobs Centre on Lifelong Learning an der Uni Bremen. Doch die Vorbehalte hätten nicht nur Personaler, sondern auch viele ältere Arbeitnehmer selbst. Es trete eine Art „Lernentwöhnung“ ein, sagt der Wissenschaftler. „Wer nicht mehr zum Lernen animiert wird, verliert den Glauben an seine Fähigkeiten. Das ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.“

Doch tief verankerte Überzeugungen ändern sich nur langsam. Dabei geht es um nichts Geringeres als die gesamte Einstellung zur Arbeit: Lernen, Altersvorsorge, Gesundheitsverhalten – für Helmut Krodel, Geschäftsführer des Qualifizierungsförderwerks Chemie, zwingt der demografische Wandel zu einem Bruch mit der althergebrachten Arbeitsphilosophie. „Wir müssen schon die Auszubildenden für das Thema sensibilisieren und nicht erst bei den 50-Jährigen anfangen“, sagt er. „Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“

Der Medizintechnikhersteller B. Braun im hessischen Melsungen hat das Thema Qualifizierung zur Kernaufgabe erklärt. Ein Drittel der Belegschaft ist heute schon älter als 50. Altersgemischte Teams sollen nun helfen, damit die Älteren ihre Erfahrungen an die Jüngeren weitergeben können – und das in einer gesundheitsgerechten Umgebung. Nicht immer seien die Mitarbeiter von den Neuerungen begeistert, sagt der Betriebsratsvorsitzende Peter Hohmann. So hat das Unternehmen auf Initiative des Betriebsrats die Schichtmodelle umgestellt: Früh-, Spät- und Nachtschichten wechseln sich in kurzer Folge ab. „Die Arbeitsmedizin belegt, dass das gesünder ist, als sechs Tage am Stück in einer Schicht zu arbeiten“, sagt Hohmann. „Doch viele Kollegen haben ihr Privatleben nach dem alten Modell organisiert und beispielsweise die Kinderbetreuung danach ausgerichtet.“

ATTRAKTIVE ALTERSTEILZEITMODELLE_ Doch auch auf die Bedürfnisse von Familien geht das Unternehmen verstärkt ein – ebenfalls ein Ergebnis des Demografie-Tarifvertrags. Vor zwei Jahren haben die Betriebsparteien eine Betriebsvereinbarung über ein Familienteilzeitmodell abgeschlossen. Mitarbeiter können drei Jahre lang ihre Arbeitszeit um 50 Prozent reduzieren. Das entsprechend niedrigere Gehalt erhöht B. Braun beim ersten Kind um 15 Prozent, beim zweiten um 25 Prozent. Auch bei der Pflege von Angehörigen können Arbeitnehmer das Modell in Anspruch nehmen.

Grundsätzlich will B. Braun den flexiblen Übergang in die Rente fördern. Unter dem Namen „Teilzeit 60Plus“ kann die Belegschaft nun eine besondere Variante der Altersteilzeit in Anspruch nehmen; die Beiträge aus dem Demografie-Fonds stockt das Unternehmen jährlich zusätzlich um zehn Prozent auf. Vor dem Renteneintritt können Arbeitnehmer, die nicht im Schichtbetrieb arbeiten, ihre Arbeitszeit maximal zwei Jahre lang auf 50 Prozent reduzieren. Während dieser Zeit erhalten sie aber 80 Prozent der Bezüge. Bei Schichtarbeitern verlängert sich die mögliche Bezugsdauer auf bis zu vier Jahre. Ab dem 58. Lebensjahr führt die Personalabteilung mit jedem Mitarbeiter ein Orientierungsgespräch, um ihn über die Möglichkeiten zu informieren. „Die Menschen stehen Veränderungen immer skeptisch gegenüber“, sagt Betriebsratschef Hohmann. „Wir müssen nun die Aufgabe meistern, sie von den Vorteilen zu überzeugen.“

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