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Magazin Mitbestimmung

Von STEFAN SCHEYTT: Böckler-Stipendiaten auf Spurensuche in Genf

Ausgabe 12/2016

Reportage Wo wird es greifbar – das „emanzipatorische Potenzial“ der ILO, der fast 100 Jahre alten Internationalen Arbeitsorganisation? Bericht von einer Studienreise.

Von STEFAN SCHEYTT

Im Keller der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf stößt der Berliner Juradoktorand Dmitri Geidel, 26, unvermittelt auf die Wahrheit, wie die Prawda sie einst verbreitete. Dmitri Geidels Zeigefinger gleitet über die angegilbten Seiten der Sowjet-Zeitung; in fließendem Russisch, das seine zweite Muttersprache ist, entziffert er die Texte. Vom „Frühling der Völker“ ist darin die Rede, Geidel findet Berichte über pompöse Empfänge für Kohlekumpel und Wahlergebnisse zu Arbeiterräten, er entdeckt die Namen Molotov und Stalin, dann auch Stresemann und Erzberger; russisch murmelnd überfliegt er einen Artikel über Versuche „bourgeoiser Kräfte“ in Deutschland, die Monarchie wieder einzuführen. Als er aufs Datum der Ausgabe schaut, wird ihm bewusst, dass sich auch heute, dem 7. November 2016, die Oktoberrevolution jährt – zum 99. Mal.

Was ist aus der Aufbruchsstimmung der ILO geworden?

Genf,  Anfang November 2016: Durchs Kellerarchiv der ILO-Bücherei streift eine zehnköpfige Gruppe von Böckler-Stipendiaten, angeführt von Jens Becker, Referatsleiter in der Promotionsförderung der Stiftung. Die Büchereiführung ist nur eine kurze Episode im dichten, viertägigen Programm der Stipendiaten, sie wollen die ILO kennenlernen, diese außergewöhnliche Welt-Institution. Außergewöhnlich, weil sie die älteste Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist, gegründet 1919 als Bestandteil des Friedensvertrags von Versailles, und mit nicht weniger beauftragt als dem Weltfrieden auf die Beine zu helfen durch den Kampf für soziale Gerechtigkeit, gegen Not, Armut und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen. Außergewöhnlich aber auch deshalb, weil die ILO als einzige UN-Organisation eine dreigliedrige Struktur hat, in der Arbeitnehmervertreter konstitutiv an allen Regelsetzungen mitwirken – gemeinsam mit Vertretern von Arbeitgebern und Regierungen.

Aber was ist geblieben von der Aufbruchsstimmung jener Zeit, die dem Doktoranden Dmitri Geidel fast hundert Jahre später so überraschend aus der vergilbten Prawda entgegentritt? „Worin liegt das emanzipatorische Potenzial der ILO heute?“, fragt der angehende Politik- und Wirtschaftswissenschaftler und Böckler-Stipendiat Dominik Pietron aus Leipzig bei einer der vielen Diskussionen. Ist das Äußerste, was man von der ILO heute noch erwarten kann, dass sie wenigstens das Schlimmste verhindert, wie Stipendiatenbetreuer Jens Becker provokant formuliert?

Die Frage über das heutige Gewicht der ILO ist – ausgesprochen und unausgesprochen – an allen vier Tagen in Genf präsent, und die Antworten fallen sehr ambivalent aus, es ist ein fortwährendes Hin und Her. Gleich der erste Tag zeigt eine eher ernüchternde Realität. Auf der Besucherbühne verfolgen die Stipendiaten die Sitzung des Verwaltungsrats kurz nachdem das Gremium den ILO-Generaldirektor Guy Ryder, immerhin einen Gewerkschafter, in einer nicht-öffentlichen Wahl für weitere fünf Jahre im Amt bestätigte.

Zuvor hat die Gruppe erfahren, dass der Brite keinen Gegenkandidaten hatte und die Delegierten nur mit Ja oder Enthaltung stimmen konnten. Im dunkel vertäfelten, muffig-altmodisch wirkenden Saal aus den 1970er-Jahren hören die Besucher ritualisierte Reden, deren Urheber man oft gar nicht ausfindig machen kann im großen Raum, und ob man sie versteht, hängt auch von der Tagesform der Dolmetscher ab.

Auch DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sitzt dort unten bei den Delegierten, als die Sitzung beendet ist, packt sie ihren roten Rucksack und trifft sich auf eine Stunde mit den Stipendiaten im ILO-Konferenzraum der Arbeitnehmervertreter.

Arbeitgeberseite bestreitet auf einmal Streikrecht

Dort sagt Annelie Buntenbach, was ist: Dass die ILO „für uns als Arbeiterbewegung und Gewerkschaften von sehr großer Bedeutung ist, nicht zuletzt für Länder, die nur schwache Gewerkschaften haben“ – einerseits. Andererseits macht sie keinen Hehl daraus, dass die ILO auch ein Moloch sein kann, in dem wichtige Themen immer wieder auf die lange Bank geschoben, verschleppt, zerredet werden. „Die ILO ist kein Apparat, wo man mit den Fingern schnippt und das Licht angeht. Man denkt hier eher in Dekaden. Aber das sind die Prozesse, mit denen wir umgehen müssen.“

Dazu gehören auch Rückschritte. Annelie Buntenbach berichtet den Stipendiaten von jenem Streit in der ILO, der 2012 ausbrach und die Organisation bis heute beschäftigt, manche sagen lähmt: Vor vier Jahren bestritt die Arbeitgeberseite plötzlich, dass aus der seit mehr als sechzig Jahren gültigen ILO-Kernarbeitsnorm (Nr. 87) über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts ein Streikrecht abzuleiten sei; das ist dort zwar nicht ausdrücklich formuliert, die Norm wurde aber jahrzehntelang so interpretiert, bis die Arbeitgeber – deren Wortführer angelsächsische Anwälte waren – dies plötzlich völlig anders sahen.

Zum ersten Mal in der Geschichte der ILO wurde daraufhin keine Liste des „naming und shaming“ beschlossen, mit der Verstöße gegen Arbeitnehmerrechte öffentlichkeitswirksam angeprangert werden können. In dem bis heute unaufgelösten Konflikt droht eine der schärfsten Waffen der Organisation stumpf zu werden. Auch bei anderen Themen – etwa der Verantwortung globaler Konzerne entlang ihrer internationalen Lieferketten – steht für Annelie Buntenbach im Zentrum, „dass es immer auch Mechanismen geben muss, die die Regierungen und Arbeitgeber dazu bringen, internationale Verpflichtungen auch praktisch umzusetzen. Wenn ILO-Normen nur fürs ‚window dressing‘ herhalten müssen, braucht die Welt sie nicht.“ Hinter der großen Glasfront im Konferenzraum sieht man Kräne, Baumaterial, Container; große Teile des Gebäudes werden asbestsaniert, ein Thema, um das sich die ILO weltweit seit Jahrzehnten bemüht, um Arbeitsplätze sicherer zu machen. Auf der Baustelle Welt ist die ILO selbst eine.

Ein weiterer Tag für die Stipendiaten in der ILO: ein schmuckloser Konferenzraum im 10. Stock, es schneit, der Blick aus den Fenstern sieht grauen Himmel und graue Verwaltungsgebäude. Die Stipendiaten halten Referate zu unterschiedlichen Themen – Kinderrechtskonvention, Organizing in Äthiopien, die ILO als „großer Bruder der Gewerkschaften“, Digitalisierung der Arbeit, Gewerkschaften in der chinesischen Automobilindustrie … Und stets stehen ihnen ILO-Mitarbeiter zur Seite, die die Beiträge kritisch begleiten. Dmitri Geidel, der Juradoktorand aus Marzahn, greift in seinem Referat noch einmal das grundlegende Problem der ILO-Normen auf: die mangelnden Durchsetzungsmechanismen und die Tatsache, dass nur Staaten, aber nicht Bürger und Arbeitnehmer ILO-bewehrte Rechte einklagen können, weil ILO-Normen internationales Recht darstellen.

Der nachfolgende Referent, ein junger ILO-Mitarbeiter, widerspricht Geidels Analyse nicht, streicht aber die Wirkung des „naming und shaming“ heraus: „Auf der Liste zu stehen, lässt trotzdem kein Land kalt“, die Gefahr des internationalen Prestigeverlusts und der Abschreckung von Investoren sei real. Auch der ILO-Praktikant Fabian Nöth aus Deutschland, auch er ein Böckler-Stipendiat, sieht in der ILO trotz berechtigter Kritik eine Organisation von größtem Wert: „Hier haben die Gewerkschaften das gleiche Gewicht wie die Arbeitgeber. Im Verwaltungsrat kann man manchmal den Eindruck gewinnen, dass Arbeitgebervertreter fast dasselbe sagen wie Arbeitnehmervertreter, weil zuvor zäh verhandelt wurde. Es ist wie manchmal in den Unternehmen: Die Gewerkschaften treiben ein Thema voran, und hinterher wird es vom Management als eigene Idee verkauft. Hier ist deshalb der richtige Platz, um etwas zu verändern.“

An einem der Tage in Genf bei der ILO entwickelt Stipendiatin Anja Gaentzsch, die in Berlin über „Sozialpolitik und Ungleichheit“ promoviert, am Beispiel Perus die Bedeutung des ILO-Übereinkommens 102 über die „Mindestnormen der sozialen Sicherheit“. Das Übereinkommen stammt aus dem Jahr 1952 und wurde 2012 durch die ILO-Empfehlung 202 erneut bekräftigt. Frank Hoffer, Senior Research Officer beim Genfer ILO-Büro für Arbeitnehmerfragen (ACTRAV), ist an diesem Mittag Anja Gaentzschs Sparringspartner, er verwickelt sie in einen anregenden Diskurs, hakt nach, ordnet ein, erklärt den anderen Stipendiaten die Zusammenhänge. An einer Stelle ihres Vortrags lacht er plötzlich laut auf, niemand versteht es zunächst. Dann erzählen Frank Hoffer und Frank Zach, Referatsleiter beim DGB-Bundesvorstand, der die Stipendiatenrunde ergänzt, eine Geschichte, die dann wieder sehr einnehmend ist für den Moloch ILO.

Frank Hoffer und Frank Zach erzählen, wie das war, als 2012 in der Gruppe der Arbeitnehmervertreter die ILO-Empfehlung 202 vorab besprochen wurde. Einer Stipendiatin, die Frank Zach damals begleitete, missfiel eine Formulierung im Textentwurf für die Empfehlung – dort stand, dass es für Bürger eines Landes „kostengünstig“ sein solle, wegen zu geringer oder verweigerter Sozialleistungen vor Gericht zu gehen. Frank Zach trug den Vorschlag der Stipendiatin, das Wort „kostengünstig“ durch „unentgeltlich“ zu ersetzen, als Änderungsvorschlag in die Gremien, wo die Änderung trotz großer Aufregung ihren Weg bis ins oberste ILO-Gremium und in die offizielle ILO-Empfehlung machte. In der steht nun „unentgeltlich“ statt „kostengünstig“. Es ist nur ein anderes Wort auf Papier, aber fast alle guten Ideen beginnen so unscheinbar, bevor sie Wirkung entfalten.

Fotos: Cira Moro

WEITERE INFORMATIONEN

Website der International Labour Organization

Informationen zu Stipendien der Hans-Böckler-Stiftung

Weitere Studienreise: Böckler-Stipendiaten entdecken Chinas Kapitalismus

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