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Magazin Mitbestimmung

: Blut, Herz, Hormon

Ausgabe 05/2010

PORTRÄT Johannes Siegrist erforscht, wie die dunklen Seiten der Arbeitswelt unsere Psyche belasten und Krankheiten verursachen. Heute ist messbar, was lange als schwer messbar galt.

Von ANDREAS MOLITOR, Journalist in Berlin/Foto: Ulrich Baatz


Die Ärzte schienen ratlos. Warum hatten all diese Männer einen Herzinfarkt bekommen? Die Patienten waren jung, Mitte, Ende Dreißig, sie tranken weder auffällig viel Alkohol noch waren sie zu dick, und es gab auch kaum Anzeichen für eine genetische Vorbelastung. "Keiner von ihnen war ein typischer Infarktpatient, außer dass viele von ihnen rauchten", erinnert sich Johannes Siegrist, damals ein junger Professor für Medizinische Soziologie an der Universität Marburg, an jene medizinische Merkwürdigkeit aus den 70ern.

Mit seinen Mitarbeitern suchte er die Patienten in der Reha-Klinik auf und interviewte sie ausführlich, über Privates und die Arbeit. Schon bald erkannte Siegrist ein deutliches Muster. "Diese Männer berichteten fast alle über starke Belastungen am Arbeitsplatz. Manche arbeiteten 60 Stunden die Woche, andere regelmäßig an den Wochenenden. Sie verausgabten sich ständig." Einer der Patienten, ein Vertreter, berichtete beispielsweise, dass am Ende des Jahres nur die Mitarbeiter mit dem höchsten Jahresumsatz ihren Job behalten würden. Die Last dieser Ungewissheit schleppte er täglich mit sich herum. Würden seine Umsätze ausreichen? Wie schafften die Kollegen es nur, immer wieder gute Kunden an Land zu ziehen?

"DA GIBT ES KEINE KARRIEREN"_ Damals begann der heute 66-jährige Johannes Siegrist, ein gebürtiger Schweizer, sich systematisch mit psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, besonders mit dem Zusammenhang zwischen berufsbedingtem Stress und Krankheiten, zu befassen. Er hatte sich bereits einen hervorragenden Ruf als Medizinsoziologe erworben. Fast im Alleingang hatte er das Fachgebiet Anfang der 70er in Deutschland aufgebaut. "Wie macht Gesellschaft krank?" - diese Frage hatte ihn schon im Studium interessiert. Ein Professor riet dringend davon ab, das Thema weiter zu verfolgen. "Da gibt es keine akademischen Karrieren", hieß es. Siegrist blieb beharrlich. Als Medizinische Soziologie mit der Reform des Medizinstudiums Ende der 60er Jahre obligatorisches Fach im Medizinstudium wurde, war der junge Soziologe auf einmal en vogue. Es gab kaum Dozenten, "ich war sozusagen antizyklisch präpariert". Heute gilt Siegrist, Direktor des in einem schmucklosen Beton-Zweckbau untergebrachten Instituts für Medizinische Soziologie an der Universität Düsseldorf, als Papst dieser Wissenschaftsdisziplin im Grenzgebiet von Natur- und Sozialwissenschaften.
Dreieinhalb Jahrzehnte nach den Interviews mit den Infarktpatienten steht wissenschaftlich außer Zweifel, dass Stress am Arbeitsplatz krank macht - und beispielsweise das Infarktrisiko erhöht. Johannes Siegrist legt allerdings Wert darauf, Stress klar zu definieren. Natürlich gebe es Menschen, die gern über Stress und Burn-out schwadronieren, aber eigentlich nur meinen, dass sie viel zu tun haben. Hektik und Zeitdruck, hohe Erwartungen und ein manchmal unerledigtes Arbeitspensum allein sind nicht hinreichend für eine Stress-Diagnose. "Im Zentrum der Stressbelastung steht die Erfahrung eines drohenden oder realen Verlusts der Handlungskontrolle in einer sie herausfordernden, als wichtig eingeschätzten Situation" - so formuliert der Düsseldorfer Medizinsoziologe ein wenig umständlich, aber eindeutig.

HORMONE ALS ALARMSIGNAL_ Der Körper reagiert auf eine solche Stresssituation mit stereotyp ablaufenden Aktivierungsmustern, die - ähnlich wie bei einer gehetzten Antilope auf der Flucht vor einem Rudel Löwen - vor allem über die Ausschüttung von Hormonen "den Kreislauf beschleunigen, den gesamten Organismus in Alarmbereitschaft versetzen und so ein Optimum an Energie zur Verfügung stellen". Wird ein solcher Körperalarm zum Dauerzustand, kann das schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. Genau diese Zusammenhänge erforscht Johannes Siegrist.

Stress ist heute nicht nur definierbar, sondern sogar messbar. Die Stressforschung ist also nicht allein auf subjektive Berichte der betroffenen Beschäftigten angewiesen oder auf Krankheitssymptome, über deren Ursachen man dann doch im Dunkeln tappt. Auch das Risiko, als Folge von Stress am Arbeitsplatz an bestimmten Krankheiten zu erkranken, lässt sich mittlerweile relativ gut quantifizieren. Mithilfe statistischer Verfahren ist es sogar möglich, die krankheitsverursachenden Stressfaktoren aus allen anderen Belastungen am Arbeitsplatz, die nichts mit Stress zu tun haben, herauszufiltern, damit das Ergebnis nicht verfälscht wird.

Siegrists Theorie, die in den vergangenen 15 Jahren in weltweit mehr als 200 Studien zur Anwendung kam, beruht auf dem von ihm entwickelten Modell der "beruflichen Gratifikationskrisen". Vereinfacht ausgedrückt, besteht kein ausgeglichenes Verhältnis von Geben und Nehmen. "Der Beschäftigte ist herausgefordert mit all seinen Fähigkeiten", erklärt Siegrist, "er verausgabt sich ständig und gibt sein Bestes, aber er weiß nie, ob er erfolgreich sein wird, ob er die erhoffte Belohnung erhält oder nicht." Die Belohnung kann eine durch besondere Leistungen abgewendete Kündigung sein, eine Festanstellung, eine Gehaltserhöhung, eine Beförderung oder Projektleitung oder Anerkennung und Wertschätzung durch Vorgesetzte, etwa ein Schulterklopfen vom Chef.

Neben Siegrists Gratifikationskrisen-Modell existiert noch ein zweiter Theorie-Ansatz, der ähnlich häufig zur Anwendung kommt, das sogenannte "Anforderungs-Kontroll-Modell". Stress entsteht nach diesem stark an der klassischen Industriearbeit ausgerichteten Theorie-Konstrukt, wenn der Beschäftigte sich mit hohen Anforderungen konfrontiert sieht und gleichzeitig keinen oder nur geringen Spielraum hat, die Art, den Umfang, die Intensität oder das Tempo seiner Tätigkeit selbst zu beeinflussen. Bestes Beispiel ist die Akkord-Fließbandarbeit.

INTERVIEWS ALS GOLDSTANDARD_ Auch experimentell wird nach Stress am Arbeitsplatz gefahndet. Dabei werden die Reaktionen der Probanden auf stressträchtige Situationen entweder direkt am Arbeitsplatz oder im Labor erfasst - beispielsweise durch Messung von Blutdruck, Herzfrequenz und Ausscheidung von Stresshormonen. Siegrists Studien bestehen in der Regel aus jeweils zwei Befragungen im Abstand von mehreren Jahren. Bei der ersten Befragung liegt das Augenmerk auf der "gesunden" Ausgangssituation. Untersucht werden allein Kategorien, die etwas über Belastungen am Arbeitsplatz aussagen, nicht der Gesundheitszustand der Belegschaft. Bereits erkrankte Mitarbeiter werden nicht befragt, damit sie das Ergebnis nicht verfälschen.

Ausgestattet mit standardisierten Fragebögen, gehen Siegrists Mitarbeiter in die Betriebe und erfassen die Stressbelastung am Arbeitsplatz in persönlichen Interviews. "Das hat den Vorteil, dass wir die Reaktion der Befragten kontrollieren und dokumentieren können", begründet Siegrist das aufwendige Vorgehen, "außerdem können wir so sicher sein, dass jeder Mitarbeiter die Fragen auch selbst beantwortet hat und nicht etwa ein Kollege oder der Vorgesetzte." Da dieser "Goldstandard" vergleichsweise teuer und zeitintensiv ist, greifen Forscher bei groß angelegten Studien häufig auf die Second-Best-Lösung zurück, bei der die Mitarbeiter die Fragebögen ausfüllen, ohne dass ihnen jemand gegenübersitzt.

Mit den Fragebögen erfassen die Forscher die stressrelevanten Kategorien "geforderte Verausgabung", "arbeitsbezogene Belohnungen" und "berufliche Verausgabungsneigung". Bei insgesamt 23 Aussagen, sogenannten Items, sollen die Befragten angeben, ob die Aussage auf ihre Arbeitssituation zutrifft und, wenn ja, wie stark sie das belastet ("gar nicht", "mäßig", "stark", "sehr stark"). "Im Laufe der letzten Jahre ist meine Arbeit immer mehr geworden", lautet eines dieser Items, "Ich erhalte von meinen Vorgesetzten die Anerkennung, die ich verdiene", ein anderes. Nach der statistischen Auswertung der Antworten - nicht selten kommen Tausende von Fragebögen zusammen - hat Siegrist bereits ein konkretes Bild über die Stressbelastung in dem untersuchten Unternehmen oder der beobachteten Branche vor sich. Über Auswirkungen auf die Gesundheit der Belegschaft kann er zu diesem Zeitpunkt noch nichts Konkretes aussagen.

ERST NACH JAHREN SIND AUSSAGEN MÖGLICH_ Daher startet nach fünf bis acht Jahren eine zweite Befragungsrunde. Diesmal stehen Krankheiten im Fokus, die seit der ersten Befragung neu aufgetreten sind. Siegrist und seine Forscher dokumentieren die Erkrankungen und überprüfen, "ob sie vermehrt bei Beschäftigten beobachtet werden, die in der ersten Befragung hohe Stressbelastungen angegeben haben". Jetzt erst sind - entsprechende Korrelation zwischen Stressbelastung und Erkrankungen vorausgesetzt - verlässliche Aussagen über Wirkungszusammenhänge möglich.

Ergänzt werden die Befragungsdaten nach Möglichkeit durch Angaben über die Situation des Unternehmens. Wie ist die wirtschaftliche Lage? Gab es in den vergangenen Jahren Umstrukturierungen und Personalabbau, stehen Entlassungen an? Ist eine Verlagerung von Produktionen im Gespräch? Musste die Belegschaft Opfer bringen, auf Lohn verzichten, mehr arbeiten fürs gleiche Geld, zog das Arbeitstempo an? Dabei ist der Betriebsrat für Siegrist ein genauso unverzichtbarer Ansprechpartner wie die Unternehmensleitung. Er will schließlich kein schöngefärbtes, sondern ein realistisches Bild des Unternehmens.

"Eine vertrauensvolle Kooperation mit den untersuchten Unternehmen ist absolut notwendig", befindet Johannes Siegrist. Dass Firmenleitungen in letzter Zeit zunehmend bei ihm anklopfen und ihr Arbeitsregime auf Stressfallen untersuchen lassen wollen, interpretiert der Forscher als Vertrauensausweis. "So mancher Geschäftsführer fragt sich, woher die hohen Krankenstände kommen", sagt er, "hier und da wächst die Befürchtung, bei der Rationalisierung und Arbeitsverdichtung den Bogen überspannt zu haben."

UNSICHERHEIT ERHÖHT DIE BELASTUNG_ Die Ergebnisse fast sämtlicher Studien belegen einen signifikanten Zusammenhang zwischen Stress und Krankheit. In 15 Untersuchungen wurde - anhand beider theoretischen Modelle - der Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und der Rate an neu aufgetretenen Herz-Kreislauf-Krankheiten (Verengung der Herzkranzgefäße, Herzinfarkt, plötzlicher Herztod) überprüft. Die Studien zeigen, dass sich das Erkrankungsrisiko unter Stressbelastung am Arbeitsplatz fast verdoppelt. Bei psychischen Erkrankungen konnte ein deutlich erhöhtes Risiko nachgewiesen werden, an einer Depression zu erkranken.

"Depressionen zählen zu den typischen Krankheiten, die gehäuft auftreten, wenn sich Menschen über Jahre verausgaben, das angestrebte Ziel aber nicht erreichen", erklärt Siegrist. "Ihre Batterien sind einfach leer." Andere Untersuchungen zeigen ein gesteigertes Risiko für eine Typ-2-Diabetes (früher "Altersdiabetes" genannt), für Alkoholabhängigkeit und Frühverrentung.

Auch Sanierungserfahrungen können krank machen. Bei einer groß angelegten Untersuchung an 100.000 Beschäftigten in Deutschland konnte Siegrists Forscherteam nachweisen, dass Rationalisierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen häufig mit einer deutlich höheren Stressbelastung und entsprechenden gesundheitlichen Beschwerden einhergehen. Studien anderer Forscher zeigen, dass noch sieben Jahre nach Abschluss der Sanierung das Erkrankungs- und Sterberisiko bei den betroffenen Beschäftigten um 30 bis 40 Prozent erhöht war.

Manche Branchen und Tätigkeiten sind besonders anfällig für Gratifikationskrisen. Ein Beleg dafür, dass nicht nur Belastungen am konkreten Arbeitsplatz oder im einzelnen Betrieb, sondern Veränderungen in der Arbeitswelt allgemein krank machen. Siegrist kann eine solch weitreichende Aussage treffen, weil das theoretische Modell es zulässt, die Daten aus unterschiedlichen Studien, Betrieben und Branchen zu vergleichen. Besonders in der scheinbar modernen Arbeitswelt mit ihrer fragwürdigen Palette prekärer Beschäftigungsverhältnisse, gekennzeichnet durch niedrige Löhne, Leiharbeit, befristete Verträge und Ich-AGs, "ist die psychomentale Belastung deutlich erhöht, da sie Diskontinuitäten in der Erwerbsbiografie verursacht, sozialen Abstieg erzwingt und die Kontrolle über die eigene Lebenssituation vermindert".

JEDE KRISE SCHLÄGT ZU BUCHE_ Nach mehreren Jahrzehnten Forschung steht fest: Wer viel Stress ausgesetzt ist und Krisen meistern muss, fällt im Durchschnitt öfter aus. Zu den Auswirkungen der aktuellen Wirtschaftskrise gibt es naturgemäß noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Aus seinen bisherigen Beobachtungen hat Siegrist aber den Eindruck, "dass da ganz vieles maskiert wird". Insbesondere das Phänomen des Präsentismus bereitet ihm Sorge. "Da schleppen sich Menschen aus Angst vor Kündigung oder Degradierung zur Arbeit, obwohl sie eigentlich krank oder erschöpft sind."

Das volle Ausmaß der krisenstressbedingten Krankheiten, so erklärt der Forscher, werde so im Moment noch nicht sichtbar. Siegrist verweist auf Erkenntnisse aus Finnland. Anfang der 90er Jahre wurde das Land von einer schweren Rezession geplagt. "Es dauerte vier bis sechs Jahre, bis sich das in deutlich erhöhten Krankheitsraten niederschlug. Für die jetzige Krise ist leider Ähnliches zu befürchten."

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