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Magazin Mitbestimmung

: 'Die Ärmsten werden doppelt bestraft'

Ausgabe 01+02/2008

INTERVIEW Der Renten- und Altersforscher Matthias Knuth warnt vor einer neuen sozialen Spaltung im Alter. Während es auch in Zukunft reiche Rentner geben wird, steigt für die gering Qualifizierten das Armutsrisiko.

Das Gespräch führten MATTHIAS HELMER und KAY MEINERS.

Herr Knuth, nach Medienberichten haben sich die Chancen Älterer am Arbeitsmarkt durch die konjunkturelle Belebung gebessert. Stimmt das?
Die Älteren profitieren tatsächlich von der Konjunktur. Es gibt aber noch mindestens zwei weitere Ursachen. Zum einen greifen jetzt die Abschläge im Rentensystem, so dass es eine starke Abschreckung gegen Frühverrentungen gibt. Infolgedessen sind die Erwerbstätigenquoten insbesondere der Altersjahrgänge 57 bis 62 stark angestiegen. Zum anderen kommt ein demografischer Effekt hinzu: Das liegt an der speziellen Situation der Geburtsjahrgänge zwischen 1945 und 1955.

Was ist daran speziell?
In den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges und direkt nach dem Krieg sank die Zahl der Geburten. Als die Männer dann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten und es den Menschen allmählich wieder besser ging, kamen auch wieder mehr Kinder zur Welt. So dominieren in der Altersgruppe der heute 55- bis 65-Jährigen eher die jüngeren Jahrgänge. In früheren Jahren war es genau umgekehrt.

Deshalb sieht es so aus, als seien heute mehr Ältere in Arbeitsverhältnissen?
Solche demografischen Unregelmäßigkeiten tragen sogar dazu bei, dass Deutschland plötzlich die Beschäftigungsziele des Europäischen Rates in Stockholm erfüllt - nämlich eine Erwerbstätigenquote von 50 Prozent für die 55- bis 65-Jährigen.

Das Wehklagen ist derzeit groß wegen der Rente mit 67, die in Schritten erfolgt und erst im Jahr 2029 gelten wird. Woher kommt der Unmut?
Die Rente mit 67 hat einen Symbolwert. Der wurde zusätzlich akzentuiert, weil Franz Müntefering als Arbeitsminister das Veränderungstempo über den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD hinaus erhöht hat. Die Gründe dafür sind nicht nachvollziehbar. Das macht die Nadelstiche noch schmerzhafter.

Verhalten sich die Gewerkschaften klug, wenn sie die Rente mit 67 ablehnen?
Nein. Die Gewerkschaften sollten besser ihr Hauptaugenmerk darauf legen, dass mehr Menschen die Rente mit 67 schaffen können, als dagegen Sturm zu laufen. Der Kampf gegen die Rente mit 67 ist symbolische Politik und rückwärtsgewandt.

Viele Forscher empfehlen einen gleitenden Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand. Wollen die Menschen so einen Ausstieg oder ist ihnen der klare Schnitt lieber?
So, wie Altersteilzeit bisher angenommen und praktiziert wird, scheinen die meisten Älteren und ihre Arbeitgeber einen klaren Schnitt zu bevorzugen. Das kann allerdings auch an der Konstruktion des Instruments liegen. Warum muss man bei der Altersteilzeit die Arbeitszeit genau halbieren? Wer sein Leben lang Vollzeit gearbeitet hat, der denkt, er könne mit einer halben Stelle nicht mehr richtig mitspielen im Unternehmen. Oder dass er, um im Spiel zu bleiben, zusätzlich unbezahlte Zeit investieren muss.

Wie sähe Ihr Vorschlag aus?
Wir könnten einen Anreiz zu 20- oder 30-prozentiger Reduzierung der Arbeitszeit - dann aber ohne Blockmodell - schaffen und schauen, ob das angenommen wird. Ursprünglich ist die Altersteilzeit ein Modell gewesen, um ältere Arbeitskräfte stillzulegen und jüngere nachzuziehen. Wenn es aber vorrangig darum geht, den Übergang in die Rente zu erleichtern, sollte der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit stufenweise reduzieren können, ohne dass die Reduktion am Ende im Durchschnitt 50 Prozent betragen muss.

Zwischen Erwerbsarbeit und Rente hat sich verstärkt eine Phase der wirtschaftlichen Ungewissheit geschoben. Wer wird künftig davon besonders hart betroffen sein?
Am stärksten gefährdet sind gering Qualifizierte, die schlechte Arbeitsbedingungen hatten und zumindest in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens langsam rausgedrängt wurden, etwa wegen Stilllegungen oder durch Personalabbau. Sie mussten mehrmals den Arbeitgeber wechseln, was immer schwieriger wurde. Irgendwann sind sie in einem Dreieck gefangen: Für eine Neueinstellung sind sie zu alt und nicht gesund genug, aber für eine Erwerbsminderungsrente nicht krank genug und für eine Altersrente zu jung. Das ist eine typisch deutsche Situation.

Warum typisch deutsch? Kennen unsere Nachbarn in Europa dieses Problem nicht?
Der Anteil der Bevölkerung im Erwerbsalter, der vor allem von Sozialleistungen lebt, liegt in Deutschland bei 21,9 Prozent. In vielen europäischen Ländern liegt er zwischen 18 und 23 Prozent - unabhängig davon, ob es sich um Wohlfahrtsstaaten des liberalen, des skandinavischen oder des kontinentalen Typs handelt. So groß sind die Unterschiede also nicht. Spannend wird es aber, wenn man sich die institutionelle Zuordnung und Begründung der Leistungen in den einzelnen Ländern anschaut: In Deutschland ist es sehr stark die Arbeitslosigkeit, die finanziert wird. Andere Länder mit geringerer Arbeitslosigkeit, wie etwa Schweden und Dänemark, setzen sehr stark auf Erwerbsminderung.

Sind die Leute in Skandinavien kränker als bei uns?
Nach unseren Daten sind sie das nicht. Wer gesundheitsbedingt arbeiten kann und wer nicht, wird nur unterschiedlich definiert. In Schweden ist es zum Beispiel so, dass Leute viel länger krank sein können als bei uns und dabei immer noch als beschäftigt gelten. Die Krankenkassen in Deutschland hätten da längst Druck gemacht, um kein Krankentagegeld mehr zahlen zu müssen, und auf eine Frühverrentung gedrängt. Interessant auch: Wir in Deutschland sind mit der Aktivierung schon sehr weit. Die meisten älteren Arbeitslosen bei uns geben an, sie suchten Arbeit. Das ist in den anderen Ländern Europas nicht so.

Machen die Versuche Sinn, Menschen, die sich nicht mehr ernsthaft um Arbeit bemühen, in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren?
Diese Hoffnung ist weitgehend illusorisch. Sie ist ein Grund dafür, dass wir wieder verstärkt über öffentliche Beschäftigung diskutieren. Wahrscheinlich wäre es billiger zu sagen: Wir lassen diese Leute in Ruhe und unterhalten sie…

…mit ALG II auf Sozialhilfeniveau. Auf der anderen Seite nimmt aber auch die Zahl der Personen zu, die erst spät in Rente gehen. Führt es also auch bei den Rentnern zu einer Polarisierung von Armut auf der einen und Reichtum auf der anderen Seite?
Ja, die Spaltungen werden sich verschärfen. Es gibt immer mehr Menschen, die arbeiten, aber keinerlei Rentenansprüche erwerben: in Minijobs, illegal, scheinselbstständig. Unter denen, die sozialversicherungspflichtig arbeiten, öffnet sich die Einkommensschere: Die einen verdienen super, können sich ihre Arbeitgeber aussuchen. Dagegen häufen sich unter den schlecht Verdienenden und minder Qualifizierten Unterbrechungen, etwa durch Arbeitslosigkeit. Das schlägt sich zwangsläufig in den Renten-Anwartschaften nieder.

Wie lässt sich dieses Gerechtigkeitsproblem lösen?
Ich weiß keine Lösung. Die ohnehin schon Ärmsten werden doppelt bestraft - sie gehen frühzeitig mit Abschlägen in Rente. Mit diesen Abschlägen bezahlen sie versicherungsmathematisch einen längeren Rentenbezug, den sie aber gar nicht erleben, weil sie kränker sind und früher sterben als andere. Die Rente lässt sich aber nicht bemessen nach individueller Lebenserwartung, denn dann ist die ganze Logik des Rentensystems weg. Ich sehe kein Kriterium, das Problem ohne neue Ungerechtigkeiten in den Griff zu bekommen.

Was halten Sie von Forderungen, den Renteneintritt von der durchschnittlichen Lebenserwartung in einzelnen Branchen abhängig zu machen? Müssen wir nicht unterschiedliche Lebens- und Arbeitsbedingungen berücksichtigen?
Nein. Das ist vergleichbar mit der Arbeitslosenversicherung. Dort zahlen die Gutverdienenden klaglos für die Absicherung eines Risikofalles, der für die meisten von ihnen nicht eintritt. Damit werden die Armen subventioniert, die das Hauptrisiko der Arbeitslosigkeit tragen. Es wird so getan, als hätten der schlecht Qualifizierte und der gut Qualifizierte dasselbe Risiko.

Ungleiches wird also als gleich definiert?
Richtig, das ist das Wesen der Solidargemeinschaft. Andernfalls müssten wir Risiken wie Arbeitslosigkeit individuell versichern. Diejenigen aber, die mit großer Wahrscheinlichkeit oft arbeitslos werden und es lange bleiben, wären dann nicht versicherbar, weil sie die hohen Risikoprämien nicht bezahlen könnten.

Beim Renteneintrittsalter werden wir genau diese Ungleichheitsdiskussion bekommen. Dann sagen bestimmte Berufsverbände: Laut Statistik sterben unsere Leute drei Jahre früher als die Angestellten.
Die Bandbreite der gesetzlich zulässigen Renteneintrittsalter wird durch die Rente mit 67 wieder größer, sie beträgt im Jahr 2029 zwischen 63 und 67. Ein wichtiges Gegenargument, sie noch variabler zu gestalten, ist die Schwierigkeit, dafür Kriterien festzulegen. Denn Lebenserwartung lässt sich nur nach früheren Sterbefällen berechnen. Aber niemand kann sagen, ob die Dachdecker von heute so geschädigt sind wie die schon verstorbenen. Und wie lange und in welcher Lebensspanne muss man Dachdecker gewesen sein, um in den Genuss einer Sonderregelung zu kommen? Das passt nicht zu der zeitgenössischen Rhetorik, dass der Lebensberuf passé sei.

Welchen Rat geben Sie den Gewerkschaften, welche Position sollten sie einnehmen?
Wir müssen zurückkommen zu einer Politik, die die Humanisierung des Arbeitslebens in den Mittelpunkt stellt. Da waren wir in den 80er Jahren viel weiter als heute. Durch die deutsche Einheit und die Parole: "Jeder Job ist besser als kein Job" sind diese Themen völlig unter die Räder gekommen. Mit Kampagnen wie "Besser statt billiger" oder "Gute Arbeit" setzt allerdings wieder ein Umdenken ein.

Und in der Rentenpolitik? Auf dem Bau oder in der Stahlindustrie ist ein Rentenalter von 67 doch nicht realistisch.
Dort sollten Gewerkschaften an einer tariflichen Lösung arbeiten. Da wird niemand dagegen sein. Es gibt Arbeiten, da können Sie gestalten, wie Sie wollen - die bleiben trotzdem schwere Arbeiten.

Haben Sie zum Altersübergang Empfehlungen an die Politik?
Wir brauchen eine Arbeitslosenversicherung, die diesen Namen verdient, mit einem längeren Leistungsbezug für alle, nicht nur für Ältere. Ob 18 oder 24 Monate ist unerheblich. Der Arbeitsanreiz ließe sich erhöhen, indem ALG I nach einem Jahr degressiv gezahlt wird. Damit würde die Schraube bereits im ALG-I-Bezug angezogen, bevor die Bedürftigkeit geprüft wird. Das wäre ein wirksamerer Arbeitsanreiz als der Schock, nach Auslaufen des ALG I mangels Bedürftigkeit plötzlich gar nichts mehr zu bekommen.

Den kranken Älteren würde das nicht helfen.
Deshalb könnte ich mir als Lösung für die gesundheitlich Angeschlagenen einen gesundheitsbedingten Leistungsbezug unter erleichterten Voraussetzungen vorstellen, der die auslaufende altersbezogene Regelung ablöst.

Was halten Sie von speziellen Angeboten für Ältere, um sie fit für den Arbeitsmarkt zu machen?
Ich wäre sehr zurückhaltend, was altersspezifische Programme angeht. Die meisten Älteren brauchen keine besondere Form der Weiterbildung, das ist diskriminierend und bevormundend. Eine nachhaltige Alternspolitik richtet sich nicht vorrangig an die schon Älteren. Denn ob die Rente mit 67 eines Tages funktioniert, entscheiden wir heute bei der Weiterbildung für die 40-Jährigen, nicht durch Bildungskampagnen für 57-Jährige.

 

ZUR PERSON

Matthias Knuth leitet die Forschungsabteilung Entwicklungstrends des Erwerbssystems beim Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen. Er wurde 1949 in Osnabrück geboren, studierte an der Universität Hamburg Soziologie und promovierte 1996 zum Doktor der Politik an der Universität Bremen. 2004 folgte die Habilitation an der Universität Duisburg-Essen. Seit 1977 arbeitet Knuth in der Forschungsförderung und in der empirischen Sozialforschung, darunter von 1982 bis 1990 in der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung.

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