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Magazin Mitbestimmung

Europäischer Betriebsrat: Bahnbrechend für Europa

Ausgabe 04/2016

Mit einer außergewöhnlichen Vereinbarung zum europaweiten Schutz von Mitarbeitern bei Umstrukturierungen verhalf der EBR der Deutschen Bahn AG dazu, sich ihrem Anspruch anzunähern, Toparbeitgeber zu werden. Von Stefan Scheytt

Wer Jörg Hensel zum ersten Mal begegnet, könnte ihn voreilig für einen eher grüblerischen Charakter halten, der am liebsten alleine bleibt mit sich und seinen Gedanken. Damit läge man einigermaßen daneben: Denn tatsächlich ist er ein energiegeladener, extrovertierter Mensch, der mit seiner Meinung keineswegs hinterm Berg hält. Gerade erst wieder hat Hensel in seiner Funktion als Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats der DB Cargo der Deutschen Bahn AG per Zeitungsinterview zugerufen, ihre Pläne zur Sanierung der defizitären Schienengüterverkehrstochter seien eine „Kapitulation“, „inakzeptabel“ und Ausweis von „Missmanagement“. Und auch jetzt, beim Interview mit der Mitbestimmung in seinem Büro bei DB Cargo in Mainz, präsentiert sich der gebürtige Westfale als unerschrockener, konfliktbereiter Zeitgenosse.

Solche Details machen verständlich, wie es Jörg Hensel und seinen Mitstreitern im Eurobetriebsrat gelang, der Deutschen Bahn eine Vereinbarung abzuringen, die in dieser Form einmalig sein dürfte. Das gilt umso mehr, als das europäische Arbeitnehmergremium nur Informations- und Konsultationsrechte kennt, aber keine Mitbestimmungsrechte wie deutsche Gesamt- oder Konzernbetriebsräte. „Wir haben eben gut argumentiert und pflegen zudem ein gutes Arbeitsverhältnis zum Personalvorstand“, begründet Hensel. Die grundsätzliche Konfliktbereitschaft der in der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) gut organisierten Bahnmitarbeiter dürfte nachgeholfen haben. „Die Vorstände wissen, dass wir auch europaweite Aktionen nicht scheuen“, stellt Hensel klar.

Heftige Umstrukturierungen 

Im Kern ist die Vereinbarung, die im Oktober 2015 abgeschlossen wurde, aber rückwirkend gilt, eine Art europaweite Sozialplan-Grundregel. Ihre Notwendigkeit wurde offensichtlich, als die Bahn den EBR Ende 2013 über ihre Pläne informierte, ihre in allen europäischen Ländern dezentral arbeitenden Buchhaltungen zu zentralisieren: In Deutschland sollten rund 70 Standorte mit 750 Mitarbeitern in Berlin zusammengelegt und die Zahl der Beschäftigten auf rund 550 reduziert werden; die Buchhaltungen aller anderen europäischen Länder mit insgesamt 1400 Mitarbeitern sollte an einem einzigen Standort in Mittel- oder Osteuropa konzentriert und dadurch etwa 20 Prozent der Stellen eingespart werden. Später wurde Bukarest als Standort bestimmt. In der rumänischen Hauptstadt, die bei vielen internationalen Konzernen längst als Topadresse für outgesourcte Dienstleistungsen gilt, hofft auch das deutsche Staatsunternehmen durch sein Shared-Service-Center (SSC) auf Synergieeffekte. „Dabei war offensichtlich, dass es auch um die niedrigeren Lohnkosten in Rumänien geht“, kritisiert Jörg Hensel. Klar war außerdem, dass so gut wie keiner der betroffenen Buchhalter in den europäischen Ländern das Angebot annehmen würde, nach Rumänien umzuziehen. „Ein freches Angebot, ein Schlag ins Gesicht der Kollegen“, findet Hensel.

Tatsächlich suchten sich etliche erfahrene Buchhalter in den europäischen Ländern alsbald einen neuen Job, als sie von den Zentralisierungsplänen der Bahn erfuhren. „Und so schnell können die neuen Mitarbeiter in Bukarest nicht eingearbeitet werden, da sind Qualitätsbrüche und der Verlust von Know-how unvermeidlich“, sagt Hensel. Problematisch ist auch die Sprachenvielfalt: Die neu eingestellten Buchhalter – die meisten sind Rumänen – müssen jetzt mit Kunden in ganz Europa kommunizieren, „aber es werden noch nicht alle europäischen Sprachen in ausreichender Qualität angeboten“, kritisiert Sebastian Rüter, Geschäftsstellenleiter des EBR.

Auf all das hat der Eurobetriebsrat keinen Einfluss, allerdings hat er sich mit der Vereinbarung eine Mitsprache darüber erstritten, wie mit den Kollegen umgegangen wird, die nicht im Bürokomplex in Bukarest arbeiten können oder wollen. Denn nur in wenigen europäischen Ländern ist die Praxis von Sozialplänen bei Umstrukturierungsmaßnahmen in einem Unternehmen so ausgeprägt wie in Deutschland; vielfach gibt es überhaupt keinen oder nur einen schwachen Kündigungsschutz mit Fristen von weniger als einem Monat.

Folgende Inhalte prägen die europaweit einheitlichen Mindeststandards zum Schutz der Beschäftigten, und zwar in allen Unternehmensbereichen und Tochtergesellschaften (Personenverkehr, internationale Logistikdienstleistungen, Schienengüterverkehr):

DB Jobboard: Um möglichst viele Mitarbeiter innerhalb des Konzerns weiterzubeschäftigen, wurde die interne Plattform DB Jobboard geschaffen, die Arbeitsplatzalternativen europaweit und über alle DB-Unternehmen hinweg transparent macht. „Dieses ‚Nebenprodukt‘ der Vereinbarung entwickelt sich immer mehr zu einer beliebten Plattform“, berichtet Sebastian Rüter.

Mobilitätspaket: Interne Bewerbungen haben Vorrang vor externen, und notwendige Qualifizierungsmaßnahmen für eine neue Stelle muss der Arbeitgeber anbieten. Ein Mobilitätspaket verpflichtet die Bahn zudem, Umzüge finanziell zu unterstützen, wenn der Weg zur neuen Arbeitsstelle mehr als zwei Stunden beträgt. In Großbritannien beispielsweise, wo die Personenverkehrstochter Arriva fast 30 000 Menschen beschäftigt, gab es bisher keine Regelung zur Hilfe bei arbeitsplatzbedingten Umzügen.

Abfindung/Unterstützung: Bei Mitarbeitern, für die kein alternativer Arbeitsplatz im angestammten Unternehmen zur Verfügung steht, muss die Bahn prüfen, ob vorgezogener Ruhestand, Teilzeittätigkeit oder Aufhebungsverträge mit Abfindungen möglich sind; die Mitarbeiter haben Anspruch auf Beratung bei der Zusammenstellung von Bewerbungsunterlagen, auf eine zügige Erstellung von Zeugnissen und auf Freistellung für Vorstellungsgespräche. Ebenfalls in England lernte der EBR, dass DB-Lokführer mit 40.000 Pfund abgefunden wurden, um dann zu einem anderen Unternehmen der DB AG zu wechseln. Kommentiert Jörg Hensel: „Das war doppelt peinlich für die DB, weil gleichzeitig in anderen Ländern keine Abfindungen gezahlt wurden, wenn sie ihren Job verloren.“ 

Härtefälle: Für Mitarbeiter, die von der Umstrukturierung besonders betroffen sind, wurde ein Härtefallfonds eingerichtet. Daraus wird nun zum Beispiel ein dänischer Kollege unterstützt, der zwei behinderte Kinder hat.

Verpflichtende Verhandlungen: In Ländern, in denen es keine oder nur schwache Sozialstandards gibt, müssen Arbeitgeber und Interessenvertreter oder Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor Ort einen Mindeststandard verhandeln. Der kann sich niederschlagen in der Verlängerung von Kündigungsfristen, in besonderen Qualifizierungsmaßnahmen, einer Mobilitätsunterstützung oder Ausgleichszahlungen für besondere Härten.

Clearingstelle: Gibt es vor Ort unterschiedliche Interpretationen der Vereinbarung, muss eine Clearingstelle das Problem lösen. Dieses paritätisch besetzte Gremium entscheidet auch über Zusagen aus dem Härtefallfonds. „Wenn sich also ein lokaler Manager total querstellt, tritt die Clearingstelle auf den Plan, und die wird sicher positiver entscheiden“, versichert Hensel.

Arbeitnehmervertreter vor Ort einbeziehen

Auch wenn man in der Vereinbarung nicht alle Ziele erreicht habe, wie etwa Mindestabfindungen, sei ein „bedeutender Meilenstein“ erreicht worden, findet EBR-Chef Jörg Hensel. Die Bahn habe sich zum Ziel gesetzt, bis 2020 Toparbeitgeber zu werden, da seien europaweite Mindeststandards nur recht und billig. Entscheidend sei dabei – gerade in Osteuropa –, dass die Vereinbarung die lokalen Betriebsräte und Gewerkschaften zwingend einbindet. Sind die Arbeitnehmervertreter dort zu schwach, um sich gegen unsoziale Manager zu behaupten, oder agieren sie de facto im Auftrag der Unternehmensleitung, kann sich der EBR in Berlin einschalten. Dort schaut Geschäftsstellenleiter Sebastian Rüter sehr genau in die monatlichen Länderberichte zu allen arbeitnehmerrelevanten Themen. „Die Kollegen müssen sich um ihren Betrieb und ihr Land kümmern, wir wollen und werden nicht die deutschen Besserwisser sein“, versichert Rüter. „Aber wir werden ihnen helfen und bei Bedarf einschreiten, damit sie vor Ort ihre Mitbestimmungsrechte wahrnehmen können.“ Bestätigt Jörg Hensel: „Wir müssen lernen, europäisch zu denken und nicht alles aus deutscher Perspektive lenken zu wollen.“

Deshalb hat das EBR-Kollegium bereits zum wiederholten Mal Workshops zu interkulturellem Training absolviert. Er spüre deutlich, sagt Jörg Hensel, dass man voneinander lerne, dass eine spannende Kultur des Zusammenhalts wachse. Dazu tragen auch die EBR-Sitzungen im Ausland bei. Fand das letzte EBR-Treffen in den Niederlanden statt, ist die nächste Sitzungin Bukarest geplant. „Wir möchten den Mitarbeitern dort zeigen, dass wir zwar gegen die Einrichtung des SSC in Bukarest waren, aber nicht gegen sie als neue Kollegen.“ 

Maschinenschlosser mit vielen Ämtern: An den Orginalen der Modelleisenbahnen, die in einer Vitrine in seinem Mainzer Büro stehen, hat Jörg Hensel schon rumgeschraubt. Der gelernte Maschinenschlosser aus Hamm ist seit 2012 Vorsitzender des Europäischen Betriebsrats (EBR) der Deutschen Bahn AG, außerdem Mitglied im Konzernbetriebsrat und seit 2001 auch Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats der DB Cargo AG. Zudem sitzt der 57-jährige „bekennende Börsenganggegner“ in den Aufsichtsräten der DB AG und der DB Cargo AG und ist Mitglied des Bundesvorstandes der Eisenbahn- und Verkehrs­gewerkschaft (EVG). 

600 Arbeitsplätze entstehen in Bukarest: „Deutsche Investoren schätzen Rumänien“, betonte Außenminister Steinmeier bei der Eröffnung des SSC im März 2015 und lobte „die Fortsetzung der Erfolgsgeschichte der deutsch-rumänischen Wirtschaftsbeziehungen“. Bis 2018 sollen in dem Bürokomplex 600 Arbeitsplätze entstehen. Um neue Mitarbeiter zu finden, startete die Bahn eine Kampagne unter dem Motto „Kein Job wie jeder andere“. Die Rekrutierung für das SSC in Berlin, in dem rund 70 deutsche Buchhaltungsstandorte zentralisiert wurden, ist weitgehend abgeschlossen, dort arbeiten rund 500 Buchhalter. Für dieses Jahr ist die Eröffnung eines dritten SSC in Manila geplant.

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