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Magazin Mitbestimmung

: 'Man sollte nicht nur auf den Weltmarkt schauen'

Ausgabe 11/2008

INTERVIEW Stephan Doll, Regionsvorsitzender des DGB in Mittelfranken, will in der "Metropolregion Nürnberg" Einfluss auf Regional- und Strukturpolitik nehmen.

Mit Stephan Doll sprach MATTHIAS HELMER/Foto: Peter Roggenthin

Stephan Doll, in der jüngeren Vergangenheit gab es bei Ihnen einige spektakuläre Standortschließungen und Entlassungen - siehe AEG oder Karstadt-Quelle. Wie ist die aktuelle wirtschaftliche Situation im DGB-Bezirk Mittelfranken?
Die Region Nürnberg hat eine ganz andere Arbeitsmarktsituation als im restlichen Bayern. Wir haben hier grundsätzlich die doppelte Arbeitslosigkeit wie im bayerischen Durchschnitt. Das war in der Krise, ist aber auch in der Aufschwungphase so. Während der Krise gab es im Stadtgebiet Nürnberg eine Arbeitslosigkeit zwischen 12 und 13 Prozent. Während Bayern bei 3,8 Prozent liegt, haben wir im Moment 7,7 Prozent.

Wie erklärt sich das?
Durch den großen und noch nicht bewältigten Strukturwandel in unserer Region - mit AEG oder Karstadt-Quelle und den vielen geschlossenen Firmen in der Nürnberger Südstadt. Wir sind eine Region mit nur wenigen Leuchttürmen, wie zum Beispiel Siemens.

Gibt es tatsächlich nur so wenige Leuchtturm-Firmen?
Wir haben natürlich auch Leuchttürme wie MAN oder Datev, aber die bilden bei uns die Ausnahme. Stattdessen erleben wir im Zuge des Strukturwandels eine immense Prekarisierung, die auch deutlich höher ist, als im restlichen Bayern. Gut qualifizierte und feste Arbeitsplätze mit guter Bezahlung sind bei uns weggebrochen. Ersetzt wurden diese durch sehr viele prekäre Jobs. Zum Beispiel haben wir hier eine große Zahl von Callcentern.

Wobei der große Callcenter-Boom schon wieder abebbt.
Genau, da haben auch die Ersten schon wieder geschlossen. Es ist oft gesagt worden, dass wir uns auf dem Weg von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft befinden. Wir haben immer dagegen gehalten, weil im Dienstleistungssektor gar nicht so viele Arbeitsplätze entstanden sind wie in der Industrie abgebaut wurden. Im Übrigen zieht Produktion immer auch Dienstleistungen nach sich.

Gibt es Unterschiede innerhalb eurer Region, zum Beispiel in puncto Arbeitslosigkeit?
Ja. Im Stadtgebiet Nürnberg haben wir 75 Prozent Langzeitarbeitslose und in Fürth 68 Prozent. Es gibt also ein hohes Maß an verfestigter Arbeitslosigkeit in beiden altindustriellen Städten. Der bayerische Durchschnitt liegt dagegen unter 50 Prozent. Wir haben innerhalb der Städteachse Nürnberg-Fürth-Erlangen ein starkes Gefälle. Das drückt sich in der Arbeitslosigkeit aus, aber auch in der Armut. Nach dem Sozialbericht der Stadt Nürnberg ist inzwischen jeder Dritte arm oder von Armut bedroht. Das ist für Bayern etwas sehr Ungewöhnliches. Daher sprechen wir als DGB auch von den "Elendsschluchten". Leuchttürme sind zwar gut, wir müssen aber auch an die Elendsschluchten denken. Das wird im wirtschaftspolitischen Diskurs oft vergessen.

Auch prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind auf dem Vormarsch.
Ja, auch diesbezüglich stehen wir schlechter da als der bayerische Durchschnitt. Wir haben zum Beispiel in Mittelfranken einen Anstieg von Leiharbeit zwischen 2003 und 2007 um 107 Prozent. Auch der Niedriglohnsektor ist hier wesentlich größer als im restlichen Bayern. Jeder vierte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Mittelfranken verdient unter 10.000 Euro Bruttojahreslohn - das ist nicht vergleichbar mit München.

Der Großraum Nürnberg versucht derzeit, sich als Metropolregion zu profilieren. Wie beurteilt der DGB dieses Vorhaben?
Zunächst muss man wissen, dass die Metropolregion Nürnberg über Mittelfranken hinausgeht, da sind große Teil von Ober- und Unterfranken sowie die Oberpfalz mit dabei. Positiv zu werten ist, dass dort Gebietskörperschaften zusammenarbeiten, die das ansonsten nicht tun. Das betrifft auch uns als Gewerkschaften. Und das ist ein Erfolg. Das grundsätzliche Problem der Metropolregion Nürnberg - wie auch der anderen Metropolregionen in Hamburg oder Stuttgart - ist aber, dass sie letztlich eine Filmkulisse ohne Schauspieler sind.

Was bedeutet das?
Es geht dabei sehr viel um Marketing. Das kann man schon machen, aber dafür braucht man den DGB nicht. Marketing ist zwar wichtig, hat jetzt aber mit Arbeitnehmerinteressen nicht unmittelbar was zu tun. Für uns ist dagegen wichtig, dass wir arbeitnehmerorientierte Themen in den Gremien der Metropolregion unterbringen, wie zum Beispiel Daseinsvorsorge, Lebensqualität oder "Gute Arbeit". Es ist uns gelungen, das Thema Leiharbeit im Forum Wirtschaft und Infrastruktur der Metropolregion zu behandeln.

Hat der DGB Mittelfranken regionalpolitische Prioritäten?
Entscheidend ist, dass man sich nicht nur auf die Fahnen schreibt: "Wir müssen in der Globalisierung bestehen." Wir sind momentan in der Metropolregion in einem Leitbildprozess, und da ist natürlich von den IHKs die Anforderung "Weltmarktorientierung" eingebracht worden. Wir sagen ja nicht, dass das völlig daneben ist. Aber für uns ist wichtig, dass dort auch Themen wie Qualifizierung, Beschäftigung und Lebensqualität eine Rolle spielen. Und man sollte auch darauf achten, was überhaupt vor Ort passiert, und nicht nur auf den Weltmarkt schauen, denn 58 Prozent unserer regionalen Wirtschaft hängen vom Binnenmarkt ab. Das ist derzeit eine spannende Auseinandersetzung, die wir da führen.

Hat der DGB schon etwas bewirkt?
Beim Entwicklungsleitbild haben wir schon was angestoßen. Wenn das ohne uns gemacht worden wäre, dann wären die Themen, die ich genannt habe, überhaupt nicht vorgekommen. Von daher ist es schon wichtig, sich einzubringen.

Wo liegt die Schmerzgrenze der Gewerkschaften?
Auch hier lauert die berühmte Beteiligungsfalle: Wir müssen für uns Kriterien festlegen. Also, spielen Themen wie Beschäftigung oder Qualifikation eine Rolle und kommt es auch zu konkreten Handlungsansätzen? Wenn es nur um Marketing geht, dann gibt es auch irgendwann den Punkt, zu sagen, die Veranstaltung findet ohne uns statt. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Das muss man auch immer wieder gegenüber Politik, Kammern und Wirtschaft verdeutlichen. Beim Entwicklungsleitbild wollten Politik und Wirtschaft, dass der DGB dieses mit unterschreibt, damit man gegenüber Staatsregierung, Bund und Europa sagen kann: "Alle regionalen Akteure sind für dieses Entwicklungsleitbild." Den ursprünglichen Entwurf hätten wir nicht unterschrieben. Ich denke, man muss immer entscheiden, wie lange man mitmacht. Denn ansonsten sitzt man nur am Katzentisch dabei.

Man muss feste Kriterien setzen.
Genau, und die haben wir gesetzt, und wir testen sie auch an. Also, ob man sich etwa mit dem Thema Leiharbeit in der Metropolregion beschäftigt. Da geht es um konkrete Handlungsmöglichkeiten vor Ort. Allein schon, wenn die Kommunen in der Metropolregion eine Vereinbarung unterschreiben würden, dass alle Städte und kommunalen Betriebe keine Leiharbeiter einstellen, dann wäre das schon ein erster Schritt. Der Nürnberger Flughafen, der dem Land zu 51 Prozent und der Stadt zu 49 gehört, beschäftigt eine nicht unerhebliche Zahl an Leiharbeitern.

Noch mal zurück zur Chronologie: Waren der DGB oder die Einzelgewerkschaften von Beginn an am Metropolregion-Projekt beteiligt?
Nein, am Anfang sind wir nicht beteiligt gewesen. Es gibt ein historisches Bild, das in Erlangen aufgenommen wurde. Dort waren alle Akteure der Metropolregion versammelt. Aber die Aufnahme hätte eigentlich ohne uns stattgefunden, wenn wir uns nicht massiv reingedrängt hätten. Seitdem ist aber klar, jawohl, Gewerkschaften gehören dazu. Wir sind jetzt auch in den verschiedenen Foren. Aber im Steuerungskreis, wo zum Beispiel die IHK vertreten ist, sind wir noch nicht. Das ist aber unser politisches Ziel, eine strukturelle Haltelinie.

Und gibt es Signale in diese Richtung?
Es gibt Signale, die Frage ist aber, wie man den DGB beteiligt. Man müsste einen Sprecher in den Foren auswechseln. Der fachliche Sprecher im Forum Wirtschaft kommt von der IHK, und der sitzt wie gesagt im Steuerungskreis. Bei der Besetzung der Posten hat man darauf geachtet, wer in der Metropolregion eigentlich welche Kapazitäten mitbringt. Und da ist man natürlich leicht auch auf die IHK gekommen. Politisch ist es aber momentan so, dass sowohl SPD- wie auch CSU-Oberbürgermeister sagen, dass der DGB da beteiligt werden muss. Jetzt muss der politische Wille nur noch umgesetzt werden.

Wie heikel ist das Thema Ressourcen?
Das Problem ist, dass beim Thema Regional- und Strukturpolitik Kammern oder Arbeitgeberverbände wesentlich mehr Ressourcen einbringen können als wir. Deshalb ist es bei der Diskussion um die zukünftigen Aufgaben des DGB ganz wichtig, zu sagen, dass das inhaltlich ein Thema des DGB ist und dass dafür auch die nötigen Ressourcen vorhanden sein müssen. Ich finde es auch wichtig, dass das tatsächlich der DGB macht. Es betrifft schließlich das Thema Wirtschaftspolitik. Dafür ist der DGB zuständig, weil es nicht nur um eine Branche wie zum Beispiel Metall- und Elektroindustrie geht.

Wie sehen das die Einzelgewerkschaften?
Wir haben das in Absprache mit den Einzelgewerkschaften vor Ort festgelegt, dass Regional- und Strukturpolitik ein Schwerpunktthema ist. Deshalb haben wir auch einen Arbeitskreis für Regional- und Strukturpolitik eingerichtet, mit Beteiligung der Gewerkschaften, aber auch gewerkschaftsnaher Institutionen, wie dem IMU-Institut. Wenn wir Regional- und Strukturpolitik gestalten, brauchen wir starke Partner. Mit eigenen Bordmitteln kann man die Gewerkschaftsthemen in diesem Bereich einfach nicht besetzen.

Man ist in diesem Feld auf externe Hilfe angewiesen.
Genau. Und man muss sich auch ein Netzwerk aufbauen. Das haben wir in unserer Region, und wir profitieren auch davon.

Gibt es einen Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Metropolregionen?
Mit den anderen Metropolregionen ist es eher schwierig. Wir stellen zum einen fest, dass die anderen Metropolregionen oft ohne Gewerkschaftsbeteiligung stattfinden. Zweitens erleben wir in den anderen Metropolregionen, dass es sich noch eindeutiger um reine Marketingveranstaltungen handelt. Im Vergleich dazu habe ich den Eindruck, dass unsere Metropolregion schon ein Stück weiter ist - zumindest was die gewerkschaftliche Gestaltung betrifft. Wir haben jetzt übrigens die Metropolregion Wien zu einem Workshop eingeladen, um auch mal über die Grenzen der Bundesrepublik zu schauen. Das wird interessant, weil Wien mit drei Ländergrenzen eine besondere Region darstellt.

Widmen die Gewerkschaften dem ausreichend Aufmerksamkeit?
Insgesamt glaube ich, dass die gewerkschaftliche Diskussion zum Thema Metropolregion erst am Anfang ist. Ich sehe durchaus Chancen für dieses Zukunftsfeld. Wir müssen es zumindest probieren, mitzugestalten. Wenn das nicht funktioniert, können wir jederzeit die Reißleine ziehen.

Wir haben viel über den Ballungsraum Nürnberg-Fürth-Erlangen gesprochen. Inwieweit versuchen Sie bei Ihren Bemühungen, auch die eher ländlichen Gebiete mit einzubeziehen?
Innerhalb unserer Metropolregion haben wir einen gut organisierten Austausch, gewerkschaftsübergreifend und DGB-Region-übergreifend. Wir versuchen über unsere Strukturen - zum Beispiel über Workshops und Arbeitsgruppen - die ganze Region einzubinden. Es ist unser Ziel, unseren Arbeitskreis Regional- und Strukturpolitik auf die gesamte Metropolregion auszuweiten.

Inwieweit kann es zwischen Großstädten und ländlichen Gebieten gleiche Interessenlagen geben?
Es gibt ein paar wirtschaftliche Fakten, die dafür sprechen, dass es eine grundsätzliche strukturelle Benachteiligung gegenüber dem Ballungsraum München gibt. Vor diesem Hintergrund gibt es in Nordbayern eine besondere Bewusstseinslage. Das erklärt, warum ein Oberbürgermeister von Bayreuth unter einem Ratsvorsitzenden von Nürnberg mitarbeitet, das müsste er ja nicht. Von daher ist das Bewusstsein wichtig, dass man sich in der Region gemeinsam aufstellen muss, das zeigen auch die Erfahrungen: Zum Beispiel hat BMW mal versucht, in Nordbayern ein Werk zu eröffnen. Damals ging es darum, eine Gewerbefläche zu finden. Und das war wohl sowohl in der Städteachse als auch in Nordbayern nicht so einfach. Da hat man sich eher untereinander Konkurrenz gemacht. Das hat gezeigt, dass man gemeinsam vorgehen muss und sich nicht gegenseitig unterbieten oder ausspielen darf.


ZUR PERSON

Stephan Doll, 44, ist seit vier Jahren Vorsitzender der DGB Region Mittelfranken. Zuvor war er dort 13 Jahre DGB-Jugendsekretär. Das Thema Regional- und Strukturpolitik gehört zu den Schwerpunktthemen des gelernten Bürokaufmanns. Doll ist Vertreter des DGB und der Gewerkschaften im Forum Wirtschaft und Infrastruktur der Europäischen Metropolregion Nürnberg (EMN). Er sitzt auch im Beirat des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojektes "Gestaltungsspielräume der Metropolregion", das sich am Beispiel der Region Nürnberg kritisch mit dem wettbewerbsorientierten Ansatz der Metropolregionen auseinandersetzt. Die EMN wurde im Mai 2005 von der Ministerkonferenz für Raumordnung in den Kreis der elf Metropolregionen Deutschlands aufgenommen und ist seither Mitglied im Bündnis der europäischen Metropolregionen.

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