Alternative Wohlstandsmessung: Wohlfahrtsgewinn mit Schattenseiten
Während die Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr zurückging, haben sich andere Indikatoren des gesellschaftlichen Wohlstands in Deutschland positiv entwickelt.
Geld kann man nicht essen. Praktischen Nutzen stiftet es erst, wenn es ausgegeben wird. Wobei ein armer Mensch, der sich eine anständige Mahlzeit gönnen kann, mehr an Lebensqualität hinzugewinnt als ein reicher, der ein weiteres Luxusgut erwirbt. Dies und weitere Faktoren spiegeln sich nicht in der Zahl wider, die am häufigsten betrachtet wird, wenn es um den Wohlstand eines Landes geht: das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Um die Lage umfassender zu beschreiben, berechnen Benjamin Held und Dorothee Rodenhäuser vom Heidelberger FEST-Institut im Auftrag des IMK jedes Jahr den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI). Wie das BIP enthält der NWI die Konsumausgaben als zentrale Komponente. Darüber hinaus berücksichtigt er aber auch das Ausmaß der Einkommensungleichheit, Umweltbelastungen, Kriminalität, Verkehrsunfälle und vieles mehr, insgesamt 21 Komponenten. Die jüngste Auswertung zeigt: Gemessen am NWI war 2024 kein ganz schlechtes Jahr. Obwohl das BIP um 0,6 Prozent zurückging, legte der Index um 2,3 Prozent zu.
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Dahinter stecken verschiedene Faktoren. Ein wichtiger Grund sind gestiegene Konsumausgaben, sowohl der Haushalte als auch des Staates. Die erhöhten sich preisbereinigt bei den Privaten um 13,6 Milliarden Euro. Bei den öffentlichen Haushalten nahmen sie um 11,8 Milliarden zu – hauptsächlich durch mehr Ausgaben für Gesundheit sowie Familie und Kinder. Die Einkommensungleichheit ging laut Daten des Mikrozensus zuletzt leicht zurück, was sich ebenfalls positiv auf den NWI auswirkt. Gesunken sind auch der Energieverbrauch und dementsprechend der Ausstoß an Treibhausgasen und der Verbrauch nicht-erneuerbarer Energieträger, wobei dieser Trend auch seine Schattenseiten hatte. Negativ wirkten unter anderem steigende Kosten für das Pendeln zur Arbeit und höhere Schäden durch Naturkatastrophen.
Die im Vergleich zum BIP positivere Entwicklung des NWI ist im langfristigen Vergleich eher ungewöhnlich: Insgesamt ist der NWI seit 1991 nur halb so stark gestiegen wie die Wirtschaftsleistung. Seit der Jahrtausendwende blieb der private Konsum meist hinter den Steigerungen des BIP zurück. Einkommensungleichheit und Umweltbelastung nahmen phasenweise zu. Wie sich der Wohlfahrtsindikator im laufenden Jahr entwickeln wird, ist nur schwer abzuschätzen, so Held und Rodenhäuser. Zwar stieg der Konsum Anfang 2025 weiter an, ein höherer Energieverbrauch und die Nullrunde beim Bürgergeld lassen jedoch eine Verschlechterung der Umwelt- und Sozialkomponenten erwarten. Längerfristig möglich wäre ein deutlicher Anstieg des NWI aber durchaus, schreiben die Forschenden. In einem Szenario, in dem es gelingt, die vereinbarten Klimaziele einzuhalten und die Ungleichheit der Einkommen auf das Niveau des Jahres 1999 zurückzuführen, würde der NWI von heute knapp 111 bis 2035 auf rund 144 Indexpunkte steigen.
Natürlich bildet auch der NWI die gesellschaftliche Entwicklung nicht komplett ab und hat gewisse Schwächen. Darauf weisen Held und Rodenhäuser ausdrücklich hin. Zum Beispiel spiegeln Fortschritte in Sachen Umweltbelastung in Teilen nicht nur Erfolge bei der Energiewende, sondern auch krisenbedingte Produktionsrückgänge in der Industrie wider, die Arbeitsplätze kosten. Schwierigkeiten bereiten unter anderem auch die Erfassung und Bewertung des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks und dessen Entwicklung. Investitionen, die ihre Wirkung erst in der Zukunft entfalten, werden unzureichend abgebildet.
„Der NWI erhebt nicht den Anspruch, die gesellschaftliche Wohlfahrt eines Landes in allen Facetten vollständig abzubilden“, so die Forschenden. Er zeige aber, „dass soziale, ökologische und auch ökonomische Aspekte, die nicht oder sogar mit dem falschen Vorzeichen in die Berechnung des BIP eingehen, die Wohlfahrt der Bürgerinnen und Bürger eines Landes maßgeblich beeinflussen können“. Den NWI weiterzuentwickeln, sei wichtig, um künftige wirtschaftspolitische Entscheidungen auf breiterer Faktenbasis treffen zu können, ergänzt IMK-Direktor Sebastian Dullien.
Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser: NWI 2025: Erhöhung durch steigende private und staatliche Konsumausgaben, November 2025