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Der Europäische Gerichtshof hat die deutsche Unternehmensmitbestimmung ohne jede Einschränkung für europarechtskonform erklärt. Ein Erfolg, der auch dem Engagement der Hans-Böckler-Stiftung zu verdanken ist. Magazin Mitbestimmung

Von JOACHIM F. TORNAU: Angriff auf die Mitbestimmung erfolgreich abgewehrt

Ausgabe 08/2017

Aufsichtsrat Der Europäische Gerichtshof hat die deutsche Unternehmensmitbestimmung ohne jede Einschränkung für europarechtskonform erklärt. Ein Erfolg, der auch dem Engagement der Hans-Böckler-Stiftung zu verdanken ist.

Von JOACHIM F. TORNAU

Manch einer war sich vielleicht ein bisschen zu sicher gewesen. „Wer den Europäischen Gerichtshof kennt“, hatte mutig die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentiert, „dürfte wenig Zweifel hegen: Deutschland muss die Aufsichtsräte für Beschäf­tigte aus ausländischen Tochtergesellschaften öffnen.“ Das war im Oktober 2015 – und eigentlich war noch nicht mehr passiert, als dass dem EuGH in Luxemburg eine Frage vorgelegt worden war: Verstößt die deutsche Unternehmensmitbestimmung gegen Europarecht? Aber schon das ließ die Gegner der Mitbestimmung frohlocken. Mehr als zehn Jahre lang hatten konservative Juristen für ihre These von der Europarechtswidrigkeit getrommelt, jetzt wähnten sie sich endlich am Ziel.

Doch als die europäischen Richter nun nach fast zweijährigem Verfahren ihre Entscheidung verkündeten, wischten sie sämtliche Argumente der Mitbestimmungskritiker vom Tisch. Weder verstoße es gegen das Diskriminierungsverbot, dass nur Konzernbeschäftigte im Inland das Wahlrecht für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat haben, noch werde ihre Freizügigkeit dadurch unzulässig behindert, dass sie bei einem Wechsel ins Ausland ihr aktives und passives Wahlrecht verlieren. Das Unionsrecht garantiere nicht, dass der Umzug in einen anderen Mitgliedstaat „in sozialer Hinsicht neutral“ sei, erklärte der Gerichtshof.

Ausgelöst hatte das Verfahren der Berliner Jurist, Banker und Start-up-Investor Konrad Erzberger, der eigens eine Handvoll Aktien des Reisekonzerns TUI erwarb, um die Zusammensetzung des Aufsichtsrats gerichtlich überprüfen lassen zu können. Seine Forderung: Weil bei TUI die rund 80 Prozent der Beschäftigten, die im EU-Ausland arbeiten, nicht im Aufsichtsrat repräsentiert seien, dürften künftig nur noch Anteilseigner in dem Gremium sitzen. Erzberger folgte damit dem Vorbild von Volker Rieble, dem Direktor des arbeitgeberfinanzierten Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR) an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, der wie kaum ein Zweiter schon seit Jahren das Pferd der vermeintlichen Europarechtswidrigkeit der Mitbestimmung reitet.

DGB: Mitbestimmungskritiker haben Schiffbruch erlitten

Dieses Pferd ist nun zu Tode geritten – und die Genugtuung bei den Gewerkschaften groß. „Die deutschen Mitbestimmungskritiker haben in Luxemburg Schiffbruch erlitten“, sagte DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann und sprach von einem „großen Erfolg für die Demokratie in der Wirtschaft“. Michael Guggemos, Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung, betonte: „Damit ist eine akute Gefahr für die Rechte­ von Millionen Arbeitnehmern abgewehrt – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen 17 EU-Ländern, in denen Beschäftigte eine gesetzlich verbriefte Mitsprache in den Leitungsgremien ihrer Unternehmen haben.“

Das Verfahren, befand Norbert Kluge, Mitbestimmungsexperte der Stiftung, sei zu Recht eine „juristische Geisterfahrt“ genannt worden. Doch so abstrus die Argumente der Klägerseite vielen Fachleuten auch erschienen, zunächst waren es die Gegner der Mitbestimmung, die sich über Rückenwind freuen durften: In einer ersten schriftlichen Stellungnahme hatte sich die Europäische Kommission im Februar 2016 noch ohne jeden Vorbehalt auf die Seite der Gegner geschlagen.

Spätestens damit war klar: Es reichte nicht, die besseren Argumente zu haben, ihnen musste auch größerer Nachdruck verliehen werden. Gemeinsam machten sich Hans-Böckler-Stiftung und Gewerkschaften an die Verteidigung der Mitbestimmung im juristischen wie im öffentlichen Diskurs. In fachwissenschaftlichen Aufsätzen und Vorträgen wurde deutlich gemacht, was auf dem Spiel steht, und die Argumentation der Klägerseite zerpflückt. Die Stiftung widmete dem Thema mehrere Publikationen und veröffentlichte­ Gutachten der Rechtsprofessoren Rüdiger Krause (Universität Göttingen) und Johann Mulder (Universität Oslo). Bei einer Konferenz in Luxemburg, am Sitz des EuGH, wurden die Ergebnisse vorgestellt. „Wir haben versucht, für die Entscheidung des Gerichts eine solide Faktenbasis zu schaffen“, sagt Böckler-Wirtschaftsrechtler Lasse Pütz. „Nicht alle EuGH-Richter sind ja Deutschlandkenner, die über die Spezifika des deutschen Systems Bescheid wissen.“

Kehrtwende der EU-Kommission

Zu diesen Spezifika gehört auch die hohe Akzeptanz: Beim Festakt zum 40-jährigen Mitbestimmungsjubiläum lobte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck die Unternehmensmitbestimmung als „Kulturgut“. In einem viel beachteten Beitrag im Handelsblatt sprachen sich DGB-Vorsitzender Hoffmann und Arbeitgeberpräsident Kramer für den Erhalt der Unternehmensmitbestimmung aus.

All das blieb nicht ohne Wirkung. Als der EuGH im Januar 2017 zur mündlichen Verhandlung lud, sprangen neben der Bundesregierung auch Österreich, Frankreich, Luxemburg und die Niederlande für die Mitbestimmung in die Bresche. Und die EU-Kommission vollzog eine Kehrtwende um 180 Grad. Wiederum ohne jeden Vorbehalt erklärte sie die Arbeitnehmermitbestimmung zum „wichtigen politischen Ziel“ und die deutschen Gesetze für europarechtskonform: „Jede daraus möglicherweise resultierende Beschränkung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern kann durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden, das System der Mitbestimmung und dessen soziale Ziele zu schützen.“ EuGH-Generalanwalt Henrik Saugmands­gaard Øe hatte sich in der Anhörung zwar noch kritisch gegeben, doch in seinem Schlussantrag gut drei Monate später machte auch er sich Argumente der Protagonisten der Mitbestimmung zu eigen. Und das höchste europäische Gericht folgte ihm.

Ein Erfolg. Gleichwohl gibt sich Lasse Pütz keinen Illusionen hin. „Die Kritiker“, sagt der Böckler-Experte, „werden sich jetzt neue Hebel suchen, um die Mitbestimmung anzugreifen – und dabei wird der Einfluss auf die europäische Rechtsetzung sicher eine zentrale Rolle spielen.“ Die nächste Abwehrschlacht ist bereits zu schlagen: Die EU plant eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden Fusion und Aufspaltung von Unternehmen – und noch ist darin nicht ausgeschlossen, dass Firmen ihren formalen Sitz einfach in das Land mit den geringsten Beteiligungsrechten für Arbeitnehmer verlegen können. Eine Einladung zur Mitbestimmungsflucht. Und ein eklatanter Widerspruch zu dem flammenden Bekenntnis zur Mitbestimmung, das die EU-Kommission vor dem EuGH abgelegt hat.

 

WEITERE INFORMATIONEN

Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-566/15 (Erzberger vs. TUI) im Originalwortlaut 

Generalanwalt: Mitbestimmung mit EU-Recht vereinbar

Pressemitteilung EuGH: Schlussantrag des Generanwalts

EuGH-Anhörung: Nagelprobe für die Mitbestimmung

Gefahr für die Mitbestimmung: Die TUI-Klage vor dem EuGH

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